«Ich telefoniere nicht gern«, sagte Frau Mungenast.»Ich sehe ja das Gesicht nicht. Es kann ja einer etwas Freundliches sagen, aber dabei sein Gesicht gemein verziehen. «Sie erhob sich. Sie wolle uns noch etwas für den Abend herrichten, sagte sie. Ob ich ihr in der Küche helfen könne, fragte ich. Sie sagte, sie werde in den nächsten Tagen mit Sicherheit auf mein Angebot zurückkommen. Wir hörten, daß sie in der Küche das Radio einschaltete; erst Schlagermusik vom Regionalsender, dann klassische Musik.
Carl nickte und starrte auf einen Fleck und schien mit dem Nicken nicht mehr aufhören zu wollen, und das sah traurig aus. Er trug seinen grünen, in den Falten schimmernden Morgenmantel, über dem Knoten des Gürtels hielt er mit beiden Händen die Teetasse über dem eingesackten Bauch. Ratlosigkeit breitete sich in seinem Gesicht aus, und es wurde leer, auch die Traurigkeit ging darin unter. Als wäre der Mann für Minuten aus der Welt gerückt. Kein Leben war mehr in ihm. Und so blieb es eine Weile.
«Wir beide und das Telefon!«spielte ich einen nostalgischen Seufzer, um ihn zurückzuholen.»Das ist schon ein eigenes Kapitel, stimmt’s!«
Er leckte sich die Lippen und schickte mir einen strafenden Blick zu. Ich hatte in einer Lautstärke mit ihm gesprochen, als wäre er nicht mehr bei Sinnen. Schließlich sagte er langsam, kontrolliert und betonte jedes Wort:»Je älter ich wurde, desto mehr differenzierten sich meine Sinnesorgane.«
Und das war der erste Satz, den ich in C.J.C. 1 notierte.
Auch früher schon hatte ich mir Formulierungen von ihm aufgeschrieben, wenn er zum Beispiel jemanden charakterisierte — worin er meisterlich war — oder wenn er ausgreifende Zusammenhänge in wenige Worte faßte — worin er ebenfalls meisterlich war —; aber ich hatte es nie vor seinen Augen getan; ich hatte mir die Wendungen gemerkt und sie später, wenn ich allein war, aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Ich hatte vor ihm nicht als sein Eckermann erscheinen wollen. Nun war ich sein Eckermann, und meine Aufgabe bestand unter anderem darin, zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden. Diesen Satz stufte ich als wesentlich ein. Er hatte an der Universität Mathematik gelehrt, Logik verehrte er wie andere den lieben Gott; wenn er also nach reiflichem und, wie ich es verstehen mußte, bewegtem Nachdenken einen Begriff wie differenzieren gebrauchte, so durfte ich getrost davon ausgehen, daß er ihn nicht allein im umgangssprachlichen Sinn von trennen und unterscheiden verwandte … sondern? — Verhemmt waren wir an diesem ersten Abend, weiß Gott! Meine Güte! Beide. Und beiden war uns bewußt, wodurch diese Verhemmtheit ausgelöst wurde: Zum erstenmal wollte er etwas von mir. Ich sah ihm an, was er dachte: ob es wirklich ein kluger Entschluß gewesen war, mich zu bitten, über ihn zu schreiben. Und ich nehme an, er ahnte auch meine Zweifel, nämlich ob ich mir das zutraute, ob ich das auch wirklich wollte: sein Leben erzählen. Am Abend in meinem Zimmer oben unter dem Dach schrieb ich unter den Satz: Sinnesorgane sind veränderliche Größen, die in ihrem Wert von anderen Größen abhängig sind, und weil sich C.J.C. im Laufe seines Lebens mehr aufs Hören konzentriert hat als aufs Sehen, kann er mit dem Ohr mehr Feinheiten wahrnehmen als mit dem Auge. Der Witz dabei ist, daß er zwar nie eine Brille nötig gehabt hatte, wohl aber ein Hörgerät. — Der eigentliche Witz bestand freilich darin, daß ich wegen so eines simplen Satzes so harzige Gedanken in meinem Gehirn herumschob, nur weil diesem Satz eine längere Pause vorausgegangen und Carl dabei so melancholisch geschaut hatte, was wahrscheinlich auf nichts anderes als auf eine Absence zurückzuführen war. Mit meinen einundfünfzig Jahren war ich immer noch der übereifrige Adept und er mein Meister! (Manchmal allerdings war ich auch ein Ketzer gewesen. Aber das ist ja nur die Kehrseite der Medaille.) Ich ärgerte mich über mich selbst. Und am meisten ärgerte ich mich, weil ich ihn in meinem Kommentar C.J.C. nannte, als wäre er ein Wesen, dessen Name auszusprechen eine Sünde ist … — Ich merke, auch ein Jahr nach seinem Tod kann ich noch immer nicht über ihn sprechen, ohne mich zu empören; aber auch nicht ohne die Ehrfurcht, die ich stets vor ihm empfunden habe; und natürlich nicht — natürlich nicht! — ohne Liebe. Will ich warten, bis Ärger, Bewunderung und Liebe nüchterner Distanz weichen, werde ich wohl nie über C.J.C. schreiben können.
«Warten wir, bis Frau Mungenast fertig ist«, sagte er.»Mir wäre am liebsten, man würde überhaupt keine Musik hören in der Küche. Aber das darf man nicht verlangen. Man soll kein Tyrann sein. Alle sagen, Musik passe gut in eine Küche. Ich finde das nicht.«
6
Meine erste Erinnerung — weil mich Carl danach gefragt hat (und weil du, David, mir von deiner ersten Erinnerung erzählt hast):
Ein Familiennachmittag in den Donauauen — Vater, Mutter, Carl, Margarida, ich. Wir haben einen roten Sonnenschirm mit einer Metallspitze in die Wiese gerammt und darunter Decken ausgebreitet. Ein Korb wie eine Schatztruhe mit einem gewölbten Deckel steht da, in ihm sind die guten Sachen verstaut, Tomaten und Gurken zum Beispiel. Ich sehe Carl und meine Mutter im Wasser stehen, Carl bis zum Bund seiner Badehose, meine Mutter bis zu den Waden. Sie trägt einen weißen, einteiligen Badeanzug und drückt die Schultern nach hinten. Carl ruft mich zu sich. Ich laufe barfuß über die Wiese, tauche meine Füße ins Wasser. Meine Mutter hält mich an der einen Hand, Carl an der anderen. Carl will mir das Schwimmen beibringen. Er ruft: Laß dich fallen, Sebastian! Meine Mutter streift meine Hand von ihrem Finger. Das Wasser reicht mir nun bis zum Bauch. Ich lasse mich fallen. Carl fängt mich auf. Ich liege auf seinen Händen, sie breiten sich unter meinem Bauch und meiner Brust aus. Er trägt mich durch das Wasser, hebt mich hoch, senkt mich ab. Ruft:»Hui, hui! Hui, hui!«Dreht sich dabei im Kreis. Margarida kommt dazu. Ich habe keine Angst vor dem Wasser, aber ich strecke meine Hände nach ihr aus. Sie nimmt mich auf den Arm. Ich rieche Sonnenöl.
«So sieht deine erste Erinnerung aus?«fragte Carl.»Oder willst du mir nur etwas Liebes sagen? Daß ausgerechnet ich am Beginn deiner bewußten Wahrnehmung stehe? Wir waren oft in den Donauauen, wir vier und du. Wo ist dein Vater? Kommt er in deiner ersten Erinnerung nicht vor?«
Nein, er kommt nicht vor.
Eine andere Erinnerung an einen gemeinsamen Badenachmittag hat mehr Gewicht. Es war in dem Sommer gewesen, bevor ich in die Schule kam. Carl und Margarida wohnten bereits in Innsbruck, die Semesterferien aber verbrachten sie in Wien. In den ersten Jahren nützten sie jede Gelegenheit, um nach Wien zu fahren — Ostern, Pfingsten, Allerheiligen, Weihnachten natürlich. Margarida fand Innsbruck langweilig, sie tat sich schwer, dort Menschen kennenzulernen. Auch bei Carl dauerte es lange, bis er sich mit der Stadt anfreundete. Wenn sie in Wien waren, besuchten sie uns, und wir besuchten sie, sie luden uns zum Plachutta in der Wollzeile ein oder ins Sacher oder ins Bristol (das Imperial wollte meine Mutter nicht betreten). Oder meine Mutter kochte, was sie besser konnte als Margarida und, wie Carl sagte, besser als alle Haubenköche Wiens zusammen; an diesen Abenden saßen wir eng beieinander um unseren Küchentisch in der Penzingerstraße, ich zwischen Carl und Margarida; das war mir viel lieber als diese Restaurantbesuche, bei denen ich mein Sonntagsgewand anziehen mußte. Wann immer ich Lust dazu hatte, durfte ich am Rudolfsplatz übernachten. Am liebsten schlief ich in einem der kleinen Zimmer im Dachboden; weil ich mich aber auch ein wenig fürchtete, legte sich Margarida zu mir.
Als mir mein Vater diesmal mitteilte, daß Carl und Margarida nach Wien kommen, brach ich in Tränen aus und setzte mich auf den Küchenstuhl, weil mir die Knie schwach wurden und die Hände zu zittern begannen. In unserer Wohnung in der Penzingerstraße herrschten die berühmte Bedrücktheit und die berühmte Gekränktheit, diesmal despotischer als jemals zuvor. Mein Vater war bedrückt, weil er das Saufen nicht lassen konnte, meine Mutter war gekränkt, weil er das Saufen nicht lassen konnte, was wiederum meinen Vater kränkte, was wiederum meine Mutter bedrückte. Sie schafften es nicht, einander in die Augen zu blicken. Sie drehten sich zur Seite, wenn der andere die Küche betrat. Und schließlich bildete ich mir ein, sie brachten es nicht einmal mehr über sich, im selben Moment mich anzusehen. Als hielten sie die Aura nicht aus, in die mich der Blick des jeweils anderen hüllte. Ich fürchtete, meine Mutter könnte sich plötzlich umdrehen, mitten in sein Gesicht schauen und sagen: Georg, wir müssen darüber reden. Manchmal ging ein Ruck durch ihren Körper, ihr Mund wurde noch schmaler; ich habe schnell etwas gesagt, bin ihr ins Wort gefallen, noch bevor das Wort einen Ton gefunden hatte. Dieses Wir-müssen-darüber-reden-Georg würde nur eines bedeuten, davon war ich überzeugt, nämlich: Es ist Schluß, Georg. Es ist aus, Georg. Es ist vorbei, Georg. Ich geh. Die Gekränktheit und Bedrücktheit meiner Mutter konnte ich gut nachvollziehen; aber nicht verzeihen. Es war mir nicht gelungen, zu verhindern, daß mein Vater heimlich trank. Das verzieh ich mir nicht. Ich hatte es versucht. Ich hatte mit ihm gesprochen. Ich hatte gesagt:»Bitte, Papa, trink nicht soviel!«Ich hatte mich auf diesen Satz vorbereitet. Hatte mir ein Gesicht für diesen Satz eingeübt. Das Gesicht eines geschlagenen Kindes. Mein Verstand und mein Instinkt, die beide eins waren und deshalb so scharf, sagten mir, ein Erwachsener kann gegen so ein Gesicht nichts ausrichten; also wird er aufhören zu trinken. Aber er trank weiter. Wie sollte ich verhindern, daß sich meine Mutter umdrehte und ihrem Mann mitten ins Gesicht blickte? Obwohl ich mir doch genau das wünschte.
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