«Ich will da nicht runterschauen.«
«HALLO! SIE DA UNTEN! BITTE, MEIN SCHWIEGERSOHN HAT SEINEN HANDSCHUH VERLOREN, JA! KÖNNTEN SIE IHN MIT HINUNTERNEHMEN ZUR STATION, JA? MEINEM SCHWIEGERSOHN GEHÖRT ER, JA. IST IHM RUNTERGEFALLEN, JA!«
«Danke, das hätte ich schon selbst geregelt!«
«SEHR FREUNDLICH, DANKE, JA! MEINE FRAU IST AUCH DA UNTEN, JA, MIT MEINEM ENKELSOHN, JA. VIELLEICHT KÖNNTEN SIE IHN IHR GEBEN!«
«Bitte hör auf, er soll ihn einfach…«HALLO! DANKE! BITTE GEBEN SIE IHN BEIM LIFTWART AB! DANKE!«
«WIR SIND NÄMLICH — WIR SIND NÄMLICH AUF TAGESAUSFLUG HIER, JA. ABER VIELLEICHT KÖNNTEN SIE MEINE FRAU ANRUFEN UND IHR DEN HANDSCHUH GEBEN, JA NE, IM GASTHAUS, JA, HABEN SIE EIN HANDY?«
«DANKE, IST WIRKLICH NICHT NÖTIG, DANKESCHÖN!«
«KÖNNTEN SIE UNS VIELLEICHT IHRE HANDYNUMMER SAGEN? FALLS ETWAS BEI DER ÜBERGABE SCHIEFGEHT! DAMIT WIR DEN HANDSCHUH SICHER ZURÜCKBEKOMMEN! JA NE! WIR HABEN ABER NICHTS ZU SCHREIBEN! HOLLA, WOHIN? AUF WIEDERSEHEN! Jetzt wirft er den Handschuh weg! Hast du das gesehen? Jetzt wirft der den…«
«Das ist doch nicht möglich! Die müssen uns doch hier rausholen! Mir ist eiskalt, am ganzen Körper! Der Wind, der bringt mich um! Die spinnen doch!«
«Dir ist kalt, ja?«
«Was ist das? Es geht weiter, hurra! Es geht weiter! Juchu!«
«Was ist denn jetzt das, ja? Jetzt bleibt der wieder stehen, ja ne!«
«O NEIN!«
«Na, also, ha, ja ne!«
«Lieber Schwiegersohn, es ist zwar nicht die angenehmste Situation, und Umgebung, ja ne, aber irgendwie müssen wir ja die Zeit verbringen, ja ne. Ich habe nachgedacht, ja, über dich und deine Abneigung gegenüber Musik, ja ne.«
«Welche Abneigung?«
«Das behauptest du, ja, aber es stimmt nicht, ja. Zum Beispiel heute morgen, ja. Du hast verlangt, daß wir das Radio ausschalten beim Frühstück…«
«Gebeten. Darum gebeten.«
«Darum gebeten, ja, egal, ja ne. Du magst keine Musik hören. Wieso?«
«Erstens war das keine Musik. Das war irgendeine idiotische Sendung. Und zweitens will ich am Morgen einfach meine Ruhe haben, zumindest in den ersten fünfzehn Minuten beim Frühstück.«
«Also erlaube mal, das war keine idiotische Sendung, das war Österreich 1, das war der Guglhupf ! Du wirst ja wohl nicht im Ernst den GU-GEL-HUPF als idiotisch bezeichnen, das ist Spitzenkabarett, ja ne, das ist der Bronner! Obwohl sie zugegebenermaßen etwas nachgelassen haben, ja, früher war es besser, sind einige weggestorben, aber trotzdem, das ist eine Spitzensendung. Und die Lore Krainer, ja…«
«Wenn ihr bei uns zu Besuch seid, schalte ich zum Frühstück auch nicht Stereolab ein.«
«Was?«
«Ich schalte keine Musik ein, die euch überfordern könnte.«
«Mich? Musik überfordern? Du bist doch der, der keine Musik mag!«
«Wenn ich mich nicht für Musik interessiere, wieso habe ich jetzt einen Discman bei mir?«
«So? Ach ja. Aber warum sehe ich dich nie damit?«
«Weil ich HÖFLICH bin! Weil ich nicht neben dir Kopfhörer aufsetze und Musik anschalte! Aus demselben Grund, aus dem ich nicht Stereolab höre, wenn ihr bei uns frühstückt!«
«Ist da das drinnen, ja ne, das mit dem Flattern?«
«Was?«
«Was du gesagt hast.«
«Was habe ich gesagt?«
«Dein Lieblingslied, ja.«
«Ach — ach so. Mein Gott. Nein. Das ist da nicht drauf. Das ist Foyer des Arts .«
«Foyer de Sade?«
«Hör einfach mal rein.«
«Also, ich weiß nicht recht.«
«Sieh mal, da bringen sie jemanden mit dem Ackja weg.«
«Wenn wir an einem Tisch wären, ja ne, würde ich sagen, die Suppe ist dünn, ja. Diese Musik. Was soll denn das?«
«Was gefällt dir daran nicht? Ist das denn nicht wunderbar?«
«Was soll daran wunderbar sein? Aus der Erde schneiden! Fallende hören die herrlichste Musik! Also ich weiß wirklich nicht.«
«Das ist Poesie, Gunther.«
«Und werfen. Ja ne. Und einer, der fällt, hört keine Musik, er sieht seinen Lebensfilm, oder? Vielleicht hört er aber auch nur das Pfeifen des Windes, ja. Ich habe mal erlebt, wie einer abgestürzt ist, ja, nicht ich habe geführt, Gott behüte, das war die Tour des Dr. Steinscherer aus Vöcklabruck, der damals bekannt war, im kleinen Kreis natürlich, ja ne, für seine Couplets, war ein guter Sänger, der eine gute Stimme gehabt hat, und dessen Tochter war mit dabei, deren Verlobter ist abgestürzt, im Wilden Kaiser war das, ich glaube 1962 oder so, ja ne.«
«Achtzehn?«
«Neunzehn! 1962!«
«Übrigens, weißt du, daß der Name Stangassinger aus dieser Gegend stammt?«
«Was?«
«Der Name Stangassinger stammt aus dieser Gegend hier, das ist eigentlich ein Berchtesgadener Name.«
«Ja und?«
«Na, es gab doch den österreichischen Olympiasieger, ja, im Slalom, Stangassinger, der Name stammt aus dieser Gegend, ja ne.«
«Na und?«
«Der Name Stangassinger, das wird dich interessieren, ist ein alter Berchtesgadener Name, ja ne, sozusagen ein Talname, der von hier vermutlich seit Jahrhunderten sich verbreitet hat, ja, aber wenn du einen Stangassinger triffst, ist es fast mit Sicherheit jemand, der hierher Verbindungen hat, ja ne, so wie der Skiläufer welche hat, haben muß, ja ne, der stammt bestimmt von hier.«
«He — es geht weiter! Es geht weiter!«
«Ja wirklich, es geht weiter. Endlich, ja ne! Es wird allmählich kühl, ja.«
Ich erwache, weil der Nachbar in der Wand bohrt, und ich habe einen Monsterkater. Ich bin allein, Else liegt nicht neben mir. Ich drehe mich auf die Seite, um zum Wecker zu schauen, bei dieser Bewegung wird mir noch mehr übel. Die Kopfschmerzen sind schlimm, aber zu ertragen. Was ich nicht ertragen kann, ist diese entsetzliche Übelkeit.
Es ist neun. Wieso bohrt dieser Mensch? Wieso macht er das nicht am Nachmittag? Ich stelle mir vor, wie ich ihm die Meinung sage, aber das hilft auch nicht, denn das Bohren hört nicht auf, und mir ist weiterhin übel. Wieso eigentlich? Was habe ich gestern wieder getrieben?
Und es ist nicht nur der jämmerliche körperliche Zustand. Ich fühle einen seelischen Alpdruck, ich habe ein schlechtes Gefühl, als laste ein moralisches Gewicht auf mir. Ich kann mir das nicht erklären, es geht über den gewöhnlichen Moralischen nach starkem Alkoholkonsum hinaus.
Von draußen höre ich die Stimme Ursels, meiner Schwiegermutter, die mit Stanislaus spricht. Sie sind nebenan in seinem Zimmer, offenbar wird er gewickelt. Ich habe ihr schon einige Male gesagt, sie soll dabei bitteschön die Tür zumachen bitte, wenn ich noch im Bett bin, aber das vergißt sie manchmal. Gut, heute ist das egal, denn mich hat nicht Stanislaus’ Krähen geweckt, sondern der gewissenlose Nachbar. Nur holt mich die Unterhaltung zwischen meiner Schwiegermutter und Stanislaus noch weiter aus dem Schlaf heraus.
Wieso ist mir so schlecht? Was war gestern los? Am Nachmittag habe ich den Professor getroffen und, wie immer in seiner Gesellschaft, keinen Tropfen getrunken. Am Abend das Treffen mit Beate, einer weiteren Ärztin, die mir damals auf meinen Artikel hin geschrieben hatte. Anders als Frau Thallner hat sie bereits einen Mann, sie hat sogar zwei kleine Kinder, unsere Treffen sind also relativ ungefährlich. Generell finde ich zwar, Sex ist die netteste Art, sich kennenzulernen, aber da wir beide mit anderen verheiratet sind, fällt das aus. Wir reden über meine Hypochondrie, und ob der Schmerz hier und jener da etwas Gefährliches sein könnte. Die Frau hat eine Engelsgeduld.
Ich weiß mit Sicherheit, daß ich gegenüber Beate keine Annäherungsversuche unternommen habe, aber die moralische Last, die Angst, die ich fühle, all das scheint aus dieser Richtung zu kommen: Du hast möglicherweise etwas getan, was du lieber hättest bleibenlassen. Womöglich habe ich — jemanden geschlagen? Läutet bald die Polizei?
Читать дальше