Nun war vor zwei Nächten, wenn die Berichte der ausgestreuten Krabbelsonden aus der Mähne des Pferdes akkurat waren, die Front etwas ins Stocken geraten, wenn auch nicht zum Stehen gekommen.
«Also«, hatte der weiße Tiger gefolgert,»können wir uns ja wohl eine Pause erlauben.«
Anubis war, ebenso wie die Tinkerstute, damit einverstanden gewesen. Hier, im Gebüsch, hatte er seine anhaltende Nervosität mit einem kleinen kontrollierten Rückfall in instinktgesteuertes Verhalten zu beruhigen gedacht: Mit Gras, Haaren und gefundenen Federn war er darangegangen, eine Baumwurzelhöhle sich auszupolstern, um dort, statt am Feuer mit den Gefährten, etwas Schlaf nachzuholen und zu träumen, wovon Frettchen träumen.
Den Bauch am Boden, in vorsichtig flachen Zügen atmend, schlich sich Anubis zwischen den Hügeln an den Abhang, in dessen tiefstem Punkt zwei Menschen einen dritten traten, daß der heulte und sich vor Schmerz zusammenrollte.
«Auf jetzt! Und ins Geschirr zurück! Steh auf!«
Sie waren Kinder, sah Anubis jetzt, und verkrüppelt: An ihren Armen gab es keine Hände, nur Stümpfe mit stachelartig knochigen Auswüchsen. Lumpen am Leib, von getrocknetem Sumpfwasser und Schlamm verdreckt, gingen zwei in Sandalen aus schwarzem Material, vielleicht Reifengummi — Anubis wußte Bescheid über die Sitte der Abgetanen, aus den letzten unverwüstlichen Überresten der Langeweile primitive Gebrauchsgüter zu fertigen. Das Mädchen, das am heftigsten nach dem Hilflosen im Dreck trat, trug aber Stiefel aus Leder, mit glänzenden, polierten Kappen, womöglich aus Stahl, dachte das Frettchen.
Andere liefen hinzu; es war schließlich ein halbes Dutzend Leute beisammen. Das Opfer der Tritte sah nicht einmal am elendesten aus — es gab zwei etwas weiter entfernt Stehende, die noch hinfälliger wirkten. Die Haltungen, die sie einnahmen, kurz vor dem Umfallen, verriet dem Frettchen, daß sie müde waren von schweren Strapazen, vielleicht einer Reise, die sie noch weiter geführt, noch zielloser umgetrieben hatte als die drei Helden die ihre. Um die Bäuche der Schinder waren Riemen gebunden; sie trugen, daran festgemacht, Gurte über den Schultern, die sich auf dem Rücken kreuzten, wo Haken aus Metall und Schlaufen waren. Sie hatten wenig Haare, ihre Augen waren groß, ihre Gesichtszüge für Menschen sogar schön, wenn auch von Wut und Entbehrung verzerrt.
Hinter der Biegung, unterhalb einer Reihe hoher Tannen, kamen weitere Erwachsene zum Vorschein, die an Seilen einen großen, aus knotigem Balken- und Bretterwerk gezimmerten Bollerwagen mit schweren beschlagenen Rädern zogen. Am rings um diesen Wagen aufgepflanzten Rahmen hing Kochgeschirr, auch waren da Lappen, soßig braun, dann ein paar Knochen, nicht von Menschen, soweit das Frettchen deren Anatomie kannte, vielleicht von Gente, möglicherweise aber auch von Tieren, die keine Sprache hatten, vielleicht unglücklichen Hunden, außerdem verschiedenes Gerät, von dem Anubis nicht erriet, wozu es gut war.
Auf der freien Ladefläche erkannte das Frettchen zusammengebundene Gegenstände um eine verdreckte, aus bemaltem Zinn oder ähnlichem gefertigte Wanne gruppiert, die man auf der Bodenplatte festgeschraubt hatte und in der teils stumpfe, teils glänzende Riegel lagen: Barren aus Gold, mehr als ein Dutzend.
Anubis fragte sich, was die Menschen mit dem Zeug vorhatten. Er wäre froh gewesen, wenn eine Verbindung zur großen Ökotektur der Pherinfone bestanden hätte, so daß er den Freunden oder anderen Gente hätte Nachricht geben können. Nie zuvor waren ihm Menschen begegnet, mit denen er etwas gemeinsam hatte: Sie waren auf der Flucht vor den Keramikanern und würden vielleicht sogar, wenn sie auf ihrem gegenwärtigen Kurs blieben, früher oder später um Einlaß in Landers bitten.
Sollte der Löwe zulassen, daß man sie aufnahm, und sei's als Bewohner der schmutzigsten Ghettos, im Schutt, in der Kloake, die zu ihnen paßten? Entstand, vom Krieg erzwungen, eine neue Sorte Schicksalsgemeinschaft?
Das Kind am Boden rollte sich seitlich ab, bis es ein Ginsterbüschel streifte. Auf einmal war es, ohne Zuhilfenahme seiner Arme, aufgerichtet, auf den Knien, und hob den Oberkörper den Tritten entgegen. Es schrie, es spuckte Blut und Speichel. Schwarze Flüssigkeit lief ihm aus dem linken Ohr und beiden Nasenlöchern, während es sich schüttelte, als wären Teufel in es gefahren. Die Quäler wichen erschrocken zurück, die Erwachsenen lachten.
Das Frettchen geriet in grimmige Stimmung: Wir haben ihnen die Hände zerstört, und einigen von uns, auch mir, in meiner Jugend, war beim Gedanken daran mulmig. Wenn man aber sieht, wie sie einander auch ohne Hände beharken… der Gedanke wurde nicht zu Ende gedacht, denn jetzt sah Anubis etwas noch viel Beunruhigenderes: Sie hatten gelernt, mit ihren zerstörten Greifwerkzeugen so geschickt zu agieren wie zuvor mit den fünffingrigen. Einer der Männer am Karren nämlich nahm, dabei die Fortsätze seines Armknochens wie robotische Präzisionsgreifer gebrauchend, eine Rute mit an einer Kette festgemachter tropfenförmiger Kleinkeule, wohl einem steinchen- oder glasgefüllten Lederbeutel, vom Rahmen, lief im Geschwindschritt zum Getretenen und schwang dabei den Stab, wie um zu drohen: Steh auf, sonst wirst du mit dem Ding geschlagen.
Ein Schluchzer, der dem Frettchen den Magen zusammenzog, drang aus der Kehle des Knienden, dann war der Große bei ihm, holte schwungvoll mit der Rute aus und hieb den Schleuderbeutel so heftig gegen den Kiefer des Kindes, daß etwas krachte, splitterte. Der ganze Oberkörper wurde nach rechts geworfen. Anstatt aber erneut auf den Boden zu schlagen, federte der kurze Leib zurück wie eine Gerte, fiel dann nach vorn, und um nicht in den Staub zu fallen, stützte sich das Kind mit seinen Armstümpfen ab.
Zwei der andern Kinder waren gleich zur Stelle, griffen ihm mit verwachsenen Nichthänden unter die Achseln, rissen es hoch. Es würgte, drückte mit der Zunge weiße Bröckchen aus dem Mund. Anubis begriff, daß das Zähne waren.
In einem Tonfall, der nicht unbeherrscht, ja beinah freundlich klang, ermahnte der Mann mit dem Stock sein Opfer:»Willst du jetzt zurück an den Wagen, oder sollen wir dich kochen wie die Köter?«
Das Kind hatte sich also irgendwie aus den Seilen, an denen jetzt die Erwachsenen zogen, befreien können, und dann hatten die Erwachsenen die andern Kinder, weil die schneller laufen konnten als sie, von den Fesseln losgemacht, damit sie den Ausreißer fingen. Das war geschehen — was für eine Spezies, gruselte sich das Frettchen, deren Meute man für Bütteldienste befreien, ja buchstäblich von der Leine lassen kann, ohne fürchten zu müssen, daß sie davonlaufen. Warum? Weil man sich darauf verlassen kann, daß das Mobvergnügen ihnen lieber ist als eine unsichere Freiheit.
Anubis hatte genug gesehen. Sein Nest wollte er in der Nähe dieser Monster lieber nicht einrichten. Er beschloß, zu den Freunden zurückzueilen, um Hecate zu fragen, was zu tun war: Sollte man sich mit den Menschen anlegen, einlassen, sie meiden oder sie den Keramikanern zutreiben, um zu erforschen, was geschah? Sollte man nicht das Wappen der Gente als Feldzeichen im Krieg gegen beide, Menschen und Keramikaner, wieder aufrichten?

Anubis fand Huan-Ti beim Schärfen seiner Krallen an einem schwarzen Stein.
Vielleicht, mutmaßte das Frettchen, markierte er damit sogar ein imaginäres Revier.
Hecate wieherte hinter ihm, er blickte sich um: Sie stand auf einem kargen Flecken Wiese, den sie in kurzer Zeit abgegrast hatte.
«Freunde, aus der Rast wird nichts«, pfiff das Frettchen,»ich bin einer bösen Sache begegnet.«
In knappen Worten schilderte Anubis, was er gesehen hatte.
Sein unsicherer Vorschlag, man könnte die üble Gesellschaft ja vielleicht zu Versuchen in Sachen Keramikaner einsetzen, ließ Huan-Ti auflachen. Die Tinkerstute war anderer Ansicht:»Ich finde, wir sollten ihnen aus dem Weg gehen.«
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