«Sie kann mich brauchen«, flüsterte Chucky und betonte dabei zischend jedes Wort.
«Das kann ich nicht beurteilen«, gab ich in der gleichen Tonlage zurück.»Aber noch einmal: Was hat das mit mir zu tun?«
«Ich weiß, daß sie auf jemanden wie mich wartet.«
«Und warum willst du ausgerechnet mit mir darüber sprechen?«
Er ignorierte einfach meine Fragen.»Das sind alles gescheite Köpfe, das sehe ich«, redete er weiter.»Vielleicht können sie es mit den Händen aber nicht so gut. Für das, was sie machen, brauchen sie Autos. Ich weiß alles über Autos. Ich kann aus einem VW einen Rennwagen machen. Wenn das gebraucht wird. Ich kann jedes Schloß aufmachen. Ich habe zwei Erste-Hilfe-Kurse besucht. Ich war der Beste. Es graust mich nicht vor der Mund-zu-Mund-Beatmung, auch nicht, wenn derjenige gekotzt hat. Ich kann tapezieren. Ich kenne mich mit allem Elektrischen aus. Ich habe beim Steinbruch unten in Hohenems beim Sprengen geholfen. Technisch bin ich eins a.«
«Das weiß jeder hier, Chucky«, sagte ich.»Aber ich bin der falsche Mann. Ich kann dir nicht helfen, und ich kann denen nicht helfen. Und ich will ihnen auch gar nicht helfen. «Ich spürte, daß ich mich zu eifrig erklärte, daß ich dadurch Distanz verlor und in Verdacht geriet, selbst nicht zu glauben, was ich da redete.
«Ich zeig dir etwas«, sagte er. Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Zeitungsbild, schwarzweiß, das er mit durchsichtigem Klebstreifen überklebt hatte, so daß es aussah wie in Streifen lackiert.»Erkennst du sie?«
«Ich kenne das Bild von den Fahndungsplakaten«, sagte ich.
Er strich mit dem Daumennagel darüber.»Ich mag ihr Gesicht gern, weißt du. «Er sprach nun noch leiser und aus dem Mundwinkel, seine Ohren glühten.»Ziemlich breit ist es. Das mag ich gern. Den schmalen Gesichtern geh ich aus dem Weg. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so ein breites Gesicht hat. Und die Haare. Gerade Haare, und das Gesicht völlig frei. Es gibt nichts zu verbergen. Und warum nicht? Ich kann diese Frage beantworten. Die anderen ziehen sich die Haare vors Gesicht. Die Männer bleiben unrasiert. Und schau her, ihre Haut ist fein. Siehst du, wie fein sie ist? Die meisten von ihnen haben eine schlechte Haut. Man kann das kaum verhindern. Auf der Haut trifft alles zusammen. Das, was von innen kommt, und das, was von außen kommt. Ein wildes Leben, eine wilde Haut. Ihre ist fein. Von oben bis unten gleich, kein Fleck, kein Punkt. Sie hat ein wildes Leben, aber sie hat ihr Gesicht im Griff. Sie kann sich auf ihr Gesicht verlassen. Das ist die höchste Kunst und Wissenschaft. Du siehst keine Spur von dem, was sie denkt. Sie muß nichts verstecken mit Haaren oder Grimassen. Nur die Augen. Die Augen hat niemand bis ins Letzte in seiner Gewalt. Das kann nicht gehen. Es ist ein Polizeifoto. Das darfst du nicht vergessen. Darum macht sie die Augen so schmal. Damit nur das Allernotwendigste heraus- und das Allernotwendigste hineinkommt. Schau dir den Mund an! Er ist nichts weiter als zwei Lippen, die aufeinanderliegen. Probier das einmal! Mach einen Mund, der überhaupt nichts bedeutet. Von dem niemand etwas ablesen kann. Probier das! Das geht nicht. Man macht in so einem Fall nämlich einen Mund, von dem man nichts ablesen können soll. Aber genau das kann man ablesen, und genau das soll man nicht ablesen können. Jeder denkt sich: Warum will der einen Mund machen, von dem man nichts ablesen kann? Das ist verdächtig. Das ist noch verdächtiger, als wenn du einen brutalen Mund machst. Bei einem brutalen Mund könnte man sich immerhin denken, der macht extra einen brutalen Mund, weil er will, daß man meint, daß er brutal ist, und das will nur einer, der nicht brutal ist. So machen es die Idioten. Der Martin würde das so machen. Sie aber denkt alles, was sie tun will, vorher genau durch. Jeden Schritt denkt sie durch. Sie sagt sich: erstens, zweitens, drittens. Sie hat Angst. Und von erstens zu zweitens zu drittens kriegt sie immer mehr Angst. Am Schluß hat sie alle Angst durch. Und es ist gut, und die Angst ist weg. Ich habe gelesen, daß die Frauen sich untereinander abstimmen, wann sie die Regel kriegen. Wie das gehen soll, weiß ich nicht. Aber ich glaube das. Sie mieten Wohnungen und richten die Wohnungen ein. Es gibt Nachbarn. Man will niemanden erschießen, der nicht erschossen werden muß. Es kann sein, daß ein Nachbar kommt und Salz ausborgen will. Da muß man sagen können: Komm herein. Bleib doch nicht im Gang stehen, Menschenskind, willst du einen Kaffee. Oder so ähnlich. Wenn man den draußen stehenläßt, ist das verdächtig. Warum läßt der mich nicht hinein? Wenn man kein Salz hat, ist das verdächtig. Jeder Mensch hat Salz, warum hat der kein Salz? Wenn man ihn aber in die Wohnung läßt, muß die Wohnung irgendwie aussehen. Die kann nicht leer sein. Das wäre verdächtig. Normale Einrichtung. Nichts Besonderes. Wenn es etwas Besonderes ist, erzählt er es vielleicht herum. Die haben etwas Besonderes in der Wohnung. Wenn er Verdacht schöpft, muß man ihn wahrscheinlich erschießen und den, dem er es weitererzählt hat, auch. Das will man nicht. Erstens, zweitens, drittens. Verstehst du? Alles durchdacht. Jeder Schritt höllische Angst. Sie liegt wach und denkt alles durch. Neben ihr liegen die anderen und schlafen. Unterernährte komische Typen. Ich würde ihr gern helfen. Sie braucht jemanden, der auf sie aufpaßt. Ihr Dinge abnimmt. Soll sie selber das Salz besorgen oder die Möbel, soll sie selber die Wände tapezieren, das Elektrische reparieren? Oder daß das Auto immer vollgetankt ist. Und genug Öl. Das Öl wird leicht vergessen. Ich würde das gern machen.«
«Woher weißt du das alles«, fragte ich ihn.
Er klopfte mit dem Finger auf das Bild.»Ich sehe es.«
«Du siehst das in ihrem Gesicht?«
Er nickte.
«Auf diesem Foto?«
Er nickte und steckte das Foto wieder ein.
«Es ist kein gutes Foto, Chucky. Und ein Polizeifoto ist es dazu. Und obendrein hast du das Foto aus einer Zeitung ausgeschnitten. Fotos in Zeitungen sind gerastert. Das heißt, sie bestehen aus lauter Punkten. Du könntest einen Pickel ja gar nicht von einem Rasterpunkt unterscheiden. Vielleicht hat sie gar keine reine Haut, vielleicht hat sie so viele Pickel wie Rasterpunkte.«
«Das hat sie nicht. Das sehe ich.«
«Schau mich an, Chucky! Und in meinem Gesicht siehst du nicht, daß ich dich nicht anlüge? Aber ich lüge dich nicht an, Chucky. Ich kenne wirklich niemanden von denen. Und daß sie außer Brigitte noch Margret Ida heißt, das habe ich zum erstenmal gehört.«
Er blickte mich an, genauso ausdruckslos, wie er meinte, daß Brigitte Margret Ida Mohnhaupt auf dem Fahndungsfoto in die Welt hineinblickte. Und es war dennoch klar, was er dachte: Er hat sich verraten, dachte er. Chucky hatte mich bisher weder gefragt, ob ich einen von denen kenne, noch hatte er es behauptet. Von mir war überhaupt noch nicht die Rede gewesen. Ich war es, der mich dauernd mit denen in Verbindung brachte. Er rief:»Zahlen!«, legte Geld für sein Bier und meinen Kaffee auf den Tisch und fuhr mich ohne ein weiteres Wort nach Hause.
Nach Neujahr klingelte er wieder an unserer Tür.
«Ich fahr dich hinaus nach Frankfurt«, sagte er.
«Ich fahr mit dem Zug«, sagte ich,»ich habe eine Retourkarte.«
«Ich löse sie dir am Schalter ein«, sagte er.
6
Dagmar wollte bis Dreikönig in Marburg bleiben. Das war mir recht. Chucky würde es ohnehin nicht länger als ein paar Tage in Frankfurt aushalten. Die Stadt war ihm von Anfang an zuwider, sie verunsicherte ihn, stauchte ihn zusammen; er sagte, daß er sie hasse, da hatten wir noch nicht einmal einen Parkplatz gefunden. Sie sei dreckig und gemein und verhurt, fluchte er aufs Lenkrad nieder. Ich hatte nicht vor, diesen Eindruck zu korrigieren. Unsere Wohnung in der Danneckerstraße, das stellte er in der ersten Minute klar, sei ein hirnverbrannter Blödsinn, er würde verrückt werden in einem» dreieckigen Zimmer«, von dem man nicht einmal wisse, ob es eine Küche oder ein Badezimmer sei.»Wie wollen wir es sonst anstellen«, fragte ich.»Hier steht leider das einzige Sofa.«»Ist ja wurscht«, brummte er und legte sich hin. Als ich ihm eine Wolldecke brachte, war er bereits eingeschlafen, in sich verkrümmt wie ein bockiges Kind, Ohren wie Warnleuchten.
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