An dem Tag, an dem die Verhandlungen um den Staatsvertrag zum Abschluß gekommen waren und Ingrid erst um elf Uhr zu Hause eintraf, weil sie mit Peter im Magazin geschlafen und sich vertrödelt hatte, rechnete sie mit einem Riesenwickel. Wegen der Zahnschmerzen ihres Vaters, die so akut geworden waren, daß sogar Sehstörungen auftraten, fiel aber niemandem etwas auf.
In der Früh sagte Ingrid:
— Das muß ich alles verschlafen haben.
Und ihr Vater sagte:
— Deinen Schlaf hätte ich gerne.
Zwischendurch muß Ingrid aufs Klo, und großen Durst hat sie auch. Da sieht sie Philipp mit seinem Matchbox-Traktor auf dem oberen Treppenabsatz sitzen und vor sich hinstarren. Er tut ihr leid, und sie hat ein schlechtes Gewissen, so daß sie die Ohrenstöpsel herausnimmt, sich anzieht und den Rest der Familie zusammentrommelt. Wer Lust habe, sich auszulüften, solle bis in fünf Minuten gerichtet sein.
Sissi grantelt herum, kommt aber mit.
Peter macht keine Anstalten, was Ingrid nicht im mindesten erstaunt. Er argumentiert mit seinem Knöchel, den er sich Heiligabend verstaucht hat, als er mit den Rollschuhen, die Sissi vom Christkind bekommen hat, im Vorzimmer gestürzt ist. Wenigstens ist immer etwas los.
— Einverstanden, entschuldigt.
Obwohl: Der soll sich nicht so anstellen. Wenn er nicht spazierengehen kann, soll er mit den Kindern wieder einmal eine Runde mit den öffentlichen Verkehrsmitteln drehen, was sich ja auch großer Beliebtheit erfreut.
Kurzes Nachfragen.
Kurze Antwort:
— Jetzt bist du ja schon angezogen.
Der Herr Kellerbewohner. Er weiß gar nicht, was er wegschmeißt, wenn er diese Zeit mit seinen Kindern versäumt.
Ingrid spannt die Gummis am Ende von Philipps Overall-Hosenbeinen über die Sohlen seiner Stiefel, zieht die Schnur, an denen die Fäustlinge hängen, durch die Ärmel des Oberteils, zieht Philipp die Pudelmütze über den Kopf. Sie legt den Hund an die Leine und gibt Peter einen Kuß auf die Wange. Peter hält ihr auch die andere Wange hin, so daß sie ihm vor den Kindern ein zweites Bussi geben muß. Darauf soll es ihr nicht ankommen. Peter verspricht, die Silvestertelefonate zu erledigen und im Kohlenkeller etwas Ordnung zu schaffen. Ingrid ist überzeugt, daß er, drei Minuten nachdem sie gegangen sind, vorm Fernseher sitzen wird. Bestimmt gibt es irgendwo Sport, dann kann er sich dafür entschädigen, daß ihn seine Kinder, wie er unlängst jammerte, seinen Fernseher nur nutzen lassen, wenn es ihnen paßt. Der Ärmste. Kann einem richtig leid tun. Lauter Menschen, die ihn nur brauchen, wenn er das Geldbörserl offen hat.
— Türkenschanzpark oder Schönbrunn? fragt Ingrid.
— Schönbrunn, tönt es einhellig.
Auch Ingrid ist Schönbrunn lieber, weil dort die Wege besser geräumt sind und das Gehen leichter fällt. Sie packt Kinder und Hund in den Wagen, wechselt zwei Sätze mit der Nachbarin, die das Tischtuch zum Fenster hinausschüttelt — auch jemand, der Angst hat, daß die Ehe krachen geht; ihr Mann zieht dem Hörensagen nach die Unterhosen seines verstorbenen Vaters an, was allerdings bitter ist —.
Und los geht’s.
Eigentümlich geduckt sind die Gebäude von Schönbrunn diesmal hingestellt, dick und voll. Das Gelb der Fassaden wirkt gebleicht vom niedergedrückten Schornsteinrauch, nach dem die Luft schmeckt. Die Alleen sind fast menschenleer, die Hecken aufgepackt mit Schneehauben, und die kahlen, schmutzigen Laubbäume stehen hart gezeichnet im weißgrauen Licht, Krähen im Geäst, schwarze Päckchen, wie vom Christkind hineingeworfen. Die Luft ist kalt. Am Himmel treiben graue Wolken, und Philipp, der seinen Bob nicht zu Hause lassen wollte, zieht ihn quietschend über den Rollsplitt und das steifgefrorene Laub im hartgetretenen Schnee. Manchmal läuft Philipp voran, er schaukelt in seinem dick wattierten Overall mit den armsteifen Bewegungen eines Pinguins. Er blickt unablässig umher. Man hört Böllerschießen und Musik aus der Gegend des Tiergartens oder des Platzls, Geräusche, die rasch verhallen über dem Schnee, als kämen sie von weiter weg. Eine wunderbare Stimmung, findet Ingrid. Sie genießt es und sagt sich: Wenn das neue Jahr so schön wird wie dieser Nachmittag, wäre es die reinste Freude. Wer weiß, vielleicht frißt das Schwein des Glücks die schlechten Vorzeichen noch einmal weg.
Sissi läßt sich von Cara kreuz und quer über die Gehwege zerren, und Ingrid hat Zeit zum Sinnieren. Nur leider kommt sie auf keinen grünen Zweig, jedenfalls nicht dort, wo sie darauf aus ist, die momentane Situation zu verbessern. Sie hat einfach zu spät eingesehen, daß es blöd ist, immer die perfekte Ehefrau abgeben zu wollen. Statt sich die damit verbundenen Plackereien mit Küssen und Rosen aufwiegen zu lassen, hätte sie ihren Mann besser rechtzeitig zum Mithelfen erzogen, etwas, wofür er jetzt nicht mehr zu gewinnen ist. Er putzt sich ab nach dem Motto, einmal die Dumme, immer die Dumme. Ingrid bestreitet nicht, daß sie sich das teilweise selbst anlasten muß, weil sie Peters Bequemlichkeit zuerst gefördert und dann nicht energisch genug unterbunden hat. Wobei (das ist alles sehr kompliziert) ihr ohnehin kein Beispiel einfällt, das Peters Fähigkeit belegen würde, in Beziehungskonflikten etwas sowohl zu verstehen als auch Konsequenzen daraus zu ziehen. Da dürfte bereits seine Mutter in der Erziehung das eine oder andere falsch gemacht haben.
Und das ist wieder typisch für sie: Kaum hat Ingrid einen wunden Punkt an Peter aufgedeckt, empfindet sie Mitleid mit ihm. Der Tod von Frau Grauböck in der Nacht fällt ihr ein (seltsam, daß sie es zwischendurch immer wieder vergißt) und daß Peter, als seine Mutter starb, erst fünfzehn war, im Krieg, das frühe Kriegspielen, das dürfte sich bei ihm ebenfalls negativ eingeschrieben haben, auch wenn der vierzigjährige Mann und der Bub von damals schwer zusammenzubringen sind, wo genau und worin sie sich treffen und was schon davor angelegt war und was erst hinterher dazugekommen ist. Das Davor und Danach vernachlässigt man meist. Krieg ist leichter, und noch leichter ist Krieg und Kindheit, obwohl keiner in Krieg und Kindheit steckengeblieben ist. An ihrer eigenen Person kann sie wenig erkennen, von dem sie überzeugt ist, daß es ohne Krieg anders geworden wäre. Bei Peter hingegen? Da führt der Komplex geradewegs in ihrer beider Eheschlamassel, jedenfalls, wenn Ingrid es beim Nachdenken bequem haben will. Dann sieht sie den kleinen Peter, wie er seinen verwundeten Arm hält, wie ihm die Rotzglocke von der Nase hängt, wie er sich sagt (sie glaubt es): Alle sind gegen mich, die einen schießen auf mich, und die andern lassen mich im Stich, allen voran die Familie.
Ein dunkelbraunes Eichkätzchen mit weißem Brustfleck taucht am Weg auf, bleibt stehen, hebt den Kopf und schaut dem heranwackelnden Philipp entgegen. Das Eichkätzchen scheint für einen Moment zu überlegen, welche Richtung es nehmen soll. Dann kracht ein Böller über den hoch ummauerten Flächen, und das Eichkätzchen springt in eine dichte Hecke. Philipp läuft zu der Stelle, wo das Tier verschwunden ist, schaut hinein, und Sissi gibt ihm einen Stoß gegen das Hinterteil, so daß er kopfüber in die Hecke fällt. Sehr hoppadatschig . Ingrid weist Sissi zurecht. Philipp rast hinter seiner lachenden Schwester her wie Mord und Brand. Die ist ihm nicht zu groß zum Raufen. Er schreit:
— Du blödes Viech.
Doch da Philipp darüber das Weinen vergißt, kann auch Ingrid über die Situation lachen. Am liebsten würde sie Sissi den Rat geben, sich diese Art für ihre späteren Männer zu bewahren.
Kurz darauf übernimmt Ingrid das Ziehen des Bobs, weil Philipp allmählich die Puste ausgeht. Na bitte, da ist die Welt für ihn wieder heil.
— Du bist die beste Mama, keucht er, schon wieder unbekümmert (das ist ein guter Zug an ihm). Ein blinkendes Tröpfchen hängt an seinem Nasensteg, es scheint ihn aber nicht zu stören. Ingrid hält ihn am Nacken fest, putzt ihm die Nase. Sie denkt: Das einzig Gute, was dabei herausgekommen ist, sind die Kinder.
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