Aber Max war nicht nur ein Wunder, sondern auch ein Kind, und er genoß die Feste mit kindlicher Freude. Am Abend eines jeden Feiertags versammelten sich die Chassidim zu festlichem Mahl. Die Tische bogen sich unter Schüsseln voll nahit, Tellern voll Kuchen und kuglen und vielen Flaschen Schnaps. Die Frauen, als mindere Geschöpfe, nahmen an diesen Festen nicht teil. Die Männer aßen mäßig und tranken reichlich. Eingedenk der Lehre, daß alles Böse nur durch Freude, nicht aber durch Kümmernis überwunden werden kann, und sicher in dem Glauben, daß die Ekstase sie näher zu Gott brächte, öffneten sie ihre Herzen der Fröhlichkeit. Bald erhob sich einer der bärtigen Chassidim und winkte einem Gefährten. Sie legten einander die Hände auf die Schultern und begannen zu tanzen. Andere fanden sich zusammen, und bald war der Raum voll mit tanzenden bärtigen Paaren. Der Takt war schnell und sieghaft. Sie hatten keine Musik als ihren eigenen Gesang, der unaufhörlich ein und denselben Bibelvers wiederholte. Dann gab wohl einer der Männer Max im Scherz einen Schluck von dem feurigen Schnaps zu trinken, und einer, manchmal sogar der Rabbi selbst, holte den kleinen Jungen zum Tanz. Mit leichtem Kopf und unsicheren Füßen, herumgewirbelt von großen Händen, die ihn an den Schultern faßten, drehte sich Max in atemloser Lust durch den Raum, seine kleinen Füße flogen über den Boden und ahmten das Stampfen der Erwachsenen nach, während die tiefen Stimmen der bärtigen Männer den rhythmisch sich wiederholenden Chor summten: »W'tah-hair libanu l'awd'scho be-emess. - Mach rein unsre Herzen, auf daß sie Dir dienen in Wahrheit.«
Schon lange vor seiner bar-mizwe war Max zu einer Legende geworden. Tiefer und mit zunehmender Geschicklichkeit tauchte er in das unendliche Meer des Talmud, und immer häufiger geschah es, daß er am Tisch des Rabbi mit einem erlesenen Bissen ausgezeichnet wurde, oder daß seines Vaters Freunde ihn auf der Straße anhielten, um ihm den Rücken zu tätscheln oder seinen Kopf zu berühren. Als er acht Jahre alt war, nahm ihn sein Vater aus dem chejder, der Schule, die alle Jungen besuchten, und übergab ihn zur persönlichen Unterweisung dem Reb Yankel Cohen, einem tuberkulösen Gelehrten mit krankhaft glänzenden Augen. Für Max war es fast so, als studierte er allein. Er rezitierte Stunden und Stunden, während der hagere Mann neben ihm saß und ohne Ende in ein großes Tuch hustete. Sie redeten nicht miteinander.
Wenn Max sich mit müder Stimme in falsche Philosophie oder fehlerhafte Interpretationen verirrte, krallten sich die dürren Finger des Lehrers wie Zangen in seinen Arm; die blauroten Flecken waren noch eine Weile nach Reb Yankels Begräbnis sichtbar. Vier Monate vor seinem Tod teilte der Lehrer Chaim Gross mit, er habe den Zehnjährigen alles gelehrt, was er wisse. Von da an ging Max bis zu seiner bar-mizwe allmorgendlich in das Lehrhaus der Gemeinde, wo er mit anderen, oft mit graubärtigen Männern, jeden Tag einen anderen Abschnitt des Gesetzes studierte und hitzige Diskussionen über die Auslegungen führte. Nachdem er mit Dreizehn als Mann in die Gemeinde aufgenommen worden war, übernahm Rabbi Label persönlich die Verantwortung für die weitere Erziehung des Wunderkindes. Das war eine einzigartige Auszeichnung. Im Hause des Rabbi gab es außer Max nur noch einen einzigen Schüler; und das war der Schwiergersohn des Rabbi, ein zweiundzwanzigjähriger Mann, der auf ein Rabbinat wartete.
Chaim Gross dankte Gott täglich dafür, daß er ihn mit diesem Sohn gesegnet hatte. Maxens Zukunft war gesichert. Er würde Rabbiner werden und dank seiner glänzenden Gaben eine Schule um sich versammeln, die ihm Reichtum, Ehre und Ruhm bringen würde. Er, der Sohn eines Weinhändlers! Über diesen Träumen von seines Sohnes Zukunft verschied Chaim Gross eines Winterabends lächelnd an einem Herzschlag.
Max zweifelte nicht an Gott, weil dieser ihm seinen Vater genommen hatte. Aber als er auf dem kleinen jüdischen Friedhof an dem offenen Grab stand und kadisch sagte, spürte er zum erstenmal in seinem Leben, wie schneidend der Wind und wie bitter die Kälte war.
Auf Rabbi Labels Rat stellte er für den Weinhandel einen polnischen Geschäftsführer namens Stanislaus an. Einmal in der Woche kontrollierte er oberflächlich die Bücher, um Stanislaus'
Diebereien in erträglichem Ausmaß zu halten. Der Weinhandel brachte ihm weit weniger Geld ein, als sein Vater damit verdient hatte, aber immerhin konnte er sein ganz dem Studium ergebenes Leben fortsetzen wie bisher.
Als er zwanzig Jahre alt war und nach einem Rabbinat und einer passenden Frau Ausschau zu halten begann, brachen schwere Zeiten über Polen herein. Der Sommer war in diesem Jahr mörderisch heiß und trocken gewesen. Der Weizen verbrannte auf den Feldern, die Halme knickten im Wind, statt sich geschmeidig zu beugen. Die wenigen Zuckerrüben, die in diesem Herbst geerntet wurden, waren weich und runzlig und die Kartoffeln klein und bitter. Mit dem ersten Schnee drängten sich die Bauern zu den Spinnereien, den Glas- und Papierfabriken und überboten einander an Bereitwilligkeit, für immer niedrigeren Lohn zu arbeiten. Bald wurde jeder Schichtwechsel zu einem erbitterten Kampf, die Hungrigen rotteten sich auf den Straßen und Plätzen zusammen und lauschten finster blickenden Männern, die bei ihren Reden drohend die Faust erhoben.
Anfangs wurden nur wenige Juden verprügelt. Bald aber gab es regelrechte Überfälle auf die Gettos; wenn sie die Männer niederschlugen, die den Erlöser getötet hatten, vergaßen die Polen in der Erregung des Augenblicks das Hungergeschrei ihrer Kinder.
Stanislaus erkannte bald, wie schwierig es für ihn als Geschäftsführer einer jüdischen Weinhandlung sein würde, den plündernden Mob davon zu überzeugen, daß er kein Jude sei. Eines Nachmittags machte er sich aus dem Staub, ohne auch nur den Laden abzusperren, und nahm, statt eine Nachricht zu hinterlassen, die Wochenlosung mit. Er hatte gerade noch rechtzeitig die Flucht ergriffen. Am Abend darauf drang eine lachende, betrunkene Menge in das Getto von Worka ein. In den Straßen flog Blut wie Wein; im Laden des verstorbenen Chaim Gross vergossen sie Wein wie Blut.
Was sie nicht trinken oder mitnehmen konnten, wurde verschüttet oder zerschlagen. Am nächsten Tag, während die Juden ihre Wunden verbanden und ihre Toten begruben, stellte Max fest, daß der Laden ruiniert war. Er nahm den Verlust mit einem Gefühl der Erleichterung zur Kenntnis. Seine wirkliche Arbeit war Dienst an seinem Volk und an Gott. Er half dem Rabbi bei vier Begräbnissen und betete mit seinen Brüdern um die Hilfe Gottes.
Nach der Katastrophe unterstützte ihn Rabbi Label zwei Monate lang. Max war nun so weit, daß er ein eigenes Rabbinat übernehmen konnte. Aber als er sich nach einer Gemeinde umzusehen begann, stellte sich heraus, daß unter den Juden in Polen kein Bedarf nach neuen Rabbinern bestand. Zu Zehntausenden verließen sie das Land; England oder die Vereinigten Staaten waren die häufigsten Reiseziele.
Rabbi Label bemühte sich, seine Besorgnis nicht zu zeigen. »Dann wirst du eben mein Sohn sein und wirst essen, was wir essen. Es kommen auch wieder bessere Zeiten.«
Max aber sah, daß von Tag zu Tag eine größere Zahl von Juden die Stadt verließ. Wer sollte ihnen helfen, in einer fremden Umgebung Gott zu finden? Als er Rabbi Label fragte, hob der Lehrer hilflos die Schultern.
Aber der Schüler wußte bereits die Antwort.
Er traf im August in New York ein, während einer Hitzewelle, und er trug seinen langen schweren Kaftan und einen runden schwarzen Hut. Zwei Tage und zwei Nächte verbrachte er in der Zwei-Zimmer-Wohnung von Simon und Buni Wilensky, die sechs Wochen vor ihm mit ihren drei Kindern Worka verlassen hatten.
Wilensky arbeitete in einer Fabrik, die kleine amerikanische Flaggen erzeugte. Er war Weißnäher. Voll Zuversicht versicherte er Max, daß auch Buni, wenn sie nur erst zu weinen aufhörte, Amerika lieben würde. Max hörte Bunis Weinen zwei Tage lang, spürte zwei Tage lang den Geruch der Wilensky-Kinder. Als er es nicht mehr ertragen konnte, verließ er die Wohnung und durchstreifte ziellos die East Side, bis er zu einer Synagoge kam. Der Rabbi hörte ihm zu, setzte ihn dann in ein Taxi und fuhr mit ihm zur Vereinigung Orthodoxer Rabbiner. Im Augenblick sei keine Gemeinde vakant, sagte ihm ein mitfühlender orthodoxer Kollege. Aber Kantoren für die hohen Feiertage würden sehr gesucht. Ob er ein chasn sei, ein Kantor? In diesem Fall könnten sie ihn zu der Gemeinde Beth Israel in Bayonne, New Jersey, schicken. Die schul sei bereit, fünfundsiebzig Dollar zu zahlen.
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