»Fertig! « rief sie fröhlich und ging nackt hinüber ins Schlafzimmer, das Stella im selben Augenblick verließ. Michael verstand plötzlich, daß die präzise Ausführung dieser Szene das Resultat langer, auf vielen ähnlichen Parties erworbener Übung war. Der Personenwechsel erregte ihn von neuem. Als aber die kleine, dickliche Stella zu ihm kam, berührte er eine teigige Haut, und was ihn einhüllte, war ein Geruch nicht nach Frau, sondern nach ungewaschenem Körper; plötzlich spürte er, daß er nicht mehr konnte.
»Wart einen Augenblick«, sagte er. Seine Kleider lagen hingeworfen auf dem Teppich am Fußende der Couch. Er hob sie auf und ging behutsam durch die dunkle Wohnung bis ins Vorzimmer; dort zog er sich eilig an und nahm sich nicht einmal mehr die Zeit, seine Schuhbänder zu knüpfen.
»Hey! « rief ihm das Mädchen nach, als er die Wohnung verließ. Er fuhr im Aufzug hinunter und kehrte dem Haus eilig den Rücken. Es war zwei Uhr morgens. Erst nach einem Fußmarsch von einer halben Stunde fand er ein Taxi und stieg ein, obwohl er da nur mehr zwei Straßen von seiner Wohnung entfernt war.
Zum Glück schliefen seine Eltern, als er nach Hause kam. Im Badezimmer putzte er sich ausführlich die Zähne und duschte sehr heiß und mit großem Seifenverbrauch.
Ihm war nicht nach Schlafen zumute. In Pyjama und Schlafrock schlich er aus der Wohnung und stieg leise wie ein Dieb die Dachstiege hinauf.
Auf Zehenspitzen, um die Waxmans nicht zu wecken, die die Mansarde bewohnten, betrat er das Dach und setzte sich hin, den Rücken an den Schornstein gelehnt.
Der Wind schmeckte nach Frühling. Der Himmel war übersät mit Sternen, und Michael lehnte den Kopf zurück und betrachtete sie, bis der Wind seine Augen tränen machte und die weißen Lichtpunkte vor seinem Blick zu kreisen und zu verschwimmen begannen. Das konnte nicht alles sein, dachte er. Maury hatte die Mädchen Ferkel genannt, aber wenn man es so betrachten wollte, dann hatten auch Maury und er sich wie Ferkel benommen. Er gelobte sich, daß es nie wieder Sex ohne Liebe für ihn geben sollte. Die Sterne waren ungewöhnlich hell. Er rauchte und beobachtete sie und versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl aussahen ohne die Konkurrenz der Lichter einer Stadt. Was hielt sie dort oben, fragte er sich, und dann kam automatisch die Antwort: vage Erinnerungen an Masseanziehung, Schwerkraft, erstes und zweites Newtonsches Gesetz. Aber da gab es so viele tausende Sterne, ausgestreut über so unendliche Räume, und sie zogen so beständig ihre Bahn und bewegten sich so präzis wie Teile eines riesigen, großartig konstruierten Uhrwerks. Die Gesetze aus dem Lehrbuch reichten nicht aus, es mußte noch etwas geben, sonst, meinte Michael, wäre diese herrlich ineinandergreifende Vielfalt für ihn sinnlos und ohne Gefühl, wie Sex ohne Liebe. Er entzündete eine neue Zigarette an der abgerauchten und warf den noch glühenden Stummel über den Dachrand. Er fiel wie eine Sternschnuppe, aber Michael merkte es nicht.
Den Kopf zurückgeneigt, stand er da und sah auf zum Himmel und versuchte, etwas zu erkennen, fern, jenseits der Sterne.
Als er am Nachmittag dieses Tages die Shaarai-Shomayim-Syn a goge betrat, saß ein alter Mann bei Max Gross an dem mit Büchern bedeckten Tisch und sprach leise mit dem Rabbi. Michael setzte sich in einen der hölzernen Klappstühle in der letzten Reihe und wartete geduldig, bis der Alte sich mühsam und mit einem Seufzer erhob, die Schulter des Rabbi berührte und die schul verließ. Dann trat Michael an den Tisch. Rabbi Gross musterte ihn prüfend. »Nun?« sagte er. Michael sagte nichts. Der Rabbi sah ihn lange an. Dann nickte er befriedigt.
»Nun.« Er wählte zwei Bücher aus den vielen auf seinem Tisch, eine g'mara und Raschis Kommentar zum Pentateuch. »Jetzt können wir anfangen«, sagte er freundlich.
18
Fünf Monate lang hielt Michael sein Keuschheitsgelübde. Dann besuchte er mit Maury eine bar-mizwe in Hartford - die bar-mizwe des Sohnes der Schwester von Maurys Schwager - und lernte dort die Schwester des Konfirmanden kennen, ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen mit durchsichtiger weißer Haut und schöngeformten, leicht vibrierenden Nasenflügeln. Sie tanzten miteinander, und Michael merkte, daß ihr Haar süß und sauber roch, wie frisch gewaschene Wäsche, die in der Sonne trocknet. Zu zweit verließen sie das Haus und fuhren in Maurys Plymouth ein Stück weit über Wilbur Cross Parkway und dann eine Landstraße hinaus. Michael parkte unter einem riesigen Kastanienbaum, dessen unterste Äste das Wagendach berührten, und sie küßten einander lange, bevor es ohne Vorsatz oder Plan geschah.
Nachher, bei einer gemeinsamen Zigarette, erzählte er ihr, daß er ein sich selbst gegebenes Versprechen gebrochen hatte, das Versprechen, dies nie mehr zu tun, außer mit einem Mädchen, das er liebte. Er hatte erwartet, daß sie lachen werde, aber anscheinend fand sie die Sache eher traurig. »Ist das dein Ernst?« fragte sie. »Wirklich?«
»Wirklich. Und ich liebe dich nicht. Wie sollte ich auch?« fügte er eilig hinzu. »Schließlich kenne ich dich kaum.«
»Ich liebe dich auch nicht. Aber ich mag dich sehr«, sagte sie. »Reicht das nicht?«
Sie fanden beide, dies sei wenigstens das zweitbeste.
In diesem Sommer, dem Sommer nach seinem ersten Universitätsjahr, arbeitete er als Hilfskraft in einem Laboratorium auf dem Campus, wusch Retorten und Eprouvetten, reinigte und verwahrte Mikroskope und bereitete das Material für Experimente vor, deren Zweck und deren Resultate er nie erfuhr. Mindestens dreimal in der Woche studierte er mit Rabbi Gross. Abe fragte ihn eifrig aus, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. »Na, was hört sich vom Einstein?«
Aus Michaels Antworten sprach nur allzu deutlich seine geringe Begeisterung, seine enttäuschte Interesselosigkeit gegenüber der Physik und den Naturwissenschaften im allgemeinen. Manchmal hatte er dabei auch das Gefühl, daß sein Vater ihm etwas sagen wolle, doch Abe hörte jedesmal auf, noch ehe er begonnen hatte, und Michael drängte ihn nicht. Schließlich fuhren sie auf Abes Anregung an einem Sonntagmorgen zwei Wochen vor Beginn des neuen Semesters nach Sheepshead Bay, mieteten dort ein Boot und kauften eine Schuhschachtel voll schon ziemlich verrottet aussehender Meer-Ringelwürmer. Michael ruderte so weit hinaus, wie es seinem Vater nötig schien, dann warfen sie ihre Köder aus, an denen die Flundern nicht einmal knabberten - was Abes Wunsch, zu reden, durchaus entgegenkam.
»Und was wird nächstes Jahr um die Zeit sein?«
Michael öffnete zwei Flaschen Bier und reichte die eine seinem Vater. Das Bier war nicht sehr kalt, und der Schaum quoll über. »Was soll schon sein, Pop - und mit wem?«
»Mit dir natürlich, mit wem sonst.« Er sah Michael an. »Jetzt studierst du drei Jahre lang Physik, lernst genau, wie alles zusammengesetzt ist aus kleinen Teilen, die du nicht sehen kannst. Du wirst noch ein Jahr studieren. Aber du magst es nicht, das merk ich.« Er nahm einen Schluck Bier. »Stimmt's? Oder stimmt's nicht?«
»Stimmt.«
»Also, was wird sein? Medizin? Jus? Du hast die Zeugnisse dazu -
und den Kopf. Und ich hab Geld genug, um einen Doktor oder einen Anwalt aus dir zu machen. Du kannst dir's aussuchen.« »Nein, Pop.« Die Leine in seinen Händen spannte sich unter den verzweifelten Befreiungsversuchen eines Fisches, der angebissen hatte, und Michael holte sie Länge um Länge ein, froh darüber, daß er etwas zu tun hatte.
»Michael, du bist inzwischen älter geworden. Vielleicht verstehst du gewisse Dinge jetzt besser. Hast du mir vergeben?«
Zum Teufel damit, dachte er wütend. »Was denn?«
»Du weißt ganz genau, wovon ich rede. Von dem Mädchen.« Michael wollte wegschauen, aber da war nichts als das Wasser, das die Sonne widerspiegelte und seinen Augen weh tat. »Denk nicht mehr daran.
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