— Von Politik verstehe ich nichts.
Von diesem Traum hochgradig irritiert und gewillt, in Zukunft ein besserer Mensch zu sein, geht Philipp in der Früh zuallererst zum Papiercontainer, um vom geschriebenen Nachlaß seiner Großmutter zu retten, was sich noch findet (zielstrebig werde ich werden, verantwortungsvoll, das Erz der Vergangenheit abbauend). Aber nein, nein, er hat kein Glück. Kein Glück. Der eine wirft’s weg, der andere zerrt’s wieder raus. Außer ein paar vergilbten Betriebsanleitungen (Staubsauger, UV–Lampe, Mixgerät, Fernseher) und einer verrutschten Postkarte aus den fünfziger Jahren, die ein Lappländerpaar in Tracht beim Rentiermelken abbildet (Renmjölkning), hat alles Persönliche und auch sämtliche Bücher, die er weggeschmissen hat, den Interessenten gefunden, der er selbst nicht war. Niedergeschlagen und mit dem Wissen, daß die Zusammenhänge nicht mehr herstellbar sein werden, setzt er sich auf die Vortreppe und ruft sich Einzelheiten der Briefe, die er gelesen hat, ins Gedächtnis zurück.
Philipp geht nur mit Widerstand in den Kindergarten.
Ihm offenbart sich nicht ganz, wieviel Realität diese Bemerkung für ihn noch besitzt, ob er mehr als dreißig Jahre später, während er den Satz wiederholt, den Widerstand aufgegeben hat und vorwärtskommt oder freiwillig geht oder gehen will oder nicht mehr gehen muß.
Er wartet, er weiß nicht worauf.
Gegen zehn kommt die Postbotin. Philipp küßt sie wie schon öfters und wieder im Blickschatten der Mauer. Dann fragt er sie (inspiriert von einem Roman Wilhelm Raabes), wie viele Kilometer sie von Berufs wegen pro Tag zurücklege.
— Etwa zehn, gibt sie zur Antwort.
Er sagt ihr, angestrengt rechnend, daß sie, anstatt die Erde zu umrunden, wofür sie bei zehn Kilometern pro Tag wenig mehr als zehn Jahre bräuchte (da wäre sie Ende dreißig): daß sie statt dessen am Fleck trete. Sie komme trotz der vielen Kilometer, die sie mit ihrem Postkarren zurücklege, aus Wien nicht hinaus, nicht einmal aus dem dreizehnten Bezirk. Sie überlegt einen Moment, verständnislos, dann sagt sie mit gleichgültiger Miene, daß ihr das egal sei, sie wolle lieber noch ein wenig schmusen statt reden. Als ob Philipp um des Redens willen geredet hätte. Sie küssen einander noch ein wenig . Aber das ist nichts, was Boden unter den Füßen hätte. Es überrascht Philipp, wie kalt ihn die Berührungen lassen, die ihm die Postbotin gestattet.
Betrug und Verrat sollen das letzte Auflodern und somit die letzte Hoffnung der Liebe sein. Heißt es. Aber Philipp kehrt ebenso niedergeschlagen zur Vortreppe zurück wie er sie verlassen hat. Blitze zucken, es beginnt zu regnen. Bald schüttet es nur so. Die Tropfen prasseln mit hoher Geschwindigkeit nieder, was sich akustisch am deutlichsten am kupfernen Vordach über der Haustür niederschlägt. Es knöchelt regelrecht. Der Kies am Vorplatz spritzt mit den Tropfen hoch. Ab und zu hört es ein wenig auf, aber nur kurz. Es dunstet stark ein. Alles grau in grau. Die grünen Bäume, die grünen Sträucher, die grünen Fensterläden. Grün und grau. Kein knallroter Mercedes, weil Steinwald und Atamanov in andere Geschäfte verwickelt sind. Kein Telefon. Keine Johanna. Nichts.
Vor lauter Zorn schnallt Philipp den Gürtel ein Loch enger und macht sich trotz des Regens an der Teppichstange zu schaffen, wo er den ersten Hüftumschwung zustande bringt, seit er sich um diese Kunst bemüht. Er probiert es gleich nochmals, weil er spürt, daß er gerade die nötige Faust für die Sache hat, rutscht von der regennassen Stange ab und fliegt mit Wucht zu Boden. Seine Lunge krampft sich zusammen, und während er mit aller verbliebenen Kraft das Kreuz wölbt und wartet, bis er wieder Luft bekommt, ermahnt er sich, ruhig zu bleiben und sich nicht an das Leben zu klammern. Er atmet wieder normal, oder beinahe. So liegt er eine Zeitlang im Gras, das Staubkorn im Auge unseres Herrn und Schöpfers, mit herausfordernder Hochnäsigkeit, die ihn vor dem Fluchen bewahrt. Der Regen klatscht ihm ins Gesicht (ein feiner Regen fällt auf ihn herab), und er spürt, wie an seinem Hinterkopf ein diffuser Schmerz und eine unangenehme Wärme rhythmisch an einer Beule arbeiten. Er will gar nicht hingreifen, aus Trotz, nicht aus Angst, aus reinem Trotz.
Doch als er wenig später in der Badewanne liegt, greift er doch hin und ist höchst überrascht, daß Blut die Haare verklebt.
— Himmelherrgott, was mir alles passiert.
Am Abend sitzt er mit einem Verband um den Kopf vor dem Fernseher und fühlt sich einigermaßen wohl. Steinwald und Atamanov kommen nach Hause. Philipp hat die beiden schon erwartet. Er hört, daß sie den Kühlschrank auffüllen, mehrmals die Treppe ins Obergeschoß hoch- und wieder heruntersteigen. Sie haben in den ehemaligen Kinderzimmern, die die kleinsten Zimmer des Hauses sind, ihre Quartiere genommen, wie um zu demonstrieren, daß sie den Ehrgeiz haben, möglichst wenig Platz zu brauchen; oder um Philipp beim Bewohnen des Hauses nicht mehr als unbedingt nötig zu helfen. Nach einiger Zeit klopft Steinwald an Philipps Tür. Er tritt ein und erkundigt sich, ob Philipp am Essen teilnehmen wolle. Nachdem Philipp zugesagt hat, bittet Steinwald, weiterhin mit der unbefangensten Miene von der Welt, Philipp möge, solange es regnet, keine Dinge in den Container werfen. Außerdem sei das Dach des Hauses undicht.
Philipp schaut vom Fernseher auf und fragt sich, was Steinwald noch alles einfallen wird, ehe er auf seinen (Philipps) bandagierten Kopf zu sprechen kommt. Steinwald fährt fort, Atamanov sei gerade am Dachboden gewesen, um den Cassettenrekorder zu holen, und habe dabei die bedauerliche Feststellung gemacht (Wasser dringt ein, ein König ist nichts neben einer Tatsache). Steinwald hebt entschuldigend die Arme.
— An mehreren Stellen.
— Schlechte Neuigkeiten für einen eingefleischten Müßiggänger wie mich.
Steinwald kratzt sich unterm Hut. Wie meistens trägt er auch jetzt seinen kleinen braunen Filzhut, unter dem die dunklen Locken hervorquellen.
Philipp sagt:
— Sie haben einen hübschen Hut, Steinwald. Er erinnert mich an den Hut des Polizisten in French Connection . Sie wissen doch, Gene Hackman, die Verfolgungsjagd, in der ein Straßenkreuzer einer hochtrassig geführten Stadtbahn nachjagt.
Steinwald preßt die Lippen aufeinander, für einen Augenblick ist das Rot fast verschwunden. Philipp glaubt, gleich kommt Steinwald auf das Thema des Kopfverbands zu sprechen. Aber nein. Als sei er überzeugt, daß Philipp lediglich Mitleid heischen wolle, und als glaube er obendrein, daß man am weitesten kommt, wenn man sich gegen Schmeicheleien taub stellt, ignoriert Steinwald Verband und Kompliment und sagt lediglich noch, geschäftsmäßig, bevor er geht, daß er und Atamanov nicht imstande seien, den Schaden am Dach zu beheben. Aber er könne, wenn Philipp es wünscht, bei Firmen, die verläßlich und nicht zu teuer sind, Angebote einholen und die Arbeit beaufsichtigen. Steinwald schaut Philipp unbefangen an, und Philipp, der nicht weiß, was er erwidern soll, brummt ein mürrisches Danke und wendet sich wieder dem Fernseher zu.
Bis zum Essen hat er noch eine Stunde Zeit, und wie schon die Tage zuvor achtet er dort, wo er beim ständigen Wechseln der Kanäle länger verweilt, genau auf das, was geredet und verlesen wird. Vielleicht, so sagt er sich, begegnet ihm irgendwo ein Satz, den er Johanna gegenüber verwenden oder der ihm in einem anderen Zusammenhang nützlich sein kann, Steinwald und Atamanov gegenüber, im Gespräch mit der Postbotin, in Betrachtung eines der Fotos, die im Schlafzimmer der Großmutter über der Frisierkommode hängen. Er braucht sehr viele Sätze.
Ich bin noch zu klein für deine Gute-Nacht-Geschichten. Es wird etwas förmlich, ziehen Sie etwas Dunkles an. Warum hast du das nicht gleich gesagt? Da kann man nicht so einen Clown reinlassen. Auch für die Pipi-Sätzchen drängen junge Kollegen nach, und peu à peu werden auch die Solohuster abnehmen. Aber es reicht, Edda, Schluß mit dem Herumgeseiere, reiß dich zusammen! Guten Abend, Johanna sagt uns, wie das Wetter wird. Er braucht dringend einen Arzt! Lassen Sie mich durch! Wenn du jetzt nicht gehst, werfe ich dich hinaus, und wenn mir das nicht gelingt, hole ich jemanden, der mir hilft. Morgen muß ich wieder zurück und habe noch gar kein Gefühl dafür. Wer gewinnt? Keiner, die eine Seite verliert nur langsamer als die andere. Das ist genau das richtige Wort. Ich möchte nicht um jedes Paar Strümpfe bitten müssen. Augenblickmal, das ist von nun an deine Geschichte, nicht mehr die unsere. Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Leg dich schlafen, dann geht das vorbei. Alles verlockt zur Trägheit. Regenwahrscheinlichkeit 60 Prozent. Wind aus nordwestlicher Richtung. It’s a crying shame. Man sagt zwar, es kämen opernhafte Stellen darin vor, aber das ist spitzfindig.
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