«Sie wollen wohl ein Held sein?«fragte Hähnchen und hatte traurige Augen.
«Das Wort Held kommt im neuen Testament nicht vor, Herr Hähnchen. Ich kann es vor meiner Gemeinde, vor meinem Gewissen nicht mehr verantworten, zu schweigen«, sagte Pfarrer Magenstock.
Hähnchen schwieg, bemerkte dann, daß er dies verstehe. Doch müsse er von Amts wegen die Entfernung des Aufrufs wünschen.»Sie haben doch auch Kinder, Herr Hähnchen«, rief Malthakus, der in Begleitung von Kühnasts und Krausewitzens nähergetreten war und sich an Magenstocks Seite stellte. Herr Hähnchen antwortete, daß dies stimme.
«Es hat doch keinen Zweck, die Augen zu verschließen«, stellte Zahnärztin Knabe fest, die mehrere Einkaufsbeutel trug, und trat in Begleitung einiger MitgliederInnen ihres kürzlich gebildeten Emanzipationskreises gleichfalls an Magenstocks Seite.»Herr Rohde, kommen Sie mal her!«befahl sie.
«Herr Hähnchen«, sagte Meno,»vielleicht besteht die Möglichkeit, daß Sie nichts gesehen haben?«
Herr Hähnchen meinte, daß diese Möglichkeit grundsätzlich immer bestehe, nur –
Mitarbeiter der Grauleite näherten sich.»Auseinander!«bellte ein Offizier. Aber die Menschen blieben stehen. Zahnärztin Knabe schüttelte langsam den Kopf. Der Offizier stutzte, schien verunsichert. Andere Spaziergänger sahen den Auflauf, und anstatt rasch weiterzugehen, mit Blicken, die nichts sahen, mit eingezogenen Köpfen, wie es sich bei Konfrontationen mit der Macht bisher abgespielt hatte, kamen sie heran, immer mehr, gefolgt von Zuschauern aus den Gärten entlang der Ulmenleite, und stellten sich neben Pfarrer Magenstock.
Der Offizier schwieg. Und noch nie hatte Meno einen ähnlich einsamen Mann gesehen wie Abschnittsbevollmächtigten Heinz Hähnchen, der in der Mitte des freien Raums zwischen beiden Gruppen stand.
Der Kreis um Nina Schmücke war gemischt; Richard, den sie wie einen alten Bekannten mit Wangenküßchen links und rechts begrüßte (wahrscheinlich, damit es Anne sah, er setzte zu einer Erklärung an, aber sie winkte ab), nickte zu Clarens und Weniger hinüber, der ihn überrascht und feindselig musterte, wobei er einem der vollbärtigen Männer in Karohemd und Jeans etwas zuflüsterte, die, soweit es Richard nach grober Orientierung erfassen konnte, das Hauptbild gaben. Anne war verunsichert von den Bildern an den Wänden, auf mehreren Staffeleien, deren Tropfsteinfarbkrusten mit den aggressiven Tönen auf den Leinwänden kämpften. Von einem der wenigen nicht verklebten, mit Pappe oder Sperrholzplatten zugenagelten Fenstern des Ateliers blickte Richard über die Neustadt: kaputte Dächer, in denen nackte Männer sich vor der sinkenden Sonne verneigten; zerfressene Schornsteine, darunter waren die Bohlen für den Schornsteinfeger alle belegt: ein dicker Mann schlief auf dem Rücken, Arme und Beine fielen seitlich herab, ein hagerer Mensch in schwarzer Latexkleidung schritt auf und ab, eine Frau kontrollierte ihre Angelausrüstung. Richard brachte Anne etwas zu trinken, stellte ihr einen Stuhl ans Fenster — die Diskussionen, die nach ihrem Eintritt unterbrochen worden waren, wurden, nachdem der Vollbärtige Nina Schmücke beiseite genommen hatte und von ihr offenbar beruhigt worden war, unter häufigem Streichholzanreißen und Feuerzeuggeklick fortgesetzt. Zäh, langsam, zäh. Richard kannte einige Anwesende: zwei Medizinisch-technische Assistentinnen aus der Neurologischen Klinik, den ehemaligen Assistenzarzt aus der Inneren, der die Chirurgie damals um ihren Weihnachtsbaumtriumph gebracht hatte, Frau Freese, die ihn unangenehm direkt anstarrte — er senkte den Kopf, wurde wütend über seine Feigheit, starrte herausfordernd zurück, worauf sich Frau Freese hinter die Schultern zweier Mitarbeiter der Kohleninsel duckte. Richard erkannte den Sachbearbeiter, der vor Regines Ausreise betrübt die Kartei durchblättert und ihn auf den Flur F gelassen hatte; mit dem anderen hatte er wegen des Gasdurchlauferhitzers zu tun gehabt. Schnelle Blicke, die von Gesichtern flüchteten und dazwischen warteten. Angst, die vor der Angst Angst hatte. Hände, die nicht wußten, wohin. Ein Ingenieur sprach über sein Leben, das vom Alltag, wie er in ausweichenden Beschreibungsschleifen mehr verhehlte als bloßlegte, nicht mehr» hinreichend «zu unterscheiden war … Stumpfsinn. Der Große Stumpfsinn beherrsche sein Dasein! Man stimmte zu. Man teilte die Erfahrung. Man bat um Vorschläge. — Man sollte gleich mit einem Sit-in beginnen, sagte eine Frau mit Piratenkopftuch und Leinenkleid, das eine, wie Richard fand, ebenso ungewöhnliche wie schöne Stickerei in Form und Rotweiß eines Straßenkegels trug. Es müsse sich endlich etwas ändern hierzulande, zu viele seien schon weggegangen, das halbe Hochhaus zum Beispiel, in dem sie wohne — wie das denn enden solle?
«Vielleicht kann unser Gast etwas dazu sagen«, Weniger zeigte auf Richard,»er verfügt über Kontakte, die nicht jeder hat — «»Das ist eine bösartige Unterstellung, Manfred, das nimmst du bitte zurück. «Anne war aufgestanden.
«Schön, wie du für deinen Mann eintrittst. — Nina, du hättest uns sagen sollen, daß du ihn einlädst. Überhaupt sehe ich zu viele unbekannte Gesichter.«
«Wenn wir reden und unseren kleinen Kreis verlassen wollen, müssen wir nach außen gehen. Damit warst du einverstanden, Manfred«, entgegnete der Vollbärtige.
«Mag sein, aber ich hätte gern erfahren, wen ihr einladet. Wenn er bleibt«, Weniger vermied es, Richard anzusehen,»werde ich gehen. Das Risiko ist mir zu groß.«
«Manfred, setz dich, iß deinen Bienenstich«, bat Clarens.
«Wir müssen Risiken eingehen«, sagte ein Mann mit kahlrasiertem Schädel. Richard kannte ihn, ein Kollege Gudruns am Schauspielhaus. Sein Ledermantel reichte bis zu den Knöcheln und war stark abgewetzt. Er verschränkte die Arme (gediegenes Knarren des Leders), lutschte das kupierte Mundstück einer Zigarre an. Zwei junge Frauen im Schneidersitz, beide mit Palästinenserhalstüchern, meldeten sich.»Ich bin die Julia«, sagte die eine. — »Ich bin die Johanna«, sagte die andere.»Wir finden das gut, was die Annegret eben vorgeschlagen hat. Und der Robert in Grünheide hätte bestimmt auch — «
«Und hätte der Robert in Grünheide auch gewußt, wo das Sit-in stattfinden soll?«fuhr Weniger dazwischen. Ob man ernsthaft glaube, mit solchen Mitteln Reformen erzwingen zu können?» Durchaus«, erwiderte bedächtig ein Mann in Anzug und Krawatte,»so generell schon.«
Sein Nachbar, der eine Jeansjacke mit dem Aufnäher» Schwerter zu Pflugscharen «trug, plädierte dafür, Bonhoeffer zu lesen.
«Nein, Bahro«, verlangte jemand von einem Kanapee unter einem Acryl-Stalin mit Veilchenauge.
Richard sah, daß die Anglerin winkte.»Achtung!«rief es von der Tür. Polizisten drängten ins Atelier. Das Interesse an Kunst hatte rechtzeitig zugenommen.
«Ausweiskontrolle! Keiner verläßt den Raum.«
«Da bist du ja. «Arbogast lehnte am Fenster, betrachtete den Schmetterling auf der Zeigefingerspitze. Er reichte ihn Herrn Ritschel, der ihn in ein Netz schob und sich behutsam entfernte.»Es ist keine Kleinigkeit, um die Sie mich da bitten, Herr Hoffmann.«
«Sie haben doch schon einmal drucken lassen.«
«Das blaue Buch unseres Assyriologen, jaja. Das war Unterhaltung. Bei Ihrem Schriftstück aber handelt es sich um Politik. Ihrer Bitte nachzukommen, hieße Vorwände zu liefern.«
«Sie wollen uns also nicht helfen.«
«Wer ist ›uns‹?«
«Eine Reihe von Menschen, denen die Verhältnisse mehr als nur zu denken geben. Die etwas zu tun entschlossen sind.«
«— entschlossen sind, soso. Entschlossenheit hat etwas Geradliniges, das sich mit den Prinzipien meiner Institute gut in Übereinstimmung bringen ließe. Warum gehen Sie nicht zu einer Zeitung, Herr Hoffmann? Der beste Ort für Vervielfältigungen. Es gab viele interessante Berichte in jüngster Zeit, und nicht alle Redakteure sind verbohrt.«
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