»Erzählen Sie mir von Gott«, sagte Michael.
16
In den leeren Stunden vor Tagesanbruch hatte Michael an der Existenz Gottes zu zweifeln begonnen, spielerisch zuerst, allmählich aber mit quälender Verzweiflung. Er warf sich hin und her, bis die Bettücher heillos durcheinandergeraten waren, und starrte in die Dunkelheit. Von Kindheit an hatte er gebetet. Jetzt fragte er sich, an wen seine Gebete sich wandten. Wie, wenn er nur zu der summenden Stille der schlafenden Wohnung betete, seine Wünsche und Ängste über Millionen Meilen ins Nichts sandte, oder seinen Dank einer Macht darbrachte, die nicht mächtiger war als die Katzen, deren Krallenwetzen am Pfahl für die Wäscheleine er aus dem Durchgang unter seinem Fenster hören konnte?
Die Beharrlichkeit seiner Fragen, die ihn schlaflos machten, hatte ihn schließlich zu Max Gross getrieben; und nun kämpfte er erbittert mit dem Rabbi und haßte ihn für seine ruhige Sicherheit. An dem verschrammten Tisch saßen sie einander gegenüber, ein Glas Tee nach dem andern leerend, im Bewußtsein des bevorstehenden Kampfes.
»Was wollen Sie also wissen?«
»Woher nehmen Sie die Gewißheit, daß der Mensch Gott nicht nur erfunden hat, weil er Angst hatte - Angst vor der Dunkelheit, vor der scheußlichen Kälte-, weil er irgend etwas gebraucht hat, was ihn schützt, sei es auch nur seine eigene dumme Einbildung?«
»Warum glauben Sie, daß es sich so abgespielt hat?« fragte Max ruhig.
»Ich weiß nicht, wie es sich abgespielt hat. Aber ich weiß, daß es seit mehr als einer Billion von Jahren Leben auf der Erde gibt. Und immer, in jeder primitiven Kultur, hat es auch etwas gegeben, zu dem man beten konnte: eine dreckbeschmierte Holzskulptur, oder die Sonne, oder einen riesigen steinernen Phallus.«
»Wos haßßt Phallus?«
»Potz.«
»Aha.« Einem Mann, der mit der Stimme des Label von Worka zu diskutieren gewohnt war, konnte das keine Schwierigkeit bereiten.
»Und wer hat die Menschen gemacht, die das schamlose Idol verehrten? Wer hat das Leben geschaffen?«
Ein Physikstudent von der Columbia konnte darauf leicht Antwort geben. »Der Russe Oparin meint, das Leben könnte mit der zufälligen Entstehung von Kohlenstoffverbindungen begonnen haben.« Er sah Gross an, in der Erwartung, in seinem Gesicht die Langeweile des Laien zu lesen, der in eine wissenschaftliche Diskussion gezogen wird - aber er las darin nichts als Interesse.
»Am Anfang enthielt die Erdatmosphäre keinen Sauerstoff, dafür große Mengen von Methan, Ammoniak und Wasserdampf. Oparin nimmt nun an, daß durch die elektrische Energie von Blitzen aus diesen Gasen synthetische Aminoacide entstanden, das Material alles Lebendigen. Dann entwickelten sich in den Tümpeln der Urzeit Millionen Jahre hindurch organische Zellen, und aus ihnen entstanden durch die natürliche Auslese immer kompliziertere Lebewesen - solche, die kriechen, solche, die Schwimmhäute haben
- und auch solche, die Gott erfunden haben. « Er sah Rabbi Gross herausfordernd an. »Verstehen Sie, wovon ich rede?«
»Ich verstehe genug.« Er strich sich den Bart. »Nehmen wir an, es war so. Dann habe ich eine Frage: Wer hat das - wie haben Sie gesagt? -ja, das Methan und den Ammoniak und das Wasser gemacht? Und wer hat den Blitz gesandt? Und woher ist die Welt gekommen, in der sich dieses Wunder ereignen konnte?«
Michael schwieg.
Gross lächelte. »Oparin hin oder her«, sagte er leise, »glauben Sie denn wirklich nicht an Gott?«
»Wahrscheinlich bin ich Agnostiker geworden.«
»Was ist das?«
»Einer, der nicht sicher ist, ob es Gott gibt oder nicht.«
»Nein, nein, dann sagen Sie lieber, Sie sind ein Atheist. Denn wie kann ein Mensch je sicher sein, daß es Gott gibt? Nach Ihrer Definition wären wir alle Agnostiker. Glauben Sie denn, ich habe wissenschaftliche Beweise für die Existenz Gottes? Kann ich zurückgehen zum Anfang der Zeit und hören, wie Gott zu Isaak spricht oder die Gebote gibt? Wenn das möglich wäre, dann gäbe es nur eine Religion auf Erden; wir wüßten genau, welche die richtige ist.
Nun ist der Mensch aber so beschaffen, daß er Partei ergreifen muß.
Ein Mensch muß sich entscheiden. Ober Gott wissen wir nichts -
Sie nicht und ich nicht. Aber ich habe mich für Gott entschieden.
Sie haben sich gegen Ihn entschieden.«
»Ich habe mich überhaupt nicht entschieden«, sagte Michael eigensinnig. »Deshalb komme ich ja zu Ihnen. Ich möchte mit Ihnen studieren.«
Rabbi Gross strich mit der Hand über den Bücherstoß auf seinem Tisch. »Da drinnen sind viele große Gedanken enthalten«, sagte er.
»Aber sie geben Ihnen keine Antwort auf Ihre Frage. Sie können Ihnen nicht helfen, Ihre Entscheidung zu finden. Zuerst müssen Sie sich entscheiden. Dann können wir studieren.« »Gleichgültig, wie ich mich entscheide? Nehmen wir einmal an, ich entscheide mich dafür, Gott für ein Märchen zu halten, für eine bobe-majsse?«
»Ganz gleichgültig, wie Sie sich entscheiden.«
Draußen auf dem dunklen Korridor wandte sich Michael nochmals um und sah zurück nach der geschlossenen Tür der schul .
Gottverdammter Kerl, dachte er. Dann lächelte er trotz allem über das Wort, das ihm in den Sinn gekommen war.
17
Michaels Schwester Ruthie verwandelte sich in jener Zeit so gründlich, daß es ihm nicht länger möglich war, mit ihr zu streiten.
Ihr nächtliches, vom Kissen gedämpftes Weinen wurde zu einem gewohnten Geräusch, fast nicht mehr bemerkt, wie das Summen des Eiskastenmotors. Die Eltern versuchten es mit allen möglichen Angeboten - von Schiurlauben, die sie finanzierten, über psychiatrische Hilfe bis zu, gutaussehenden Söhnen und Neffen von Freunden -, aber das alles half nichts. Schließlich schickte Abe Kind einen Scheck und einen langen Brief nach Tikveh le'Machar, Palästina, und sechs Wochen später betrat Saul Moreh die Werbetextabteilung des Columbia Broadcasting System, mit dem Effekt, daß Ruthie aufsprang, einen Schrei ausstieß und allen Ernstes ohnmächtig wurde. Zur Enttäuschung der Familie stellte sich heraus, daß Saul für sie durchaus ein Fremder war; er war kleiner, als sie ihn sich nach den Bildern vorgestellt hatten, und wirkte sehr britisch mit seiner Briar-Pfeife, seinem Tweedanzug, seinem Akzent und seinen Diplomen von der Londoner Universität.
Aber mit der Zeit gewöhnten sie sich an ihn und konnten ihn ganz gut leiden. Ruth erwachte aus ihrer Lethargie und blühte auf. Schon am zweiten Tag nach Sauls Ankunft in New York teilten sie der Familie mit, daß sie heiraten wollten. Es kam für sie nicht in Frage, in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Deutsche Juden, die die Flucht bewerkstelligen konnten, fanden ihren Weg nach Palästina.
Ein Zionist dürfe erez-jissro'ejl jetzt nicht im Stich lassen, sagte Saul; in drei Wochen würden sie in den kibbuz in der Wüste zurückkehren.
»Eine typisch amerikanische Aufstiegs-Story«, sagte Abe. »Ich arbeite schwer mein Leben lang, ich spare mein Geld, und in meinen mittleren Jahren kaufe ich meiner Tochter einen Bauern.«
Er überließ ihnen die Entscheidung zwischen einer großen Hochzeit oder einer chupe im Familienkreis und dreitausend Dollar als Basis für ihren Hausstand in Palästina. Saul wies das Geld mit sichtbarer Genugtuung zurück. »Was wir brauchen, werden wir vom kibbuz bekommen. Was wir haben, wird dem kibbuz gehören. Also bitte, behalte deine Dollar.« Er hätte die chupe einer formellen Zeremonie vorgezogen, aber Ruthie setzte ihren Willen durch und ließ ihren Vater eine Hochzeit im Waldorf bestellen, im kleinen Kreis, aber hochelegant: ein letztes Schwelgen im Luxus. Der Spaß kostete zweitausendvierhundert Dollar, und Saul fand sich schließlich bereit, die verbleibenden sechshundert für den kibbuz anzunehmen.
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