Er fuhr langsam und genoß den Rundblick: verwitterte Gehöfte, Blockhäuser mit silbrig glänzenden Wänden, Holzzäune, da und dort ein Bergwerk oder eine Fabrik.
Um vier Uhr nachmittags begann es leicht zu schneien, und Michael fror. Er hielt an einer Tankstelle - einem Bauernhaus mit zwei Benzinsäulen - und zog im Haus Winterkleidung an, während ein runzliger alter Mann seinen Wagen auftankte. Nach den Informationen, die Michael aus dem Büro der Union mitgebracht hatte, sollte Spring Hollow siebenundzwanzig Kilometer von Harrison entfernt sein, auf einer Sandstraße erreichbar. Aber der Alte, den Michael zur Sicherheit fragte, schüttelte den Kopf.
»Nein. Sie fahren die Zweiundsechzig, nach Rogers biegen Sie ab nach Osten, bis Monte Ne, dann sind's noch ein paar Kilometer.
Schotterstraße. Wenn Sie's nicht finden, müssen Sie eben noch einmal fragen.«
Als Michael hinter Rogers von der Autostraße abbog, war der Schotterbelag der Landstraße unter dem Schnee nur mehr zu ahnen. Der Wind kam in Böen, schüttelte den Kombi und pfiff eisig durch die Fensterspalten. Michael gedachte dankbar der Liste des Rabbi Sher: die dort angegebene Kleidung erwies sich als angemessen. Er trug jetzt schwere Stiefel, Cordhosen, Wollhemd, Pullover, Anorak, Handschuhe und eine Kappe mit Ohrenschützern. Der schwere Schneefall setzte mit Einbruch der Dunkelheit ein. Manchmal, wenn Michael um eine Kurve fuhr, fiel der Lichtkegel seiner Scheinwerfer direkt in schwarze Leere. Er wußte nur zu gut, daß er von Bergfahrten bei Nacht nichts verstand.
Zunächst fuhr er an den Straßenrand und parkte, mit der Absicht, das Unwetter abzuwarten. Aber bald wurde es sehr kalt im Wagen. Er startete den Motor und schaltete die Heizung auf den höchsten Grad, dann aber kamen ihm Bedenken, ob die Lüftung auch ausreichte, ob man ihn nicht am nächsten Morgen steifgefroren im Wagen finden würde. (»Der Motor lief noch, meldet der Polizeibericht.«) Oberdies, so kam ihm in den Sinn, war der geparkte Wagen ein gefährliches Hindernis für jedes Fahrzeug, das plötzlich aus Schnee und Dunkelheit auftauchen konnte. So fuhr er sehr langsam weiter, bis er, am Ende einer Steigung angelangt, in der Ferne ein gelbliches Lichtviereck sah, das, wie sich im Näherkommen erwies, das erleuchtete Fenster eines Bauernhauses war. Er parkte den Wagen unter einem großen Baum und klopfte ans Tor. Der Mann, der ihm öffnete, sah immerhin nicht wie Li'l Abner aus. Er trug Jeans und ein dickes braunes Arbeitshemd. Michael schilderte, in welch übler Lage er sich befand, und der Mann bat ihn ins Haus.
»Jane«, rief er, »da ist einer, der ein Bett für die Nacht braucht.« Die Frau kam langsam in den vorderen Raum. Durch die Tür, die sie hinter sich offenließ, sah Michael den Feuerschein, der durch die Sprünge eines mit Töpfen besetzten Küchenherdes drang. In der Stube war es sehr kalt.
An einem Nagel hing eine Laterne.
»Haben Sie Spielkarten bei sich?« Sie hielt sich die ungeknöpfte Jacke über der Brust zu.
»Nein«, sagte Michael. »Bedaure.«
Ihr Mund war streng. »Sie sind hier in einem guten christlichen Haus.
Karten und Whisky dulde ich nicht.«
»In Ordnung, Ma'am.«
Dann saß er in der Küche an einem wackligen, offensichtlich selbstgefertigten Tisch, und die Frau wärmte ihm ein Stew auf. Es schmeckte ungewohnt und kräftig, aber Michael wagte nicht zu fragen, aus welcher Art Fleisch sie es zubereitet hatte. Nach dem Essen nahm der Mann die Laterne vom Nagel und führte Michael in ein stockfinsteres Hinterzimmer.
»Scher dich raus«, brummte er, und ein großer gelber Hund verließ gähnend und unwillig die schmale Bettstatt. »So, das wär's, Mister«, sagte der Mann.
Nachdem Michael die Tür hinter ihm geschlossen hatte und im Dunkeln allein geblieben war, beschloß er, sich nicht auszukleiden. Es war sehr kalt. Er zog nur die Stiefel aus und richtete sich dann im Bett ein, so gut er konnte. Die Decken waren zerfetzt und wärmten nur wenig: sie rochen stark nach Hund.
Die Matratze war dünn, voll Unebenheiten. Michael lag stundenlang wach, spürte die Kälte und den fettigen Nachgeschmack des Stews und konnte nicht verstehen, wie er hierhergekommen war. Um Mitternacht hörte er ein Kratzen an der Tür. Der Hund, dachte er, aber die Tür öffnete sich unter dem Druck einer Menschenhand, und Michael gewahrte, einigermaßen beunruhigt, seinen Gastgeber.
»Seht«, sagte der Mann, den Finger an die Lippen legend. In der andern Hand trug er einen Krug. Er stellte ihn neben Michaels Bett und verschwand ohne ein Wort.
Es war das übelste Gebräu, das Michael je gekostet hatte, aber es war stark wie Feuer und ebenso wärmend. Schon nach wenigen Schlucken schlief er wie ein Toter.
Als er am Morgen erwachte, war das Haus verlassen: weder Mann noch Frau, noch Hund waren zu sehen. Er legte drei Dollar auf das Fußende des Bettes. Sein Kopf schmerzte, und er konnte den Krug nicht einmal mehr ansehen, aber er fürchtete, die Frau werde ihn finden. So trug er ihn in den Wald hinter der Hütte und stellte ihn in den Schnee, in der Hoffnung, der Mann werde vorbeikommen, ehe die Frau ihn entdeckt hatte.
Der Wagen startete fast ohne Schwierigkeiten. Nach kaum einem Kilometer sah Michael, wie vernünftig es gewesen war, die Nacht abzuwarten. Die Straße wurde steiler und enger. Zur Linken stieg der Berg an, da und dort ragten Felsblöcke in die Straße hinein; zur Rechten ein senkrechter Absturz und der Blick über ein verschneites Tal, jenseits begrenzt von Gipfel an Gipfel, und rings von Bergketten umgeben. Die Haarnadelkurven waren mit Schneematsch und stellenweise mit schmelzendem Eis bedeckt. Er fuhr sie so behutsam wie möglich, immer damit rechnend, daß die Straße hinter jeder Biegung an einem steilen Abhang enden könnte, über den er mitsamt seinem Wagen in die Tiefe stürzen würde.
Erst am späteren Nachmittag kam Michael in Spring Hollow an.
George Lilienthal war mit den Holzfällern im Wald, aber seine Frau Phyllis begrüßte Michael wie einen neu entdeckten Verwandten. Seit Tagen hätten sie die Ankunft des Rabbiners erwartet, sagte sie.
Die Lilienthals bewohnten ein Haus mit drei Schlafräumen, das der Ozarks Lumber Corporation gehörte. Das Warmwasser funktionierte gut, es gab einen Eisschrank mit Tiefkühlfach und ein schon etwas altmodisches Tonmöbel. Als George Lilienthal zum Abendessen nach Hause kam, hatte Michael bereits den Luxus eines stundenlangen heißen Bades genossen, war frisch rasiert und umgezogen, und lauschte, ein Glas in der Hand, einer Debussy-Platte. George war ein schwerer, fröhlicher Mann von siebenunddreißig Jahren, der in Syracuse Forstwirtschaft studiert hatte. Phyllis war eine untadelige Hausfrau, deren sanft ausladende Hüften ihr Wohlgefallen an der eigenen Kochkunst verrieten.
Michael sagte die Segenssprüche beim Abendessen und betete nachher mit ihnen, wobei er den ssider mit ihrem Sohn Bobby teilte.
Der Junge war schon elf Jahre alt; er hatte nur mehr zwanzig Monate bis zur bar-mizwe, aber er konnte noch kein Wort Hebräisch lesen.
Den ganzen folgenden Nachmittag brachte Michael damit zu, ihn das hebräische Alphabet zu lehren. Dann gab er ihm ein alef-bejss und eine Zusammenstellung von Aufgaben, die Bobby bis zu Michaels nächstem Besuch durchführen sollte.
Am folgenden Morgen brachte ihn George bis zu einem Holzweg, auf dem er seine nächste Station erreichen sollte.
»Ich hoffe, Sie werden keine zu unangenehme Fahrt haben«, sagte er beim Abschied besorgt. »Sie müssen allerdings über zwei, drei Bäche, und das Wasser ist um diese Jahreszeit ziemlich hoch ...« Der Gemischtwarenladen in Swift Bend lag direkt am Fluß - einem reißenden, kalten Fluß, der häßliche graue Eisschollen führte. Ein bärtiger Mann in braunkariertem Wollmantel lud Warenbündel aus einem Ford-Lieferwagen, Baujahr 1937: gestapelte und mit Stricken zusammengebundene Bälge irgendwelcher kleiner Pelztiere. Die Bälge waren steifgefroren, und der Mann schichtete sie bündelweise unter dem Vordach des Ladens.
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