Kathrin Schmidt - Du stirbst nicht

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Vom Hirnschlag erwacht — die Geschichte einer Heilung.
Helene Wesendahl weiß nicht, wie ihr geschieht: Sie findet sich im Krankenhaus wieder, ohne Kontrolle über ihren Körper, sprachlos, mit Erinnerungslücken. Ihr Weg zurück ins Leben konfrontiert sie mit einer fremden Frau, die doch einmal sie selbst war.
Kathrin Schmidt packt ihre Leser diesmal durch die Beschränkung, und zwar im wörtlichen Sinne. Mit den Augen ihrer erwachenden Heldin blicken wir in ein Krankenzimmer, auf andere Patienten, das Pflegepersonal und den eigenen Körper, der plötzlich ein Eigenleben zu führen scheint. Und wir erleben die mühsamen Reha-Maßnahmen mit, die Reaktionen der Familie, den aufopferungsvollen Einsatz ihres Mannes — und die bruchstückhafte Wiederkehr ihrer Erinnerung.
Was da zutage tritt, konfrontiert Helene mit einem Leben, in dem sie sich kaum wiedererkennt, und das vieles in Frage stellt, was in der neuen Situation so selbstverständlich scheint. Sie entdeckt frühe Brüche in ihrer Biographie, verdrängte Leidenschaften und aus der Not geborene Verpflichtungen. Als ihr bewusst wird, dass ihr Herz sich bereits auf Abwege begeben hatte und sie den Mann, der sie jetzt so eifrig pflegt, eigentlich verlassen wollte, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Kathrin Schmidt gelingt das Erstaunliche: Sie macht den Orientierungs- und Sprachverlust nach einer Hirnverletzung erfahrbar und zeigt einen Weg der Genesung, der in zwei Richtungen führt, zurück und nach vorn. Dabei entsteht ein Entwicklungsroman ganz eigener Art, der durch seine innere Dynamik fesselt und durch die Rückhaltlosigkeit, mit der seine Heldin sich mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert, fasziniert. Er überzeugt vor allem durch die bewegende Schilderung eines sprachlichen Neubeginns.

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картинка 121Heute muss sie dem Schadhaften bei der Physiotherapie zusehen, denn er wird in der großen Halle gleich auf der Matte neben ihrer beturnt. Sie bekommt Schmerzen. Sie staunt über das Maß der Einfühlung, das sie so nicht erwartet hätte. Seinen linken Fuß hat man nicht verkehrt herum ans Knie genäht. Sie erinnert sich, einen Film gesehen zu haben über ein Mädchen, das an Knochenkrebs erkrankt war. Bei ihr hatte die Therapieplanung so ausgesehen, dass die Beweglichkeit des verkehrt herum angenähten Fußes zu trainieren war, um später eine Prothese anzupassen, bei der die Ferse als Kniegelenk fungieren sollte. So etwas war sicher bei lange geplanten Operationen erfolgversprechend. Wenn sie den Schadhaften aber ansah, so musste der einen Unfall erlitten haben, denn er war auf einer Körperseite schwer verstümmelt worden. Bei solchen Unfällen war es sicher kaum möglich, ein Körperteil auf die Schnelle passgenau durch ein anderes zu ersetzen, noch dazu war es unwahrscheinlich, dass der betreffende Fuß so weit erhalten geblieben war, dass man es hätte versuchen können. Er trägt verschraubte Apparaturen mit einem großen Rad in den Knochen des lädierten Beines, das etwa fünfzehn Zentimeter unterhalb des Kniegelenkes amputiert wurde. Vermutlich, überlegt Helene, will man damit eine Dehnung, ein Knochenwachstum erreichen. Der Schmerz nimmt zu, ist auf der ganzen rechten Seite zu spüren, die sich zunehmend spastisch verzieht. Sie lässt willkürlich los, Arm und Bein fallen wieder flach auf die Matte, auf der sie liegt. Gut, dass Sie das steuern können! Helene liegt auf dem Rücken und soll versuchen, den rechten Arm irgendwie nach oben zu bringen. Als Hilfsmittel reicht die Therapeutin ihr schließlich eine kurze Stange, die sie mit der linken Hand greift, von der rechten umklammern lässt und sie anhebt. Die Physiotherapeutin fasst rechts zu, mit vereinten Kräften wird die klammernde Hand nach oben gezogen. Der Schadhafte weint inzwischen, Helene vermutet, dass er Schmerzen hat, denn sein Gesicht ist kläglich verzogen. Er soll beide Beine von Boden abheben, der Armstumpf drückt fest auf die Unterlage, seltsam sieht das aus. Der Therapeut scheint nachzugeben, legt dem Mann den Arm um die Schulter, hat aber wohl einen neuen Anschlag vor: Laufübungen. Mühsam wird er aufgerichtet. An einer Krücke, die auch hier natürlich nicht Krücken heißen, sondern Gehhilfen, am Armstumpf von seinem Therapeuten festgehalten, soll er einbeinig Schritte machen, er gerät jetzt richtig ins Heulen, will nicht mehr, wäre einfach hingefallen, wenn ihn niemand gehalten hätte. Schließlich lässt er sich wohl überreden, sich in einem Laufgerät festschnallen zu lassen, aus dem er nicht herausfallen kann. Das Laufband beginnt langsam, seine Schrittfrequenz ist niedrig, aber wenigstens trocknen seine Tränen.Helene hat Mühe gehabt, währenddessen die Therapeutin nicht zu sehr spüren zu lassen, wie abwesend sie ist.

картинка 122Sie hat Post bekommen, die erste Post direkt in die Klinik. Zu Hause hingegen ist der Briefkasten übergelaufen, Freunde und Verwandte haben Bestürzung geäußert und Glück gewünscht, Matthes bringt das Zeug regelmäßig mit, sie aber schaut es nicht an, gibt es ihm wieder. Spart sich das auf, sagt sie. Für wann, sagt sie nicht. Die erste Post hierher aber hat sie mit Begeisterung gelesen: Carla möchte kommen, hat sich schon mit der Klinikverwaltung ins Benehmen gesetzt. Wenn Helene nichts dagegen hat, würde sie in der nächsten Woche für ein paar Tage bei ihr bleiben, je nachdem, wie sie das aushält, denn sie müssten das Zimmer teilen. Carla bekommt ein Zustellbett.Aushält?Sie ist ihre langjährigste, liebste, vertrauteste Freundin! Von Maljutka Malysch aber hat sie ihr nichts erzählt … Auf einmal empfindet sie das als einen Vertrauensbruch Carla gegenüber, sie muss richtig aufpassen, dass sie nicht in den offenen Krater stürzt.

картинка 123Ein Schwimmversuch.Die Physiotherapeutin hat einen Badeanzug angezogen und will Helene mit einem Deckenlifter ins Wasser befördern. Die steht und hält sich am Rollstuhl fest, während die Therapeutin die Sitzmatte festschnallt. Es kann losgehen. Das Wasser ist lauwarm, kommt ihr aber trotzdem zunächst kalt vor. Im Wasser bleibt die Matte des Lifters zunächst um ihren Körper geschlungen, aber sie hat ein gutes Gefühl — die Therapeutin kann sie abstreifen. Mit dem rechten Arm bekommt sie zwei oder drei angedeutete Schwimmzüge hin, mit dem Bein sogar mehr. Dabei ist der Widerstand des Wassers doch größer als der der Luft? Es gibt Rätsel, die sich nicht sogleich lösen lassen … Sie bekommt eine Wasserwurst, wie die Therapeutin sagt, eine biegbare Schaumstoffrolle, auf der sie sitzen und an der sie sich festhalten kann. Das gibt Sicherheit. Am liebsten aber legt sie sich als» toter Mann «aufs Wasser und schließt die Augen. Die Geräusche, die an ihr Ohr dringen, kommen von der Pumpe unter der Oberfläche. Einschläfernde Geräusche. Aber die Therapeutin hat etwas vor mit ihr, nichts da mit Eindämmern, Weglullen. Nicht rückwärts auf dem Wasser liegen und sich treiben lassen, sondern bäuchlings, sie soll zu schwimmen versuchen, hat eine Wasserwurst zwischen den Beinen. Na gut, versucht sie es eben. Als sie das nächste Mal den Kopf hebt, sieht sie den Schadhaften , auch für ihn also Wassertherapie. Man lässt sie gleichzeitig zu Wasser, ohne Gruppe, das ist ein Privileg. Ihm bekommt es ebenso wie ihr, als» toter Mann «einfach dazuliegen, mit dem Unterschied, dass man ihn lässt. Er schaut an die Decke. Sie ist himmelblau gestrichen. Fische, Seesterne und Wasserpflanzen aus Keramik sind darin eingelassen. In der Halle brennt Licht, dadurch ergeben die Reflexionen des Wassers Lichtspiele an der Decke. Das Richtige zum Träumen, sie wünscht es ihm, wünscht ihm eine Viertelstunde Wasserreise ohne Kommandos, ohne Aufforderung, Arm und Restarm, Bein und Restbein zu bewegen. Sie ist sich beinahe sicher, dass ihm der Lebensmut fehlt, soll er ein toter Mann sein für eine Weile. Schlimm genug, aus diesem Zustand wieder aufzutauchen, denkt sie. Ob sie ihm Energie schicken kann? Davon gelesen hat sie, das als dummes Zeug und Scharlatanerie abgetan, sich nicht weiter darum gekümmert. Aber wenn sie die Augen schließt und ganz fest an ihn denkt? Ob es dann funkt? Ob er eine Verbindung spüren kann?Sie schließt die Augen.Sie denkt ganz fest an ihn. Ist Ihnen nicht gut? Kommen Sie, wir beenden den Versuch … Ehe sie etwas entgegnen könnte, hat die Therapeutin auch schon den Deckenlifter herangebeamt. Helene möchte protestieren, meint aber plötzlich, jede Aufregung vermeiden zu wollen wegen des Schadhaften . Also lässt sie sich gehorsam die Liftermatte um den Leib schnallen und sich herausheben.Eigentlich schade. Sie muss daran denken, was Matthes an dieser Stelle gesagt hätte: Dein Helfersyndrom klickt wieder gefährlich. Zu Recht.Mit ihm hätte der Wasseraufenthalt länger gedauert.

картинка 124Als sie aus dem Fahrstuhl fährt, sieht sie gerade noch eine große, kräftige Frauengestalt mit dunklem zusammengebundenem Haar um die Ecke wischen. Ihr ist, als bliebe ein Nachbild vom Zipfel ihres schwarzen Rocks, sie fährt darauf zu, aber es löst sich auf, wie sich die Frauengestalt selbst aufgelöst zu haben scheint. Hat sie sie nun gesehen, oder hat ihre Einbildung ihr einen Violastreich gespielt? Ja, der erste Eindruck war tatsächlich der einer gut gekleideten Viola gewesen. Helene fährt den langen Gang vom Haus zwei zur Eingangshalle in Haus eins entlang, sieht im Speisesaal und in einigen Therapieräumen nach. Natürlich keine Viola. Es war der Gang, der an den Violas erinnerte, aber eigentlich hat sie die Gestalt nur einen Schritt um die Ecke gehen sehen … Viola hat einen schweren, federnden, recht langsamen Schritt. Ob sie überhaupt rennen kann? Da sieht Helene, wie sie auf sie zukommt, mit weit aufgerissenen Armen, als sei sie das kleine Mädchen, das in die Arme ihrer Mutter springen und lachend beschützt sein will, und Helene reißt tatsächlich die Arme auseinander und fängt sie auf … Schon ist es wieder da, das Gefühl übergroßer Unsicherheit, und es ist genau jenes Gefühl, das auch das Wochenende, das berühmte, überschattet hatte. Jetzt, da sie es merkt, fährt sie auf den hinteren Freiluft-Therapieplatz, wo sich nachmittags kein Mensch aufhält, um allein zu sein und doch einen Raum zu haben für sich und ihre Erinnerungen. Viola hatte nach dem Verlassen der Kneipe von Krummensee nach nur zwei Bier eine Fahne, aber draußen zeigte sie Helene die vier Kümmerling-Fläschchen, die sie unbemerkt geleert hatte. Elf weitere, volle, klapperten noch im Beutel. Helene packte ihre Verblüffung in einen possierlichen Blick, das konnte sie gut, das hatte sie Tausende Male geübt. Sie nahm sich ein Fläschchen aus Violas Beutel, setzte an und trank. Das Zeug schmeckte wie Boonekamp, ein Gesöff, das ihre Eltern sich gelegentlich nach fetten Mahlzeiten einverleibten, sie schüttelte sich. Auf einem Bein kann man nicht stehen? Nein, in der Tat nicht. Zweite Flasche. Viola grinste, fragte aber, wer sie denn nun nach Hause fahren solle. Helene blickte leichterdings auf die Uhr und meinte, da müssten sie es eben noch drei Stunden hier irgendwo aushalten, nich wahr? und sie waren davongestapft, Helene mit ihren schweren braunen Schuhen, Viola in den schwarzen Stiefelettchen.Als Helene sich noch einmal umdrehte, sah sie die Bedienung der Kneipe mit der Küchenkraft am Fenster stehen und grinsend gestikulieren.Es wurden beim besten Willen nicht drei Stunden, die sie in Krummensee verbrachten. Dafür war es zu sehr November. Irgendwann beschloss Helene, sie wenigstens nach Altlandsberg zu fahren, das war nur zwei Kilometer entfernt, und dorthin führte eine kaum befahrene Straße. Sie könnten das Auto abstellen und was Richtiges essen gehen, dann erledigte sich das Alkoholproblem von selbst. Schließlich landeten sie beim Italiener, Treppe abwärts, Kellergewölbe. Viola steuerte zielsicher auf einen Tisch zu, der in der hintersten Nische stand. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Ecke, rechts und links hinter sich Wand. War es das, was sie sicher machte? Helene glaubte das, denn Viola geriet ohne ein weiteres Bier langsam in Gefilde, die sie bislang verschwiegen hatte. Ihr Gesicht gewann Farbe, die Lippen wurden voller, wölbten sich schließlich ganz losgelassen von jeglicher anspannenden Haltung so locker nach vorn, dass das Sprechen ihr ein wenig schwerfallen musste, wie Helene dachte. In der Tat sprach sie langsam, aber ohne Stocken. Der Tag, an dem sie sich endgültig entschieden hätte, die Operation vornehmen zu lassen, sei der gewesen, an dem ihre Frau es aufgegeben hatte, mit ihr schlafen zu wollen. Eine stille Art von Übereinkunft hätte sie gewittert, es anders zu versuchen, sie hätten sich, Rücken an Bauch, aneinandergeschmiegt, sie hätte den schlaffen Schwanz nach hinten zwischen die Beine gestopft und gewartet, und ihre Frau sei auf einmal mit einer anderen Art von Erregung auf sie zugekommen, hätte sie gedacht, einer, die ihr Frausein anerkennen wollte, sie hätte den Schwanz nicht angerührt und schließlich auf ihr gelegen, dass sie weinen mussten, vor Freude, hätte sie gedacht, und da sei der Entschluss unumstößlich geworden. Was dann kam, war das übliche Prozedere. Helene erinnert sich, einen Augenblick die Luft angehalten zu haben — was sollte an diesem Prozedere üblich sein! — , bis ihr, natürlich, aufging, dass Viola nicht allein dastand, obwohl sie, Helene, sie bislang angestaunt hatte wie einen dreibeinigen Kometen, der mitten unter ihnen niedergegangen war. Ein Sonderfall, eine exzeptionelle Singularität! Aber das stimmt nicht, sie hatte nur keine Augen für sie, bis sie eine von ihnen kennenlernte, keine Antenne, bis eine von ihnen sehr deutlich zu ihr herüberfunkte, und das, um sie auf normale Weise einfach kennenzulernen, als normale Frau, als die sie sich fühlte, die sie aber nicht war. Als die sie sich nicht fühlte, die sie aber war? Als die sie sich nicht fühlte, die sie auch nicht war? Als die sie sich fühlte und die sie tatsächlich war?(Helene wird schwindlig, sie kann das nicht denken, zum Beispiel hat sie mit Verneinungen aller Art, insbesondere doppelten, extreme Schwierigkeiten, seit sie zurückgekehrt ist zu den Lebenden. Aber sie spürt, dass all die Sätze stimmen könnten, je nachdem, wo man steht und sie ausspricht. Gespür geht über Verstand, ein eigenartiger Zustand …)Das übliche Prozedere …Sie durfte nicht verheiratet, musste dauernd fortpflanzungsunfähig sein. Eine Operation,»geschlechtsangleichend «genannt, sollte sie nach außen hin aufs Frausein einschwören. Helene erschien das als ein Sammelsurium von Zumutungen, die binäre Auffassung von Geschlecht zu zementieren. Ihr ging die Vorstellung von Bipolarität durch den Kopf, die Geschlechterverhältnisse treffender abbildete: Was sich zwischen den Polen» männlich «und» weiblich «tummelte, war nicht irgendwo außerhalb der Skala angesiedelt, sondern bewegte sich als Mensch an seiner besonderen Stelle, die er für sich fand. Ihr erschien das so logisch, dass sie sich wunderte, es nicht als allgemeinen Konsens vorzufinden in der Gesellschaft. Wenn jemand sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlte als jenem, in der sein Körper geboren worden war, dann war es seine Sache, das anzugleichen, auch operativ, oder einen anderen Weg in seinem Kopf zu finden, wie damit umzugehen war. Auf keinen Fall aber durfte man doch von ihm einen solch schwerwiegenden Eingriff verlangen , wie das Gesetz es tat! Was, wenn etwaige Komplikationen ihm das Leben schwer oder gar unmöglich machten? Natürlich hatte Viola die Operation gewollt, wie sie auch das Frausein gewollt hatte. Dennoch: Helene hatte sie kennengelernt als eher geschlechtsindifferente Person, nicht besonders gepflegt, keinesfalls weiblich aufgedonnert. An jenem Abend beim Italiener erzählte sie, wie viele Stunden sie in den ersten Jahren nach der Operation für die tägliche Körperpflege, das Ankleiden, die Zurechtmacherei gebraucht hatte. Zwei Epilationen hätte die Kasse bezahlt, dann aber, als der Bart immer wieder nachwuchs, hätte sie keine neuen Anträge mehr gestellt, weil sie es leid gewesen wäre, so viel Zeit damit zu verbringen. Überhaupt hätte sich mit den Jahren die Freude an Kleidern und Röcken sehr gedämpft, auch, weil sie einfach kein Geld mehr gehabt hätte, sich welche zu kaufen. Ihr Körper hätte sich verändert, wäre fülliger geworden, sie aber wäre aus ihren Anstellungen geflogen und oft auf Sozialhilfe angewiesen gewesen. Sie hätte es schleifen lassen, wie sie es auch als geborene Frau hätte schleifen lassen mit der Zeit. Dann eben billige Hosen, die wenigstens passten, statt in einem Übergrößengeschäft nach teuren Frauenklamotten zu suchen. Dann eben den olivgrünen Uraltparka, statt sich ein schickes Mäntelchen beim Maßschneider anfertigen zu lassen. Zum Friseur wäre sie gar nicht mehr gegangen, hätte das Haar einfach wachsen lassen und den Pony von Zeit zu Zeit selbst gestutzt, und für Schuhe hätte sie ein Versandhaus gefunden, das preisgünstig Unisex -Modelle anbot. Da die Zahl ihrer Freunde sich drastisch reduziert hätte (wobei sie zugab, auf vieles überempfindlich und verschroben reagiert zu haben, was unter den Normen, in denen die abendländische Gesellschaft nun mal existierte, eigentlich normale Reaktionen auf ihren offiziellen Geschlechtswechsel gewesen wären) und sie keiner durch feste Zeiten geregelten Lohnarbeit mehr nachzugehen gehabt hätte, wäre es einfach nicht mehr nötig gewesen, sich jeden Morgen zu rasieren — sie hätte es nur noch getan, wenn sie das Haus verlassen musste. Allein ihre Hormontherapie hätte sie aufrechterhalten, auch wenn sie inzwischen bezweifelte, was die ihr brachte: Ihre Brüstchen hätten sich nur zu flachen Spiegeleiern entwickelt, und ihre Stimme sei männlich geblieben. Sie sah sich, sagte sie, inzwischen als Frau, die trotz Operation in einem männlich gestimmten Körper lebte, und der Zwiespalt, der ihr Leben früher so entsetzlich zermarterte, hätte sich teilweise geschlossen, sei einem Sichfügen gewichen, das manchmal auch etwas wie Bedauern darüber aufkommen ließ, sich der Operation unterzogen und dem Männerkörper, der nun einmal ihrer gewesen war, so viel Unnatürliches zugemutet zu haben. Sie ging nicht so weit, den Schritt zu bedauern als einen sehr entscheidenden in die falsche Richtung, oder weil sie besser als Mann weitergelebt hätte, aber mit dem Wissen um das tatsächliche Ergebnis ihrer Geschlechtsangleichung lebte es sich offenbar nicht so leicht, wie der Gesetzgeber es gern gesehen hätte. Inzwischen, sagte sie, könnte sie sich sogar vorstellen, mit einer Frau, die sie als Frau akzeptierte, noch Kinder gezeugt zu haben — warum denn nicht? Wäre das nicht etwas, was sie anderen Lesben voraushätte? Aber sie hätte damals die dauernde Fortpflanzungsunfähigkeit auf sich genommen, weil sie es nicht besser gewusst hätte in dieser Situation. Und, das war natürlich nicht zu vernachlässigen, weil sie von ihren beiden Söhnen zum Zeitpunkt der Scheidung bereits so zwangsgetrennt gewesen wäre, dass sie sich nicht hätte vorstellen können, das noch einmal zu ertragen. Ihre Frau hätte vom Zeitpunkt des Scheidungsantrages an, den Viola eingereicht hatte, alle Gemeinsamkeit aufgekündigt. (Sie war regelrecht zurückgeschnippt in einen Zustand der totalen Frustration, in dem sie — dachte Helene, nicht aber Viola — das Verschwinden ihres Mannes in eine bis ins Körperliche reichende Zumutung umdefinierte und ihm eine Art Suizid unterstellte, mit dem er sie auf sehr berechnende Art und Weise alleingelassen hatte.) Sie wäre wirklich gestorben gewesen für ihre Frau, sagte Viola. Helene fühlte sich bestätigt. Warum hast du dich so aufgedonnert, als du gestern gekommen bist? Viola sagte, nach einer Schweigeminute: Ich wollte den Riss spüren, den das in dir auslöst, und da hineinfallen.

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