»Wo sind Sie?« fragte Michael.
Der Mann nannte eine nur halb verständliche Adresse, Michael bat ihn, sie zu wiederholen. Er kannte die Straße, sie war nur ein paar Häuserblocks vom Tempel entfernt.
»Tun Sie jetzt gar nichts, bitte. Ich komme sofort.« Er lief aus dem Haus, stand auf den Marmorstufen und betete, während er vorbeifahrende Taxis aufzuhalten versuchte. Als er endlich ein leeres gefunden hatte, saß er auf der Kante seines Sitzes und überlegte, was er einem Mann sagen konnte, der Angst hatte, weiterzuleben. Aber als das Taxi hielt, war sein Hirn immer noch leer wie zuvor. Er drückte dem Fahrer einen Schein in die Hand und lief, ohne auf das Wechselgeld zu warten, über einen ausgedörrten, versandeten Rasen auf den Bungalow zu, drei Stufen hinauf zu einer überdachten Veranda.
Auf der Tafel über der Glocke stand: Harry Lefcowitz. Das Tor war offen, der Windfang unversperrt.
»Mr. Lefcowitz?« rief Michael leise. Es kam keine Antwort. Michael trat ein. Im Wohnzimmer roch es nach Fäulnis. Offene Flaschen und halbvolle Biergläser standen auf den Fensterbrettern. In einer Glasschüssel auf dem Tisch verfaulten ein paar Bananen. Die Aschenbecher waren voll mit Zigarrenresten. Ein Armeehemd hing über einer Sessellehne; Sergeantslitzen auf den Ärmeln.
„Mr. Lefcowitz?« Hinter einer der Türen, die aus dem Wohnzimmer führten, hörte Michael ein leises Geräusch. Er öffnete. Ein kleiner, schmächtiger Mann in Khakiunterhosen und Leibchen saß auf dem Bett. Seine Füße waren nackt. Der dünne Schnurrbart verlor sich beinahe in den Bartstoppeln auf dem unrasierten Gesicht. Die Augen waren gerötet und traurig. In der Hand hielt er eine kleine schwarze Pistole.
»Sie kommen von der Polizei«, sagte er.
»Nein. Ich bin der Rabbiner. Sie haben mich angerufen, erinnern Sie sich nicht?«
»Flagerman sind Sie nicht.« Es gab ein lautes Klicken, als der Mann die Pistole entsicherte.
Michael stöhnte innerlich, als ihm klarwurde, daß sich bestätigt hatte, was er ohnedies schon wußte: seine Unfähigkeit als Rabbiner. Er hatte die Polizei nicht verständigt. Er hatte nicht einmal eine Nachricht in seinem Büro zurückgelassen, niemand wußte, wo er zu finden war.
»Ich bin Rabbi Flagermans Assistent. Ich möchte Ihnen helfen.«
Der Pistolenlauf hob sich langsam, bis er direkt auf Michaels Gesicht gerichtet war. Die runde Öffnung an seinem Ende wirkte geradezu obszön. Der Mann spielte mit der Waffe, sicherte und entsicherte sie wieder. »Scher dich zum Teufel«, sagte er.
Michael setzte sich auf das Bett; er zitterte nur ganz wenig. Draußen war es dunkel.
»Und was wäre das schon für eine Lösung, Mr. Lefcowitz?«
Die Augen des Mannes wurden schmal. »Du glaubst, ich werd es schon nicht tun, du Held. Glaubst vielleicht, das macht mir was aus, nach dem, was ich gesehen hab? Ich schieß dich über den Haufen, und dann erschieß ich mich.« Er sah Michael an und lachte. »Du weißt nicht, was ich weiß. Es würde gar keinen Unterschied machen.
Die Welt geht trotzdem weiter.«
Michael neigte sich ihm zu, streckte die Hand aus: es war eine Geste des Mitleids, aber der andere empfand sie als Drohung. Er drückte die Mündung seiner Pistole in Michaels Wange. Der Druck schmerzte.
»Weißt du, woher ich diese Pistole hab? Hab sie einem toten Deutschen abgenommen. Der Kopf war ihm halb weggeschossen.
Ich kann mit dir dasselbe machen.«
Michael sagte nichts. Nach ein paar Minuten nahm der Mann den Pistolenlauf von seiner Wange. Mit den Fingerspitzen fühlte Michael die kleine kreisrunde Vertiefung, die auf seiner Haut zurückgeblieben war.
Sie saßen und blickten einander an. Michaels Uhr tickte laut.
Der Mann begann zu lachen. »Das ist nichts als Unsinn, was ich Ihnen da erzählt hab. Ich hab viele tote Deutsche gesehen, manche hab ich angespuckt, aber nie hab ich einem Toten etwas abgenommen. Ich hab das Ding gekauft, für drei Kartons Lucky Strikes. Ich wollte was haben für den Jungen, etwas zum Aufheben.« Lefcowitz kratzte seinen Fuß mit der freien Hand. Seine Füße waren groß und knochig, mit krausen schwarzen Haaren an den Gelenken der großen Zehen.
Michael sah ihm in die Augen. »Die ganze Geschichte, die Sie da aufgeführt haben, war doch nichts als Unsinn, Mr. Lefcowitz. Warum sollten Sie mir was antun wollen? Ich will weiter nichts, als Ihr Freund sein. Und es wäre fast noch schlimmer, wenn Sie sich etwas antun wollten.« Er versuchte zu lächeln. »Ich glaube, es war weiter nichts als ein seltsamer Scherz. Ich glaube, die Pistole ist gar nicht geladen.« Der Mann hob die Waffe, und im selben Sekundenbruchteil, da der Knall schaurig laut in dem kleinen Raum widerhallte, wurde seine Hand ein wenig hochgerissen, und in der weißen Decke über ihren Köpfen zeigte sich ein schwarzes Loch.
»Sieben waren drin«, sagte Lefcowitz. »Jetzt sind's noch sechs. Mehr als genug. Also glaub lieber nichts, Kleiner. Bleib sitzen und halt den Mund.«
Lange Zeit sprachen sie kein Wort. Es war eine sehr ruhige Nacht.
Nichts war zu hören als gelegentlich ein Autohupen und das langsame, gleichmäßige Zischen der Brandung gegen die nahe Küste. Michael sprach sich selbst Beruhigung zu: jemand mußte den Schuß gehört haben; sie mußten bald kommen. »Fühlen Sie sich eigentlich jemals einsam?« fragte Lefcowitz plötzlich.
»Immer.«
»Manchmal fühl ich mich so einsam, daß ich schreien könnte.« »Jedem Menschen geht's manchmal so, Mr. Lefcowitz.« »Wirklich? Na dann -
warum eigentlich nicht?« Er betrachtete die Pistole und schüttelte sie.
»Wenn Sie auf den Kern der Sache gehen - warum nicht?« Er lachte freudlos. »Jetzt haben Sie eine gute Gelegenheit, über Gott zu reden, Seele und so Zeug.« »Aber nein. Es gibt einen viel einfacheren Grund.
Das da -« Michael berührte die Pistole mit den Fingerspitzen und gab ihr eine leichte Wendung, so daß sie nicht mehr auf ihn zielte -, »das ist endgültig, unwiderruflich. Nachher haben Sie keine Möglichkeit mehr, es sich zu überlegen und einzusehen, daß Sie unrecht hatten. Und obwohl es eine Menge scheußliche Dinge auf der Welt gibt, ist es doch manchmal großartig, zu leben. Nichts weiter als Wasser zu trinken, wenn man durstig ist, oder etwas Schönes zu sehen - irgend etwas von all den schönen Dingen, die es gibt. Die guten Zeiten wiegen die schlechten auf.«
Einen Augenblick lang sah Lefcowitz nicht mehr ganz so entschlossen aus. Aber dann wendete er den Lauf der Pistole, so daß er nun wieder auf Michael gerichtet war. »Ich bin nur sehr selten durstig«, sagte er.
Wieder schwieg er lange, und Michael versuchte nicht, ihn zum Sprechen zu bringen. Einmal liefen zwei Burschen lachend und rufend auf der Straße vorbei, und im Gesicht des Mannes begann es seltsam zu arbeiten.
»Gehen Sie manchmal fischen?« »Selten«, sagte Michael.
»Ich hab grad daran gedacht, daß ich auch meine guten Zeiten gehabt hab, wie Sie das nennen - beim Fischen, mit Wasser und Sonne und so.«
»Ja.«
»Deshalb bin ich ja überhaupt hierhergekommen. Ich war noch ein Junge, hab in einem Schuhgeschäft in Erie, P-A., gearbeitet. Mit einer ganzen Bande von Kumpels bin ich nach Hialeah hinuntergefahren und hab vierhundertachtzig Dollar gewonnen. Das Geld war ganz hübsch, aber was hab ich schon von Geld verstanden. Damals hab ich für niemanden zu sorgen gehabt. Das Wichtigste war das Fischen. Den ganzen Tag lang hab ich Seeforellen gefangen. Die Burschen haben mich für verrückt gehalten, als ich nicht mit ihnen zurückfahren wollte. Ich hab einen Job in einer Kneipe am Strand gefunden. Da hatte ich das Fischen und die Sonne und Weiber in Badeanzügen, und ich kam mir vor wie im Paradies.«
»Sie waren Bartender, bevor Sie eingerückt sind?«
»Hab mein eigenes Lokal gehabt. Da war dieser Bursche, mit dem ich gearbeitet hab, Nick Mangano, der hatte ein bißchen was auf die Seite gelegt, und ich hab meines dazugetan, und so haben wir eine Muschelbar mit Alkohollizenz übernommen, an diesem Fischplatz, den sie Murphy's Pier nennen. Kennen Sie ihn?« »Nein.«
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