Über dem Taldurchstich Richtung Körnerplatz und Elbe war das milchige Frühlicht bis an die Flanken Ostroms gestiegen; faßte den von Fichtenwipfeln gesägten Kamm, aus dem das Kastell der Schwebebahn wie ein antiker Triumphbogen ragte, in rötlichen Schein, ließ die Standseilbahn erkennen, deren Wagen eben das Schleifenmanöver in der Streckenmitte vollführten; die Autoschlange unten auf der Grundstraße, Vogelstroms Haus, verschneite Gärten mit den schwarzen Klecksen aufgeschichteter Holzschober. Von den meisten Dächern stieg schmutziggrauer Schornsteinrauch; vom Wind abgerissen, trieb der Dunst wie Fetzen von Scheuerlappen durch die Luft. Hin und wieder teilte sich der Nebel, dann konnte Meno sehen, wie die Autoschlange zäh in Richtung Körnerplatz kroch, wie sich ein Bus der Linie 61 schnaufend die Straße hinaufquälte, konnte den zackenstarrenden Eispinsel erkennen, zu dem die Weiße Schwester über dem Mühlrad der nicht mehr im Gebrauch befindlichen Kupfermühle gefroren war. Ob ihn von unten jemand beobachtete? An Hut oder Gestalt erkannte? Das Brückengeländer war hoch, und die Brücke selbst hing etwa zwanzig Meter über der Grundstraße, so daß es ihm unwahrscheinlich vorkam. Dennoch ging er schneller. Die Soldaten grüßten ihn in Habachtstellung, als er passierte. Das erschreckte ihn. Sah er aus wie ein Oströmer, wie ein einflußreicher Funktionär mit seiner Aktentasche, mit Hut und Mantel? Hatten sie ihn wiedererkannt? Er kam nicht zum ersten Mal hierher. Sein letzter Besuch immerhin lag beinahe zwei Jahre zurück. Damals hatten Hanna und er sich scheiden lassen. Wenn die Soldaten zu jener Zeit Rekruten gewesen und jetzt als Reservisten wieder eingezogen worden waren, mochten sie sich an ihn erinnern können. Oder grüßten sie jeden, der über diese Brücke kam — auf Verdacht und aus Angst vor der Eitelkeit eines wichtigen oder auch nur sich wichtig nehmenden Mannes? Mit diesen Gedanken passierte Meno den zweiten Kontrolldurchlaß. Ein Hauptmann winkte ihn durch, ohne noch einmal seinen Ausweis zu verlangen. Vielleicht hatte der Oberleutnant ihn informiert, und der Hauptmann kannte ihn als zuverlässig wachsamen Kollegen, so daß er sich eine zweite Kontrolle ersparte. Dennoch: Meno wunderte sich. Diese Laxheit war neu. Selbst wenn er mit Hanna ausgewesen und über die Brücke zurückgekommen war, hatten sie regelmäßig zwei Kontrollen über sich ergehen lassen müssen; keiner der beiden Offiziere war vor Hannas Mädchennamen, unter dem sie in der Kladde verzeichnet war und den sie vorsorglich nannte, zurückgeschreckt. Damals war die Brücke der einzige Zugang nach Ostrom gewesen — die Schwebebahn hatte wegen eines Materialfehlers seit Monaten defekt gelegen —, und erst als Barsano höchstpersönlich, Erster Sekretär der örtlichen Parteileitung, jedesmal doppelt kontrolliert wurde, wenn er über die Brücke ging, bekam die Reparatur der Schwebebahn ungeahnten Schwung.
Meno stand auf dem Oberen Plan. Die Reichsbahn-Uhr über dem Kontrolldurchlaß klackte auf dreiviertel acht. Zum Oktoberweg, wo der Alte vom Berge wohnte, war es von hier aus nicht weit. Die Flocken fielen weniger dicht; der Wind hatte nachgelassen; die Fahnen an den Masten rechts neben dem Kontrolldurchlaß schlugen träge: die rote mit Hammer und Sichel, die schwarzrotgoldene mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, die blaue mit aufgehender Sonne in der Mitte, eine weiße mit den stilisierten Porträts von Marx, Engels und Lenin. Wachtposten standen neben den Fahnenmasten, sie starrten geradeaus, trugen ihre Kalaschnikows präsentiert; die Gesichter hatten einen teilnahmslosen Ausdruck, und dennoch, das wußte er, beobachteten sie jede seiner Bewegungen. Auch den Blick des Hauptmanns spürte er hinter dem spiegelnden Fenster des Kontrolldurchlasses, das auf den Platz ging. Er wandte sich nach rechts, zur Nadeshda-Krupskaja-Straße, hielt sich nahe am Gitterzaun, hinter dem der Obere Plan jäh abfiel und den Blick auf tiefergelegene Bereiche Ostroms freigab. Die Kohleninsel lag im Dunst. Neben dem Majakowskiweg mit dem» Haus der Kultur «verlief eine Bahnstrecke; eine Abteilung Soldaten war damit beschäftigt, die Gleise freizuschaufeln; Dampfschwaden stiegen schon aus dem Tunnel am Ende des Majakowskiwegs; in wenigen Augenblicken würde die Schmalspurbahn aus der Höhlung auftauchen, zwei knappe Pfiffe, bestimmt für den Rangierwärter des kleinen Heizkraftwerks am German-Titow-Weg, ausstoßen, im Bogen durchs Tal fahren und in der anderen Tunnelmündung, von Menos Standpunkt aus nicht einsehbar, verschwinden. Da kam der Zug schon in Sicht, ließ seine Pfiffe hören. Der Lokomotivführer, er hatte sich aus dem Fenster gelehnt, ruckte an der Eisenbahnermütze und zog den Kopf wieder ein, als er die Soldaten passierte, die jetzt rauchend, auf ihre Schaufeln und Schippen gestützt, neben den Gleisen standen. Auf dem Kohlentender hockte ein Mann mit ascheverschmiertem Gesicht und Fell-Schapka, deren Ohrenschützer unter dem Kinn zusammengebunden waren, und winkte lachend, mit blitzenden Zähnen, die Hände in unförmigen Fäustlingen, so daß sie wie Bärenpfoten wirkten, zu Meno hinauf. Das war ihm unangenehm; er warf einen Blick auf die Soldaten, die die Geste bemerkt hatten und jetzt ebenfalls zu ihm hinaufstarrten, trat etwas zurück, nicht nur, um sich der Beobachtung zu entziehen, sondern auch, weil sich die Lokomotive in diesem Moment unter ihm befand und er den dicken, mit Rußpartikeln verunreinigten Dampf aus der Esse abbekommen hätte. Dies war also noch immer so: Die» Schwarze Mathilde«, wie der Zug genannt wurde, versorgte das Kraftwerk und damit die Haushalte Ostroms mit Kohle, eine autarke, nur dieses Viertel befahrende Linie, die von der Kohleninsel kam, aus einem offiziell aufgelassenen, insgeheim jedoch weiterbetriebenen Bergwerk, wie Hannas Vater ihm einmal erzählt hatte. Auch der Lokführer war der gleiche; am Walroßschnauzbart hatte er ihn wiedererkannt.
Die Nadeshda-Krupskaja-Straße verlief in mäßig ansteigenden Serpentinen zum Hangkamm hinauf. Taxushecken, zu lotrechten Mauern geschnitten, schirmten eine Reihe zweistöckiger Einfamilienhäuser ab, die alle den gleichen hellgrauen Rauhputz trugen, je eine Garage und am Gartenzaun Briefkästen in Form von Kuckucksuhren besaßen, die mit Tannenreisern und kleinen Jahresendflügelfiguren — so sagte man hier angeblich, erinnerte sich Meno, durch die Nase lachend — geschmückt waren. Neben den säuberlich geräumten und mit Splitt bestreuten Vorgartenwegen wuchs in jedem Grundstück eine Douglaskiefer; in den Ästen hatte man jeweils eine Vogelbirne und einen Meisenring befestigt; aus dem Schnee unter dem Stamm lugten Gartenzwerge in den Ausführungen mit Pfeife, mit Schubkarre und mit Spaten hervor, die roten Füßchen hatte der schelmisch lächelnde Zwerg auf das Blatt gestützt. Über der Eingangstür eines jeden Hauses steckten zwei Fahnen: rechts die Fahne der Republik, links die der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Auch dies hatte sich nicht verändert, auch dies war ihm aus der Zeit mit Hanna vertraut. Neu war etwas anderes. Er blieb einen Augenblick stehen und lauschte. Gedämpftes vielstimmiges Bellen drang an sein Ohr, ging nach wenigen Sekunden in lautes Heulen über. Schon am Oberen Plan, als er die Soldaten beobachtet hatte, war ihm dieses Geräusch aufgefallen; die einfahrende Schmalspurbahn hatte es überdeckt. Es klang wie der Anschlag junger Hunde; aber er war sich nicht sicher. Als er den Hügelkamm erreichte, konnte er fast das gesamte Viertel übersehen: das» Haus der Kultur «mit der wuchtigen Plastik» Aufrechte Kämpfer «davor, die ihre granitenen Fäuste in den Morgen reckten; die mit Sandsteinplatten gepflasterte, von Pylonen gesäumte Allee, die vom» Haus der Kultur «in den Engelsweg mündete, eine kastanienbestandene Sackgasse, wo sich eine HO, eine Drogerie, ein Blumenladen und ein Elektrogeschäft befanden, in denen die Hausfrauen Ostroms einkauften; außerdem ein Damen- und ein Herrenfriseur. Die beiden Schornsteine am Gagarinweg gehörten zum Spezialkrankenhaus» Friedrich Wolf «und zum Küchenkomplex» Iwan W. Mitschurin«, beides Einrichtungen, die ausschließlich der Versorgung Ostroms dienten. Aus dem waldigen Höhenzug jenseits des Talkessels ragten die schachtelhaften Geschosse von Block A, ein Sperrbezirk innerhalb des Sperrbezirks Ostrom; dort, in den weitläufigen, von einer Wachkompanie geschützten Bunkern, befanden sich die Wohnungen des engsten Nomenklaturzirkels. Das Bellen kam von einer Art Sportplatz unterhalb von Block A. Diese Anlage kannte er noch nicht. Das, was er beim ersten, flüchtigen Hinsehen für ein Gewimmel schwarzer Blutegel hätte halten können, erwies sich, als er ein Stück weitergegangen war, um zu einer günstigeren Beobachtungsposition zu gelangen, tatsächlich als eine Ballung schwarzer, in dieser Entfernung kaum welpengroßer Hunde. Aber die in Schutzkleidung vermummten, mit Knüppeln bewaffneten und mit Schiedsrichterpfeifen Kommandos trillernden Männer daneben waren nicht größer als Kinder, so daß es nur die Perspektive war, die verkleinerte; die Hunde reichten mit ihren Kruppen den Männern bis zur Hüfte. Jetzt hätte er gern ein Fernglas gehabt. Aber mit einem Fernglas hier oben zu stehen und in Ostrom umherzustechen, das war natürlich undenkbar. In kürzester Zeit wäre ein Trupp Uniformierter neben ihm aufgetaucht, oder ein Wagen hätte sich aus einem der Schatten unter den Bäumen gelöst; er wäre befragt worden, was er hier treibe, wäre zu einem mehr oder minder kurzen Verhör in den Block B gebeten worden, der wie das Heizkraftwerk von diesem Standpunkt aus nicht zu sehen war. Das Fernrohr wäre beschlagnahmt, den beiden diensthabenden Offizieren eine Rüge ausgesprochen worden, daß sie ein solches feindlichnegatives Utensil übersehen und nicht in Verwahrung genommen hatten. Auch was das betraf, war Laxheit eingerissen. Er wunderte sich, daß man an keinem der beiden Kontrolldurchlässe seine Tasche zu inspizieren verlangt hatte. War das nicht mehr nötig? Verfügten sie inzwischen über Techniken, die derlei plumpe Methoden überflüssig machten? Meno ging weiter. Auch ohne Fernglas beobachtete man ihn bereits, dessen war er sich sicher, viel zu lange schon hatte er in Richtung des Abrichtungsplatzes gestarrt, ein verdächtiges Subjekt mit Hut, aufgeschlagenem Mantelkragen und Aktentasche; ob die Staatsmacht gelassen auf seine kleine Spionage reagierte, war ungewiß, jedenfalls legte er auf eine nähere Bekanntschaft mit Block B keinen Wert, desgleichen nicht auf Begegnungen mit unbekannten Herren im Verlag oder zu Hause. Die Laufgänge, die vom Abrichtungsplatz strahlig in alle Richtungen Ostroms gingen, die Stacheldrahtzäune am Rand des Platzes und die Zwinger darunter nahm er auf dem Weg zum Alten vom Berge in sein Gedächtnis mit, die Holzpuppen mit ausgebreiteten Armen, in denen die Hunde — sie schienen von derselben schwarzen Rasse wie Kastschej zu sein — sich anspringend verbissen, die Eskaladierwände mit den Schießschartenfenstern, die meterhoch über dem Boden in das splittrig zerkratzte Holz geschnitten waren. Die Hunde erreichten sie mühelos.
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