«Jaja!«riefen die beiden fröhlich und fegten sich gegenseitig Schnee von den Mauerkronen in die Gesichter.
Christian dachte über Regine nach, mit der seine Eltern befreundet waren. Jürgen Neubert, Regines Mann, war vor zweieinhalb Jahren nach München geflüchtet. Seitdem konnten sie einander nur in Prag sehen, einmal im Jahr, nach großen Schwierigkeiten, Jürgen immer in Angst, verhaftet zu werden. Regine war nach ihrem Ausreiseantrag das Telefon gesperrt worden. Um mit Jürgen sprechen zu können, mußte sie Annes und Richards Anschluß benutzen. Die Freigabe des Gesprächs konnte morgens um vier Uhr geschehen; man wußte nie vorher, wann, deshalb hatte Anne für Regine und ihren Sohn vorsorglich die Betten bereitet.
«So«, murmelte Richard vor dem Haus Karavelle und zog den Schlüssel aus der Manteltasche. Im Wohnzimmer, dessen mit Schwibbögen geschmückte Fenster von der Straße zu sehen waren, brannte Licht. Das war das Zeichen, daß Regine noch immer auf den Anruf ihres Mannes wartete.
Morgengrau kauerte im Fenster, als Christian erwachte. Er lauschte: Im Haus war es still; aber er wußte, daß Meno es liebte, früh aufzustehen und die Laudes, wie er mit den Mönchen die Stunde zwischen fünf und sechs Uhr nannte, am Werk oder meditierend, in der allmählich fortgelöschten Dunkelheit der vom Abend noch leidlich warmen Stube, zu verbringen. Im Sommer sah Meno auf dem kleinen Balkon der Rückkehr des Gartens zu, wie die Äste und Blumen von Frühröte eingefaßt wurden, Langes Birnbäume noch dunkel, die Früchte noch nicht aus dem Tagdämmer gelöst; sah zu und mochte lauschen, wie er, Christian, jetzt lauschte. Menos russischer» заря«-Wecker tickte rostig. Die Leuchtstreifen unter den Ziffern und auf den Zeigern phosphoreszierten schwachgrün. Es war kurz nach sieben Uhr. Christian stand auf, zog sich den Bademantel über, den Anne bereitgelegt hatte. Der Kanonenofen war über Nacht erloschen, das Zimmer so ausgekühlt, daß der Atem rauchte. Am Fenster hatten sich Eisblumen gebildet. Im Bad sah er Licht; er hörte Libussa eines ihrer böhmischen Volkslieder singen; ihre Stimme bekam, wenn sie sang, einen eigentümlich mädchenhaften Klang. Im Flur war es noch kälter als in der Kajüte, auf den Kohlenschütten knisterte Frost; er lief ins Zimmer zurück, ruderte mit den Armen, machte Kniebeugen, dann Boxübungen gegen einen unsichtbaren Gegner. Der nahm vor seinem inneren Auge die Züge des Russischlehrers an, dann, nach einem Volltreffer, die roten und gedunsenen des Staatsbürgerkundelehrers, Punch, linke Gerade, rechte Gerade, Schwinger, jetzt setzte es eins auf die immer ein wenig offenstehenden, wulstigen Lippen, die von einer rotgeäderten Krugnase überwölbt wurden — es klopfte.»Krischan«, hörte er von draußen Libussa rufen,»kannst ins Bad, Frühstück«, — sie sagte» Frieh-stick«—»gibt’s im Wintergarten, hörst du.«
Kri-schan. So nannte ihn Libussa; er hörte es gern. Der Staatsbürgerkundelehrer war unter der Wucht seiner Hiebe zerplatzt. Christian keuchte, riß das Fenster auf. Über Nacht hatte es weitergeschneit, der Garten, der unter dem Fenster jäh abfiel, lag unter einer dicken Weißdecke; das Gartenhaus, in dem Meno sommers oft schrieb, manchmal auch schlief, sah aus wie mit Zuckerguß bedeckt, die Sandstein-Brüstung links und rechts davon, die den oberen Teil des Gartens vom unteren, wilder belassenen, trennte, ragte nur wenig aus dem Schnee. Auf der Brüstung saß ein steinerner Adler, die Flügel, feingemeißelt und elegant gebreitet, schienen jetzt je einen Stoß zusammengelegter weißer Frotteetücher zu tragen. Frische Tierspuren durchzogen den Schnee. Eine Schar Krähen machte sich auf dem mächtigen Holzstoß zu schaffen, den Meno, der Schiffsarzt und Menos unmittelbarer Nachbar, der Ingenieur Dr. Stahl, im vergangenen Herbst aufgeschichtet hatten. Vor den Rhododendronbüschen, die den linken Teil der Brüstung fast gänzlich verdeckten, hingen Meisenringe an einigen Wäschestangen; dort zankten und schwirrten zahlreiche Vögel. Er schloß das Fenster, ging ins Bad.
An Wochenenden wurde im Tausendaugenhaus gemeinsam gefrühstückt. Die gesellige Libussa hatte den Brauch eingeführt. Semmeln, Butter, Milch und Marmelade wurden reihum besorgt, sommers wurde oft im Garten gegessen, im unteren Teil, an einem Tisch, der inmitten wildromantischen Heckengewirrs stand, fremden Blicken unzugänglich; eine verwitterte Stiege führte dorthin.
Das Wasser schoß in einem brühheißen Strahl in die Wanne mit den Löwenfüßen. Die Emaillierung hatte feine Risse. Auf den Fugen zwischen den Kacheln, an der Decke mit den blätternden Farbschichten, auf dem graugelaugten Holz des Fensterbretts zeigten sich Spuren des Schwarzen Schimmels, nie ganz zu besiegender Eindringling aller Häuser hier oben, die Christian kannte; man konnte lüften, Vernichtungsmittel pinseln und Bleiweiß oder Bootslack darüberstreichen, wie man wollte.
Das Bad stand bald unter Dampf. Er füllte Wasser in den Badeofen nach, dachte an den Wintergarten. Wenn Christian etwas darüber und über das Tausendaugenhaus andeutete: abends, wenn die Hausaufgaben erledigt waren, im Internat, wenn sie auf der Stube zu dritt beisammensaßen und man sich vom Erzählen nur schwer ausschließen konnte, vom Wer-bist-denn-du- und Wo-kommst-denn-du-her-Fragen, erntete er ungläubige Blicke, manchmal auch unverhohlenen Zweifel. Er spürte das schnell und bog dann immer schon vor den eigentlich träumerischen und märchenhaft klingenden Erwähnungen ab, sagte nichts von der Karavelle, von Ostrom, verschwieg Menos Bezeichnung für das Haus, in dem er wohnte und in dem, zu erreichen über Langes Wohnung sowie über eine hinter der Salamandertapete im unteren Flur verborgene Wendeltreppe, es einen Raum mit schräg einfallendem Oberlicht und Schachbrettfliesen gab, den die Langes, wie schon die Familie des ursprünglichen Besitzers, als Wintergarten nutzten. — Bei der Wohnungsnot, hör mal, das willst du uns doch nicht im Ernst erzählen. Hat denn dein Schiffsarzt keine Zuteilung, hörte Christian, der aus dem Bad wieder in die Kajüte gegangen war und sich jetzt mit dem Anziehen beeilte, so scharf biß die Kälte, die Stimmen seiner Mitbewohner in der Internatsstube in Waldbrunn. — Er nicht, aber mein Onkel hat. Teilt sich die untere Wohnung mit einem Ingenieur und seiner Familie, mein Onkel hat ein größeres Zimmer und zwei kleinere. Es ist eine alte Villa, um die Jahrhundertwende erbaut von einem Seifenfabrikanten; damals war das ganze Haus eine einzige Wohnung, ganz oben gab es einige Dienstmädchenkammern; er konnte ja nicht ahnen, daß er mal enteignet werden würde. Sonst hätte er vielleicht vorgesorgt für die Bedürfnisse der Kommunalen Wohnungsverwaltung. — Nanu, ein kleiner Spötter, unser Dresdner. Das hatte Jens gesagt, der in der 11/2, Christians Klasse, in der Fensterreihe ganz vorn saß, Sohn des Altenberger Praktischen Arztes Ansorge, etwas kleiner als Christian, die Haare zu einer leicht verwilderten Frisur gefönt, und hatte dabei verschwörerisch gegrinst und sich genießerisch an der mächtigen Schnabelnase gezupft. Das sollte heißen: Mach mir nichts vor. Alles klar. Manchmal beobachtete ihn Jens im Unterricht; sie saßen auf gleicher Höhe, Christian aber allein in der Türreihen-Bank, er spürte den Blick aus Jens’ blauen Augen, der forschend und herausfordernd offen über sein Gesicht glitt, über die Kleidung, die er trug, über die vom Vater geerbten Schweizer Bergschuhe.
Christian war schon an der Treppe, er wollte durch die Tapetentür in den Wintergarten gehen, um nicht bei den Langes klopfen zu müssen; aber Libussa kam gerade aus der Küche, wo sie Semmeln aufgebacken hatte, der ganze Flur duftete danach.»Krischan, komm nur gleich durch, und hilf mir mal die Sachen rübertragen, weißt du, wo alles steht, das Salz rechts im Hängeschrank. «Libussa nickte ihm zu, den Semmelkorb in den Händen, das Haar zu einem Knoten gebunden.»Es ist offen, aber mach zu hinter dir, sonst geht die Wärme raus.«
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