Sie wiederholen das Spiel mehrmals. Einmal rufen die Kinder etwas unter Wasser, hinterher wollen sie wissen, ob Ingrid verstanden hat, was.
— Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän?
— Nein! kreischt Sissi.
— Also noch einmal.
Ingrid sitzt neben der Badewanne, sie nimmt einen Schluck vom Kaffee. Die Luftblasen platzen an der Wasseroberfläche. Dumpf und entstellt steigen die Stimmen der Kinder zu Ingrid auf und trotzdem verständlich.
— Popocatepetl?
— Nein!
Es plätschert alles so dahin, aber es plätschert sehr rasch. Es vergeht. Die Zeit ist einfach weg. Was habe ich gemacht? Die letzten sechs Monate? Im letzten Jahr? Bei den Kindern hat sich viel getan. Sissi kommt im nächsten Jahr ins Gymnasium, Philipp in die Schule, dann ist auch er aus dem Gröbsten raus. Aber bei mir? Alles, was geschieht, hat mit den Kindern zu tun. Die Jahre ordne ich Dingen zu, die nur indirekt mich betreffen. Früher habe ich Peter kennengelernt, und im nächsten Jahr habe ich maturiert, und in dem einen Jahr war meine erste Fehlgeburt, und wieder in einem anderen Jahr bin ich von zu Hause ausgezogen, und irgendwann habe ich promoviert. Jetzt werden die Kinder eingeschult und haben Scharlach undsoweiter. Und ich : lebe so nebenher.
Die Kinder müssen ihre Geschlechtsteile waschen, währenddessen erzählt Ingrid, daß im Tiergarten zu der Zeit, als Peter dort als Fotograf arbeitete, ein Seehund eingegangen ist, nachdem er den Fotoapparat eines sowjetischen Soldaten verschluckt hatte. Die sowjetischen Soldaten hätten Schlitzaugen gehabt wie Der kleine Wassermann in Philipps Lieblingsbuch (sein Haar, ob es grün ist? von Wasserlilien durchzogen, wenn er auf moosigen Karpfen zwischen Algenbäumen reitet).
Die Kinder sind beeindruckt, sie tauchen nochmals unter. Ingrid soll die Zeit nehmen. Sie sitzt da, ihr Blick ist auf die Uhr gerichtet, zehn Sekunden sind vergangen. Gleich wird Philipp hochschießen, daß das Wasser an alle Wände spritzt, und keuchen, ganz erschöpft und enttäuscht, daß ihn Sissi schon wieder geschlagen hat.
Es ist vielleicht das letzte Mal, daß die Kinder um die Wette tauchen, denkt Ingrid. Unten klingelt derweil das Telefon. Peter ruft nach ihr, und noch ehe die Kinder aus dem Wasser hochkommen, läuft Ingrid aus dem Bad und die Treppe hinunter. Sie geht davon aus, daß der Rest von dem, was an den Kindern noch schmutzig ist, von selbst sauber werden wird, indem es einweicht.
Es ist ihr Vater, der seine Glückwünsche zum Jahreswechsel deponiert, die Stimme belegt von all dem, was zwischen ihnen je gesagt worden ist, ergänzt um manches Wort, das er mit Peter gewechselt hat. Er beklagt sich im Auftrag von Alma (wie er behauptet), daß Ingrid zu Weihnachten nicht gekommen ist.
Ingrid klemmt den Hörer zwischen Ohr und Schulter und wischt sich die feuchten Hände am Kleid ab. Seit Peter und ihr Vater beim Auseinanderbauen der Wohnzimmermöbel handgreiflich geworden sind, hat sich der Kontakt zwischen dem dreizehnten und dem achtzehnten Bezirk auf ein Minimum reduziert.
— Weihnachten ist ein Fest des Friedens, Papa.
Ingrid ist nicht unfreundlich, aber hörbar distanziert.
(Das Singen, das Umarmen, das Küssen, das Die-Dankbare-Spielen und die blöden scheinheiligen Reden, sie will das alles nicht.)
— Und ich brauche meinen Frieden ganz besonders.
Ihr Vater seufzt nachsichtig. So milde hat sie ihn schon lange nicht mehr erlebt. Er spricht eine weitere Einladung für den Neujahrstag aus. Doch da Ingrid auch das neue Jahr abseits der Pyrotechnik nicht mit Familienböllern und Knalleffekten beginnen möchte, stellt sie einen Besuch erst im Anschluß an den nächsten Nachtdienst in Aussicht.
Sie sagt es gleich:
— Ich komme besser allein.
Peter muß sie gar nicht fragen, und die Kinder, die sich bei den Großeltern langweilen, können das Schispringen genausogut zu Hause anschauen.
— Mutter wird enttäuscht sein. Sie würde die Enkel gerne wieder einmal sehen.
Nach einer Pause fragt er:
— Geht es dir gut?
— Ich denke, ja, so halbwegs. Ich bin halt ohne Unterbrechung beansprucht. Nichts Neues.
— Du mußt dich mehr schonen, rät Richard.
— Ich mich? Eher man mich.
Aber darauf geht ihr Vater nicht ein.
— Weißt du schon, auf welches Fach du dich spezialisieren wirst, wenn du mit dem —?
Das Wort Turnus fällt ihm nicht ein, und nach einiger Zeit sagt er:
— Mit dem post-graduate fertig bist?
— Gynäkologie.
(Wenn überhaupt.)
Er lacht. Ingrid hat den Eindruck, er will seinen überlegenen Humor demonstrieren, indem er sagt:
— Ich bin aufrichtig dankbar, sagen zu können, daß ich zwei Fächer bislang nicht in Anspruch genommen habe, die Gynäkologie und die Psychiatrie.
Anschließend redet ihr Vater eine Weile über den Linksruck nach der letzten Wahl, über den sich Alma insgeheim freue. Er läßt einfließen, daß diese Entwicklung ihm keineswegs, wie man vermuten könnte, das Gefühl gebe, er habe den Sinn seines Lebens verfehlt. Mittlerweile seien die einen wie die andern. Er berichtet von der Situation innerhalb der Partei. Die meisten Geschichten hört Ingrid zum zweiten oder dritten Mal, sie sagt aber nichts und hört sich alles brav an, das tut nicht weh. Einer der Vorteile der Jahre, die sie mit Peter verbracht hat, ist der, daß sie ein gewisses Gespür für das andere Geschlecht entwickelt hat. Niemand besser als ihr Vater, um das Gelernte anzuwenden.
Es vergehen fünf Minuten, dann gelingt es Ingrid, die Langatmigkeit der väterlichen Ausführungen freundlich abzuwürgen mit der Frage, was er zu Weihnachten verschenkt habe.
— Mama einen Safe von Wertheim und mir einen Feuerlöscher fürs Auto.
Das wird auch immer origineller. Aber immer noch besser als bei ihr, wo nur Dinge geschenkt werden, die ohnehin fällig sind.
– Übrigens, sagt Richard, Mutter läßt fragen, ob du genug Handtaschen hast.
— Man kann nie genug haben.
— Ja, natürlich.
Funkstille.
Peter kommt vorbei, auf dem Weg zwischen Wohnzimmer und Küche. Er berührt Ingrid am Hals. Es läuft ihr kalt den Rücken hinunter; ob angenehm oder unangenehm, kann sie nicht sagen. Ihr scheint aber, Peter ist eigens deshalb vom Fernseher aufgestanden.
Richard fragt:
— Und was macht ihr heute abend?
— Die Einladung an den Semmering, zu der sich Peter hat breitschlagen lassen, ist ausgefallen, weil dort alle krank sind. Wenn die Kinder jetzt noch zwei Stunden schlafen, gehen wir zum Chinesen, sonst bleiben wir zu Hause.
— Wirst du eine Ente essen?
Sie bläst hörbar die Luft aus.
— Weiß nicht, ich denke, ich habe noch Zeit mit meiner Wahl, bis ich im Lokal vor der Karte sitze.
— Na ja, wozu geht man zum Chinesen, wenn man keine Ente ißt?
Diese Art von Kritik ist Ingrid zu hoch beziehungsweise schüttelt sie derartige Kommentare mittlerweile ab, und übrig bleibt: Der Mann ist nicht mehr zu ändern, der wird nur immer noch besserwisserischer (und kann ihr den Buckel runterrutschen).
Oben rufen die Kinder, daß sie fertig sind.
— Sag Mama schöne Grüße und Prosit Neujahr.
— Mama will mit dir reden. Ich gebe sie dir.
— Hallo, Ingrid?
— Mama? Ich muß jetzt aufhören, die Kinder sitzen in der Badewanne und rufen nach mir. Ich komme am Dienstag.
Gewicht nackt:
Philipp
19,5 Kilogramm
Sissi
32 Kilogramm
Ingrid
62 Kilogramm
Peter föhnt den Kindern die Haare und füttert sie mit Broten ab. Ingrid stellt sich derweil unter die Dusche und hat Schuldgefühle, weil sie innerlich zumacht, sowie sie mit ihren Eltern zu tun bekommt. Es ist, als hätte sie ein abnormes Interesse daran, daß zwischen ihr und ihren Eltern alles bleibt, wie es ist. Klar, sie hat hinreichend Gründe, ihren Eltern die kalte Schulter zu zeigen. Doch gleichzeitig will sie nicht bestreiten, daß sie weder Zeit hat, das Verhältnis zu verbessern, noch ein Verlangen verspürt, sich mit einer eventuellen Verbesserung der Beziehung zusätzliche Verpflichtungen aufzuhalsen. Manchmal kommt es ihr vor, als ob sie vor allem aus Routine barsch und unleidig ist, damit man sie in Ruhe läßt. Wobei von Ruhe dann erst recht nicht die Rede sein kann, weil sie sich schuldig fühlt, sowie sie ihre Eltern abgebeutelt hat. Diese Schuldgefühle führen dazu, daß sie ihren Fehler gutmachen will; das hat weiterhin mit ihrem Ruhebedürfnis zu tun. Jetzt zum Beispiel: Beschließt sie, sofort nach dem Duschen unter einem Vorwand zurückzurufen und freundlicher zu sein. Doch davor schreckt sie gleichzeitig zurück, weil es wenig wahrscheinlich ist, daß sie sich hinterher besser fühlen wird. Wirst du dann zufrieden sein? Eingehüllt in Wasser und Dampf, kommt sie zu dem Schluß, daß sie der größte Egoist von allen ist.
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