Sie weiß, wer der Jemand ist.
Die Jemand, wenn sie es richtiger sagen soll.
Viola heißt sie.
SO PLÖTZLICH IST VIOLA ÜBER SIE HEREINGEBROCHEN
, dass es ihr für den Rest des Tages die Sprache verschlägt. Zu anstrengend, nach Worten zu fahnden, die eine Antwort ergeben könnten auf die Fragen, die man ihr stellt. Stellt man ihr überhaupt Fragen? Wahrscheinlich. Die beiden Schwestern schauen sie lange an. Ihre Münder bewegen sich. Carola hält sogar ihre Hand, sehr nahe kommt ihr Gesicht, so nahe, dass ihre blonden Haarspitzen sticheln. Warum merkt sie das, hört aber nichts? Eigentlich will sie darüber nicht nachdenken. Anstrengend. Augen zu.
Viola hat ihre Gestalt offenbar nicht verloren in Helenes Kopf, sie aber irgendwo versteckt gehalten, hatte das Skalpell sie abgetrennt? Jetzt erhebt sie sich: großer, schon von Weitem männlich aussehender Körper, ovale Schädelform, sehr schmale Nase, Augen schnell irritiert und der Mund abschätzig nach unten verzogen, vorspringendes Kinn, bedauerlich verschnittener Pony, das dünne Haar zu einem Knötchen verzwirbelt, lange Finger, lange Füße, Brust eingeebnet im Bauchansatz. Abgetragene Hosen, ein Strickpullover, beige, ein Parka, tarngrün, darüber.
Irgendetwas an ihr hatte Helene verwirrt, als sie sie zum ersten Mal sah, ohne dass sie hätte sagen können, was. Als Viola sich aber vorgestellt hatte, fiel es Helene wie ein Fallbeil auf die schon ausholende Zunge. Wie heißen Sie? Stellen Sie sich vor, ich habe Viola verstanden! hatte sie sagen wollen, schloss aber im gleichen Moment den schon geöffneten Mund: Viola hatte mit einer Männerstimme gesprochen. Tatsächlich hatte sie Viola für einen Mann gehalten, es wäre ihr nicht eingefallen, etwas anderes zu sehen, als ihr die Augen vorgaukelten. Dieselben Augen, die sie gerade noch davon abhalten konnte, Violas Brüste zu suchen, um all das, was sich in Sekundenbruchteilen in ihr vollzogen hatte, zu verifizieren. Errötet war sie auf der Stelle und hatte Violas kühles Lächeln, von oben herab, mit geradezu unterwürfiger Demut über sich ergehen lassen. Schuld. Das Gefühl war so unverhofft gekommen wie die Sonne, die dem im grauen Novemberanfang stattgehabten Kennenlernen ein plötzliches Strahlen spendierte. Eigentlich war das Strahlen dem Park von Sanssouci, in dem sich das Ereignis zugetragen hatte, angemessen, aber der Tag hatte Helene bis dahin nur an das Wischwasser denken lassen, das sie nach gründlicher Reinigung des ganzen Karlshorster Hauses regelmäßig ins Klobecken schüttete. Bleiern und seimig. Und so hatte sie wie ein begossener Pudel im überraschenden Sonnenschein gestanden, die Schultern eingezogen, während Violas Gesicht sich langsam aus der antrainierten Hochnäsigkeit verabschiedet und etwas wie Rührung um den Mund herum gezeigt hatte. Später hatten sie beide nichts Genaues sagen können über die Dauer der Szene, Viola veranschlagte sie entschieden länger als Helene. Als die Zeitlupe sich auflöste, hatten sie einander die Hände geschüttelt, und jede war ihrer Wege gegangen.
Jedenfalls hatten sie das damals für wenige Augenblicke geglaubt, bis sie sich nacheinander umgedreht und Helene sich vor den Kopf geschlagen hatte: Ihr Kennenlernen war ja nicht aus (inzwischen) heiterem Himmel erfolgt! Viola hatte ihr per Post nicht mitteilen wollen, wie sie hieß. Getroffen hatten sie sich in Sanssouci, weil Viola in Potsdam wohnte, und wer etwas von ihr wollte, war Helene gewesen. Deshalb war nicht etwa Viola nach Berlin gekommen, denn Viola hatte eigentlich nichts von Helene gewollt. Deren himbeerrote Schulledertasche hatten sie als Erkennungszeichen vereinbart, Helene ist sich heute noch sicher, dass es eine solche Tasche kein zweites Mal gibt. Der Grund für ihr Treffen …
Matthes kommt. Unterbricht.
Nein, sprechen möchte sie heute nicht mehr.
Sie sieht: Matthes sorgt sich nicht um sie. Ihr Schweigen nimmt er vielleicht als eine ihrer Eskapaden, schließlich hatte sie immer mal wieder das Reden eingestellt, wenn auch nur für kurze Zeit, eine halbe oder ganze Stunde, dann hatten sich die Worte, seltsam nackte Lemminge, wieder ganz von selber aus ihrem Mund gestürzt. Wahrscheinlich nimmt er es sogar als gutes Zeichen, dass ihre Schweigeanfälle zurückkehren, die er als Protest zu deuten gelernt hat. Gegen seine dämliche Art, ihr die Lemminge im Mund noch umzudrehen, dass sie nach dem Sturz in wilden Haufen Unruhe verbreiteten. Zwar hat er, seit sie im Krankenhaus ist, nie daran gedacht, das zu tun, er ist, im Gegenteil, fürsorglich und versucht, Wünsche auch ohne Gesprochenes zu deuten, aber vergessen hat er es sicher nicht. Ihr ist es recht, ihn reden zu sehen. Eine natürlich anmutende Grenze ist zwischen Matthes und Viola gezogen, und diese Grenze verläuft mitten durch sie hindurch — wenn sie die Augen schließt, schmerzt es entlang der Linie.
Sie fordert ihn nicht.
Sie verlässt ihn für Minuten, um der Sonne nachzusehen, die hinter der alten Heizhausruine verschwindet. So spät ist es schon — wie war das heute mit dem Abendbrot? Sie erinnert sich nicht, sieht aber plötzlich die zurechtgemachten Schnitten, das halbe Ei mit Schnittlauch, den Apfelsaft auf dem Nachtschränkchen. Wahrscheinlich hat Carola ihr das gebracht. Wahrscheinlich wähnte Carola sie schlafend? Jetzt greift sie nach dem Ei und will es in den Mund schieben. Matthes geht dazwischen, hält ihre Hand fest, als die erste Hälfte der Hälfte in der Höhle verschwunden ist. Na gut, beißt sie eben ab. Steckt sie eben nicht die ganze Hälfte hinein, es wäre ihr ja vermutlich auch nicht gut bekommen, so anfällig, wie sie derzeit für’s Verschlucken ist. Langsames Kauen, dann fährt die Hand zurück und legt die zweite Hälfte der Hälfte wieder auf den Teller. Nein, doch nichts essen. Matthes beugt sich über sie, nimmt sie in den Arm, legt seine Wange an ihre. Verabschiedet er sich? Tatsächlich, aber auch das hat sie nicht gehört.
Sie ist’s zufrieden. Schläft ein.

Beine anheben! Beide!
Helene liegt auf der Matte. Das linke Bein kommt in den
90
— Grad-Winkel, das rechte schafft vielleicht dreißig. Nicht schlecht, denkt sie. Der rechte Arm aber, weiß sie, schafft nichts, nicht einen Finger kann sie auch nur ein kleines bisschen steuern. Da kommt auch schon das Kommando.
Arme in die Vorhalte, nach oben!
Der linke geht hoch.
Und? Was ist mit dem rechten?
Die Physiotherapeutin weiß das doch, kann sie sie nicht in Ruhe lassen damit?
Jetzt schiebt sie eine Faust unter Helenes Schulter und reizt das Schulterblatt mit den Fingerknöcheln, kaum schmerzhaft, aber deutlich spürbar. Sie führt den rechten Arm nach oben, rotiert ihn leicht nach außen. Als sie ihn gestreckt in die Höhe hält, fordert sie Helene auf, ihn in kurzen Intervallen gegen ihre ihn haltende Hand zu stemmen. Das klappt nicht, also übt sie kleinste Beuge- und Streckbewegungen des Ellbogens mit ihr. Schließlich soll sie die Hand oben behalten, so lange wie möglich! wenn die Therapeutin losgelassen hat. Nur Sekunden, dann fällt der Arm. Immerhin. Sie beginnt, Helenes Schultergürtel zu stabilisieren, indem sie die Schulter nach vorn hält. Dieses Spielchen wiederholt sich fünfmal. Dann ist Umdrehen dran. Sie liegt auf dem Rücken. Die Therapeutin steht am Kopfende und zieht am rechten Arm, dreht ihn leicht und greift unter die rechte Schulter. Helene spürt den Impuls, das Becken zu bewegen und so das Umdrehen einzuleiten. Die ganze rechte Seite wird gedehnt, lang gezogen, gestreckt, das ist ein wohliges Gefühl, sie merkt, wie es gefehlt hat bislang. Als sie endlich auf dem Bauch liegt, will die Therapeutin auch noch, dass sie sich auf die Knie und Hände stützt. Irgendwie fehlt es am Gleichgewicht. Zwar kann sie sich vorstellen, sich mit deutlicher Bevorzugung der linken, kräftigen Seite so zu halten, aber es gelingt nicht. Die Therapeutin greift ein, doch es endet kläglich.
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