Werte
gewesen waren, waren den Töchtern natürlich keine. Ihrer Urgroßmutter mochte es mit ihr ebenso ergangen sein. Wie sie, hochbetagt, maschinell gestrickte, alte Kleider aufgetrennt hatte, um sie zu Socken und Handschuhen zu verarbeiten! Auch von den Bergen dieser Wolle hat sich Helene nie trennen können, sie dümpelt noch immer in einem riesigen Umzugskarton im Keller herum und hatte in den ersten Jahren ihrer Ehe zu wiederkehrenden Matthesfragen geführt, der sie entsorgen wollte. Irgendwann hatte er das offenbar aufgegeben. Als sie sich in diesem Moment fragt, woran die Herzen ihrer Töchter wohl hängen mögen, fühlt sie sich so weit von ihnen entfernt, dass ihr schwindelt.
So, nun mal schön aussteigen, die Herrschaften!
Es trifft sie, aber sie kann sich nichts anmerken lassen. Lässt den Rollstuhl aus dem Wagen heben. Matthes schiebt sie in die Rehaklinik, zum Aufnahmebereich. Der Fahrer wird ungeduldig, will ihr den Rollstuhl wohl am liebsten unter dem Arsch wegziehen, um abhauen zu können. Nun ist es an ihr, Überlegenheit zu zeigen.
Zimmer
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. Unsere Mitarbeiterin kommt, um Sie einzuweisen. Fahren Sie erst mal hoch und schauen sich um!
Sehr langsam lenkt sie den Roll- zum Fahrstuhl, Matthes wartet auf Unterlagen, springt dann schnell noch hinein. Als die Tür sich schließt, sieht sie mit Vergnügen das ärgerliche Gesicht des Fahrers, der sich vor der Tür eine Zigarette anzündet.
Von der dritten Etage sehen sie zuerst einen großen, einladend aussehenden Essbereich, als sie den Fahrstuhl verlassen. Die Leute, die dort beim Mittagessen sitzen, können nicht alle allein essen. Einige werden gefüttert, andere versuchen, mit zittrigen Händen Löffel zum Mund zu führen. Ihr wird schlecht.
Sie fährt zielsicher auf ihr Zimmer zu. Zielsicherer als Matthes, der in solchen Situationen Zeit braucht, sich zurechtzufinden. Aha, daran hat sich also nichts geändert. Sie spürt Stolz, den sie im gleichen Augenblick einfach lächerlich findet. Matthes? Sie sieht sich um, er hat nichts bemerkt. Stattdessen fragt er ins Schwesternzimmer hinein nach jener Person, die sie aufnehmen will. Die kommt und schließt auf, es ist ein schönes Zimmer. Ein Krankenbett mit allen technischen Schikanen steht darin, von links und rechts zu umturnen. Ein Fernsehgerät. Ein Sessel. Ein Schrank. Vom Fenster hat man einen weiten Blick hinunter zum See, der sich in geringer Entfernung in die Hügel schmiegt. Es wird schwieriger sein als bisher, sie ohne Auto zu erreichen. Matthes fährt nicht Auto, obwohl er sich die Fahrschule schon seit vielen Jahren vornimmt. Trotzdem beruhigt sie der Gedanke, hier zu sein.
Ein Pfleger bringt einen klinikeigenen Rollstuhl und nimmt den anderen mit hinunter. Eine Viertelstunde ist vergangen, seit sie den Fahrer unten stehen ließen.
Sie ist zufrieden.

Der erste Nachmittag in Heidemühlen.
Matthes ist nach Hause gefahren, sie haben über den Geburtstag nicht weiter gesprochen. Er wird Besuch bekommen von Eltern und Tante. Vielleicht von Raphael? Der wird es sich zumindest nicht nehmen lassen, heftig zu gratulieren. Für Kuchenbacken wird Matthes weder Zeit noch Muße gehabt haben, sie vermutet: Eis mit Beeren. Augenblicklich zieht eine Spur Vanille über die Geschmacksknospen. Phantomgeschmack. Den hat sie öfter in letzter Zeit.
Sie liegt auf dem Bett, in einem Jogginganzug, den Matthes ihr geschenkt hat zu seinem Geburtstag, und will sich wieder zu einer Art Ruhe zwingen, mit der sie einem Gedanken zu folgen vermag, statt viele splittern zu sehen.
Violas Name … Verflucht noch mal, wie hieß sie mit Zunamen? Gibt es das? Dass ihr der nicht einfallen will? Sie tänzelt im Halbdunkel, Gardinen hat sie zugezogen, um Viola herum — es bleibt dabei: kein Zuname für die Violaperson, deren Existenz zwar sicher, deren Verbleib aber ein Rätsel für Helene ist. Die Unsicherheit dehnt sich aus, sie schwimmt im blinden Fleck, ohne einen Haltepunkt zum Ausruhen, zum Verschnaufen zu haben. So wird sie bedrohlich, Helene will ihr entkommen und sich aufrappeln, in den Rollstuhl, aber die Hand ist zu fahrig, als dass sie ihn neben das Bett ziehen könnte, und in dem Moment, da sie darüber heulen und schreien möchte, rückt sie an: die Erinnerung. Rückt an mit Paukern und Trompetern, die in einer geöffneten Betonmuschelschale Marschmusik intonieren, Radetzky erkennt sie und Graf Zeppelin, und nun hält sie die Hände an die Ohren und drückt mit beiden Zeigefingern in schnellem Rhythmus immer wieder den knorpeligen Fortsatz am Beginn der Gehörgangs fest an. Auch das Ohr kennt eine Flimmerverschmelzungsfrequenz, muss sie jetzt denken, denn was sie hört, bleibt jenseits davon und ist eine schnelle Abfolge von Einzeltönen, die keinen Bogen ergeben, keine Melodie. Sie muss lachen, dreht sich um — zu Viola, die den Kopf schräg hält und nach Helenes Händen greift, langsam, sie schiebt sie hinunter. Helene schließt lächelnd die Augen, als Viola sie küsst. Zum ersten Mal. So selbstverständlich kommt ihr das vor, dass die Marschmusik aus der Muschelschale zum schirmenden Cape um sie herum wird, unter dem Stille herrscht. Kein Geräusch durchkreuzt den Moment, der sich dehnt wie vordem die Unsicherheit, und als sie sich voneinander lösen, ist Helene auf eine ruhige Weise entrückt.
Nein, Abendbrot essen will sie heute nicht.
Die Schwester geht achselzuckend.
Helene schmiegt sich ins Erinnern und liegt als gekrümmtes Etwas im Bett, als die Schwester zur Nachtwäsche wiederkommt.
Viola, Maljutka …
Die Schwester schaut fragend,
was sagen Sie?
, in Helenes plötzlich weit aufgerissene Augen.
Maljutka.
Kleine.
Junge?
Eine Fünfzigjährige …
Sie heißt Malysch, natürlich.

Viola Malysch kommt nicht langsam, sondern im Sturmlauf zu Helene. Zurück? Darüber denkt sie nicht nach.
Der Kuss hatte in Zinnowitz stattgefunden, im Ostseebad. Winter des vergangenen Jahres. Die letzten Tage vor Weihnachten. Gerade war Helene aus dem Münsterland heimgekehrt. Verabschiedet hatte sie sich nicht von ihrer Familie, sondern einfach einen Zettel auf den Tisch gelegt. Bin Heiligabend wieder da.
Auf dem Weg zum Ostbahnhof hatte sie so tun müssen, als nähme sie Berlin für lange Zeit zum letzten Mal wahr. Die Dampfpilze des Kraftwerks Rummelsburg stachen weiß in den Himmel. Vor der Umstellung von Kohle auf Erdgas
1988
hatten sie grau ausgesehen. Sie erinnerte sich daran, weil sie jahrelang jede Woche viel Zeit mit den Kindern in der Musikschule Lichtenberg verbracht hatte. Vorwendlich und nachwendlich. Ununterbrochen waren ihr kleine Kinder nachgewachsen, die den Weg noch nicht allein zurücklegen konnten. Die ersten Jahre waren sie mit der S-Bahn gefahren. Im Nachwendejahr war sie auf die
1988
begonnene Fahrschule zurückgekommen. Eigentlich hatte sie sich nach der Theorie und den ersten praktischen Übungen im Trabant Kübel auf dem Idiotenplatz in Schönefeld davon verabschiedet, weil sie gemeint hatte, niemals genug Geld für ein Auto zu besitzen, für das sie noch dazu keine Bestellung aufgegeben hatte. Nach
1989
hatte auch diese Überlegung ihren Sinn verloren. Sie legte die Prüfung ab. Das erste Auto war ein Wartburg gewesen. Damit waren sie schneller zur Musikschule gekommen, auch wenn auf der B
I
immer wieder gebaut wurde. Dass der graue Pilz des Heizkraftwerkes der Stadt ebenso den Atem genommen hatte wie der Rauch der vielen Kohleöfen, der über den alten Siedlungsgebieten hing, war ihr erst klar geworden, als sich, Jahre nach der Wende, dort plötzlich freier Luft holen ließ. Man hatte
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