Mit ihr reden.
Sie sangen gut, und dann waren alle schlechten Worte, der Schmutz auf einmal wie weggeblasen. Viele von ihnen konnten ellenlang Puschkin rezitieren; danach wurde es gefährlich; einmal jagte einer ein Fla-MG-Magazin in gestapelte Munitionskisten. Den Waldbrand nach der Explosion konnten die Soldaten nur eindämmen, weil sie sich auf die Panzer schwangen und breite Schneisen um die fackelnden Kiefern walzten. Von einem Zeltplatz in der Nähe, an einem See gelegen, hörte man nachts, wenn der Wind ruhte oder günstig stand, Gespräche, dann Gelächter, dann Beischlafgeräusche. Muska sagte, er würde sich schon zutrauen, paar Kirschen aufzureißen. Die anderen sagten, er solle das Maul halten, man höre ja nichts.»Daß mir hier keiner wichst, ihr gottverdammten Schweinehunde!«brüllte Ruden, der die Wache aufzog.
Ruden. Der Altphilologie studieren wollte. Der Nietzsche kannte. Gelobt sei, was hart macht. Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Ruden hatte eine Freundin, die ihn im Sommer 85 verließ. Da stand er vor dem Foto am» persönlichen Fach «seines Spinds, der große bullige Entlassungskandidat, Feldwebel, Besitzer des goldenen Sportabzeichens und diverser Schießauszeichnungen, hielt den Brief in der Hand und sagte nichts. Er wollte auf Urlaub, eine Übung stand an, den Urlaub strich ihm der Kompaniechef. Ruden schrie ein bißchen herum, auf dem Flur. Der Kompaniechef blieb kühl. Ruden vor den Augen der Soldaten rundzumachen hätte bedeutet, daß den EK sofort die Schraubenschlüssel aus der Hand gefallen wären: adé, Note 1 im sozialistischen Wettbewerb. Ruden las Caesar und Xenophon, Schlachtbeschreibungen.»Wie heißt du?«fragte er Christian bei der» Taufe«.
«Christian Hoffmann, Genosse Feldwebel.«
«Nein. Du bist Niemand. Also Nemo. Ab jetzt heißt du Nemo. «Die Fahrer hatten für ihre Ohrlis Schnitten geschmiert: auf einer war Mostrich, auf einer war Schuhcreme, auf Burres war Kot. Sie hielten ihn fest, als er nicht essen wollte, und schoben ihm das mit Kot beschmierte Brot in den Mund.»Friß Scheiße! Du bist beim Barras, Kamerad. «Sie tauften ihn Nutella, nach dem West-Brotaufstrich.
«Taufe«: Irrgang war Wasserträger . Er bekam einen Teelöffel. Ein voller Wassereimer stand im Erdgeschoß des Bataillons, ein leerer im dritten Stock, in der Stabskompanie.
Christian kam erst nachts an die Reihe, als er schon schlief. Er wurde in seine Bettdecke geschnürt, in den Park geschleppt und vor einen Panzer gelegt. Popov ließ den Motor an und rollte über den bewegungsunfähig liegenden Christian hinweg. Er sah, wie sich die Wanne über ihn wälzte, sah Schrauben, die Notausstiegsklappe. Das Spiel hieß Hot dog . Dann befreite ihn Rogalla, reichte ihm eine Feldflasche.»Trink, Kamerad, wir mußten alle durch. Ruden haben sie den Kompanieflur lecken lassen und ihm mal fast ’n Auge ausgeschlagen. Und bei mir war Pisse in der Flasche. Ach, übrigens, frisches Bettzeug gibt’s in vierzehn Tagen.«
Mit ihr reden.
Lars Dieritz, genannt Costa, die Rippe, war der traurigste Vize, den Christian kannte. Er war erbarmungswürdig dünn, wie ein Vogeljunges, aber zäh und ausdauernd, nur Christian nahm es beim 3000-Meter-Lauf mit ihm auf. Costa, die Rippe, hatte alle Rechte seines Standes, aber niemand von den höheren Diensthalbjahren achtete ihn.»Du bist ein Weichei«, sagte Ruden,»du bist kein Krieger, sondern ein Muttersöhnchen. Und so was bei der Kavallerie! Wir sind die Garde der Armee! Würde dir Beine machen, wenn du jünger wärst.«
«Ach, halt die Klappe. «Costa wollte es einfach nur hinter sich haben, wollte einfach nur nach Hause. Rudens und Rogallas Prahlereien, ihr Muskelprotzertum widerten ihn an, für das Heldenspielen hatte er nichts übrig.
«Warum hast du dich dann für drei Jahre verpflichtet? Nemo macht’s für sein Studium, ich genauso. Aber du? Keiner hat dich gezwungen.«
«Hab’ Versprechungen geglaubt. Hatte für den Staat was übrig, stell dir vor. Und Null Sicht, wie beschissen es hier ist.«
«He, Rogi, wenn wir weg sind, bricht alles zusammen. Costa und EK …«Ruden winkte verächtlich ab.»Kann mir gar nicht vorstellen, wie der die stolze Tradition der E-Bewegung hochhalten will. Na, Wanda wird’s schon richten.«
Costa hörte gern Musik, am liebsten die schwermütige von Leonard Cohen; als Vize durfte er einen Plattenspieler haben.»Mensch, bist du beschränkt, Ruden. Willst du nicht studieren? Schmeißt mit lateinischen Brocken um dich … Ich bin bloß ’n Elektriker, aber es könnte sein, daß meine Birne heller brennt als deine.«
Im Politunterricht hörten sie von der klaren ideologischen Position der sozialistischen Armeeangehörigen, von der Gefahr eines atomaren, die Existenz der Menschheit bedrohenden Krieges, die der Imperialismus heraufbeschworen habe, von den Aufgaben, die vor ihnen, den Genossen Unteroffizieren und Soldaten, stünden. Der Sozialismus brauche klassenbewußte, gut ausgebildete und standhafte Kämpfer, die jederzeit zuverlässig ihre militärische Pflicht erfüllten, damit durch die Kraft des Sozialismus die friedliche Zukunft der Menschheit gesichert und der Sieg über den Krieg errungen werde, bevor dieser ausbreche. Sie sangen. Sangen das Lied vom Feind. Der Politoffizier hatte gefragt, wer ein Instrument spielen könne. Costa und Popov konnten ein paar Griffe auf der Gitarre. Soldat, du hast ein Gewehr in der Hand, / und ein Arbeiter hat es dir gegeben, / und du trägst das Gewehr für dein Vaterland, / und du bürgst für das Arbeiterleben. // Der Feind ist ohne Erbarmen und schlau, / und er nahm uns schon manchen Genossen, / er fragt nicht nach Liebe, nach Kind und Frau / und nach Tränen, so bitter vergossen …
In der Freizeit saßen sie im Kompanieaufenthaltsraum zum Gemeinschaftsempfang der» Aktuellen Kamera«, bastelten Panzer aus Streichhölzern für den Solibasar einer Pionier-Patenschaftsklasse, schrieben Briefe. Muska hatte sich in voller Montur aufzustellen und wurde von einem Soldaten für das Bataillonstagebuch porträtiert:»Der Panzersoldat«. In der FDJ-Gruppe wurden die Leistungen der Genossen Armeeangehörigen ausgewertet. Christian, der noch unerfahren war und den Panzer nicht richtig beherrschte, wurde in den Technikzirkel delegiert, den sein Zugführer leitete. Nach dem Dienst ging der Technikzirkel in den Park. Es läßt sich nur eine Gewähr / gegen den Aggressor schaffen: / besser gerüstet sein als er / und besser geübt in den Waffen!
Stabsoberfähnrich Emmerich, genannt Schlückchen, schwankte beim Postverteilen, und wenn er die Namen verlas, wenn er Befehle erteilte, artikulierte er nicht richtig, seine Stimme schrammte über die Umrisse der Worte, grunzte die kurzen heraus und verrührte die mehrsilbigen zu einem Sprachbrei, aus dem das geschärfte Ohr der Soldaten herausfischte, was er, der Kompaniespieß, wollte. Schlückchen hatte das strohige Haar und die aufgespannt wirkende Gesichtshaut schwerer Trinker, und in den großen, schrägen Poren seiner Haut steckten Mitesser tief und unzugänglich wie Wespenpuppen in ihren Brutröhren. Er hatte fünfzehn Jahre gedient und war in Ehren entlassen worden, aber zu Hause, in einer Neubauwohnung am Rand des Städtchens Grün, hatte er mit sich nichts anzufangen gewußt. Die Kompanie war sein Reich, die Soldaten waren seine Zöglinge, er kümmerte sich von früh bis spät um frische Wäsche, Urlaubsanträge, Reparaturen, ließ die Badeöfen heizen, organisierte Tee und belegte Brote für die Truppe, wenn sie müde und dreckig aus den Feldlagern in die Kaserne zurückkehrte. Er wußte nicht mehr, wie viele Truppenübungen er mitgemacht hatte. Er war bei den legendären» Waffenbrüderschaft«-Manövern dabeigewesen, er kannte Kapustin Jar in Kasachstan, wohin Bataillone des Panzerregiments 19»Karl Liebknecht«, in dem Christian diente, mit Artillerieeinheiten anderer Regimenter fuhren; er kannte alle Truppenübungsplätze der Republik, wußte um die Tücken der Schieß- und Fahrstrecken. Er teilte das Bohnerwachs zum Flurblockern aus, er genehmigte die Radios, er ließ bei den Kassettenrecordern die Kassettenfächer petschieren, er markierte mit Filzstift die erlaubten Sendereinstellungen. Ihm unterstanden Unteroffizier und Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst, höchstpersönlich machte er sie auf Much in den Zimmern aufmerksam (Christian lernte, daß so der Schmutz bezeichnet wurde, ein anderes Wort dafür war Siff ), höchstpersönlich leitete er die beiden an, wie die Öfen im Bataillonsstab — wenn die Bäume an den Objektstraßen gelb wurden — zu heizen seien; höchstpersönlich nahm er die Stuben- und Spindkontrollen vor und fahndete nach Alkohol, Westzeitschriften oder geheimgehalteten Radios; höchstpersönlich drückte er nach Dienstschluß das Aluminium-Petschaft in die mit Knetmasse gefüllten Kronkorken an den Türen der Geheimnisträger. Und höchstpersönlich wachte er darüber, daß vor dem Besuch hoher Tiere auch die Birkenstämme an der Straße vor dem Bataillonsgebäude abgewaschen wurden. Beim Morgenappell kontrollierte er die Kragenbinden und zog eine angeekelte Grimasse, wenn er eine schmutzige entdeckte. Die Vorgänge um die jungen Soldaten waren ihm, wie den Offizieren auch, genau bekannt; Beschwerden versandeten oder wurden abgewehrt, Schlückchen meinte, die E-Bewegung gehöre zur inneren Erziehung der Truppe. Zu seinen liebsten Vergnügungen gehörte es, nachts heimlich in die Kaserne zu kommen. Wenn Christian UvD stand, roch er die Schnapsfahne schon, bevor Schlückchen die Treppe hochgestapft kam. Laut Vorschrift hätte der Diensthabende Meldung machen müssen, aber Schlückchen legte einen Finger auf die Lippen, klopfte auf eine Tasche, die über seinen Schultern hing. In der Tasche steckte der» Erpel«, Stabsoberfähnrich Emmerichs persönliche Handsirene. Betrunken und glücklich wankte Schlückchen durch den abgedunkelten Flur, nachdem er die Waffenkammer aufgeschlossen hatte, drehte die Kurbel des» Erpels «wie ein Leierkastenmann, johlte:»Vierte Komp’nie: Gefechtsalarm!«
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