Nein, bin ich nicht, versicherte sich Spurgeon.
Und auch sonst keiner.
»Sie sind nicht alle wie du, Meyerson!« schrie er. »Nein, nein, nein!« Aber Maish war bereits die Treppe hinunter verschwunden.
Eine alte Dame mit blaugrauem Haar warf ihm einen angelsächsischen Blick zu wie einen Stein. »Hippies«, sagte sie kopfschüttelnd.
Wider Willen zog es ihn zum Getto.
Der Wind blies von Süden, und noch bevor er über die Grenze gefahren war, füllte sich der VW mit einem schwachen, bitteren Brandgeruch. Nicht alle waren daheimgeblieben, um Jimmy Brown zu sehen.
Er fuhr sehr langsam.
Die Bretter über den Auslagen sahen bei Tageslicht kläglich unwirksam aus. Einige waren abgerissen worden. An einem Schnapsladen war das metallene Schutzgitter aus den Angeln gerissen. Die Scheibe war zerbrochen, und er konnte im Inneren flüchtig nackte Gestelle und Trümmer auf dem Fußboden sehen. Die Aufschrift auf der Eingangstür - »Seelenbruder« - war durchgestrichen und durch eine andere ersetzt worden: »Verdammter Lügner«.
Die erste Brandstätte lag nicht weit vom Ace High, ein Miethaus. Der Brand war zweifellos von jemandem gelegt worden, der genug von Ratten und Küchenschaben gehabt hatte.
Der zweite Brand, auf den er stieß, lag eine halbe Meile weiter und war kein Brand mehr. Ein halbes Dutzend Feuerwehrleute ließen zwei Schläuche über den Schauplatz einer verlorenen Schlacht spielen. Nichts war übriggeblieben als ein geschwärztes Ziegelfundament und ein paar verkohlte Balken.
Er parkte den Wagen und ging zu der Ruine. »Was war das?« fragte er einen der Feuerwehrleute.
Der Mann warf ihm einen kühlen Blick zu, sagte jedoch nichts. Ein Punkt für Maish, dachte er.
»Ein Möbelgeschäft«, sagte ein anderer.
»Danke.«
Er hockte sich nieder und starrte eine Weile in die rauchenden Trümmer, dann richtete er sich auf und ging zu Fuß weiter.
In jedem Hausblock waren die Läden gegen den Wirbelsturm verschlagen worden. Die meisten, die nicht mit
Brettern verschlagen waren, standen leer. An einem hing ein gemaltes Schild, über das er lächeln mußte. »Hilfsstation.« Die Tür war unversperrt, er trat ein, und sein Lächeln erstarb. Es war kein Witz. In einem Kleenexkarton lagen Rollen groben Verbandzeugs, kaum aseptisch zu nennen, zweifellos von schwarzen Frauen in ihren Wohnungen aus alten Hemden und Schürzen zurechtgeschnit-ten. Wahrscheinlich hatte das zu dem größeren Plan irgendeines Black Panther gehört, vermutlich eines Vietnamheimkehrers, der den Napoleon spielen wollte, nur war diesmal nichts daraus geworden. Zweifellos freute er sich schon auf das nächstemal.
Spurgeon fragte sich, ob sie wohl Antibiotika, Blutspender, geschulte Leute hatten, wußte aber gleichzeitig, daß dies unwahrscheinlich war. Außer ein paar leeren Läden und versteckten Waffen sowie selbstverfertigten Bandagen besaßen sie sicher nur die Überzeugung, daß sie nun lange genug gewartet hatten.
Es war ein sehr großer Laden.
Im Zentrum der schwarzen Gemeinde.
Er erinnerte sich, wie Gertrude Soames, die Hure mit dem gefärbten roten Haar, das Krankenhaus aus eigenen Stücken verlassen hatte, trotz Leberkrebs, weil sie den weißen Händen nicht traute, die bohrten und weh taten, weil sie den Augen der Weißen entfliehen wollte, denen ja in Wirklichkeit nichts an ihr lag.
Er dachte an Thomas Catlett jr., dem er im Krankenwagen auf der Brücke einen Klaps auf den kleinen schwarzen Arsch gegeben hatte, Catlett jr., der acht Geschwister besaß und dessen arbeitsloser Vater jetzt wohl bereits wieder die Samen für Nummer zehn in Martha Hendricks Catletts schlaffen Schoß gebettet hatte, weil der Orgasmus gratis ist und niemand sie gelehrt hatte, zu lieben, ohne Babies zu machen.
Er fragte sich, wie die Selbstzerstörung von Menschen wie Speed Nightingale verhindert werden konnte, wer schon bereit war, einem Süchtigen bei dem Versuch zu helfen, loszukommen.
Der Schreiber des Schildes hatte einige zerbrochene Kreidestücke auf den sandigen Fußboden fallen lassen, und Spurgeon hob eines auf und zeichnete gedankenlos auf den Boden neben der Tür: ein Wartezimmer mit einem Empfangstisch, ein Untersuchungszimmer und eine unfallchirurgische Abteilung, eine Ecke für Röntgen, und in der Toilette, die von dicken Spinnweben und drei toten Motten bewohnt war, eine Dunkelkammer.
Dann hockte er sich wieder nieder und studierte die weißen Linien auf dem schmutzigen Fußboden.
Am selben Nachmittag trieb er sich in der chirurgischen Station herum, bis er den Vertreter einer pharmazeutischen Kleinhandelsfirma entdeckte, den er kannte.
Er hieß Horowitz, war ein netter Bursche und soweit Geschäftsmann, um zu wissen, daß junge Spitalsärzte manchmal in verhältnismäßig wenigen Jahren wichtige Kunden werden konnten. Er saß bei einer Tasse Kaffee in Maxies Laden und hörte Spurgeon zu.
»Es ist nicht so wild«, sagte er. »Frank Lahey startete die Lahey-Klinik 1923 bloß mit einer einzigen Operationsschwester.« Er runzelte die Stirn und begann Ziffern auf eine Papierserviette zu kritzeln.
»Gewisse Gegenstände könnte ich Ihnen umsonst verschaffen, weil die pharmazeutische Industrie so etwas unterstützt. Einen Vorrat an Medikamenten, Verbänden. Einen Teil der Ausstattung könnten Sie aus zweiter Hand bekommen. Einen Röntgenapparat brauchen Sie nicht, solche Fälle könnten Sie ins Krankenhaus schicken -«
»Nein, Röntgen wäre wichtig. Es geht ja vor allem darum, eine Klinik in einem schwarzen Stadtteil zu schaffen, in die sie gern und voll Vertrauen mit dem Bewußtsein kommen, daß sie die ihre sei. Und diese Leute haben Tuberkulose, Emphyseme, alle möglichen Atembeschwerden. Zum Teufel, sie leben in der vergifteten Luft des Stadtkerns. Röntgen wäre unbedingt nötig.«
Horowitz zuckte die Achseln. »Schön, also auch Röntgen. Für das Wartezimmer könnten Sie alte Möbel besorgen. Sie wissen ja, Faltstühle, einen hölzernen Schreibtisch, solche Dinge.«
»Sicher.«
»Sie brauchen ferner einen Untersuchungstisch, einen Behandlungstisch, chirurgische Instrumente, einen Sterilisator. Untersuchungslampen. EKG. Diathermie. Ein paar Stethoskope, ein Otoskop, ein Mikroskop, ein Ophthalmoskop. Dunkelkammer und Geräte zum Entwickeln. Wahrscheinlich noch diverse Kleinigkeiten, die mir jetzt nicht einfallen.«
»Wieviel?«
Wieder zuckte Horowitz die Achseln. »Schwer zu sagen. Man findet diese Dinge nicht immer aus zweiter Hand.«
»Stellen Sie keine Gebrauchtwarenpreise auf. Diese Menschen haben in ihrem Leben noch nie etwas gehabt, das erstklassig ist. Alte Möbel, schön, aber rechnen Sie mit einer neuen Ausrüstung.«
Der Vertreter addierte noch einiges und steckte dann seinen Kugelschreiber ein. »Neuntausend«, sagte er.
»Hm.«
»Und Sie müßten auch weitermachen können, wenn Sie eröffnet haben. Einige Ihrer Patienten haben vielleicht eine Krankenversicherung, die meisten aber nicht. Viele können nur ein sehr bescheidenes Honorar bezahlen.« »Dazu kommt noch Miete und Stromrechnungen«, sagte Spurgeon. »Glauben Sie, daß man mit zwölftausend über das erste Jahr kommen kann?«
»Klingt realistisch«, sagte Horowitz. »Lassen Sie mich wissen, wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann.«
»Ja. Danke.«
Er blieb sitzen und trank eine zweite Tasse Kaffee und dann noch eine. Schließlich bezahlte er und bat Maxie um Wechselgeld für einen Dollar. Er summte vor sich hin, als er die Zentrale wählte, aber sein Magen krampfte sich vor Nervosität zusammen.
Er kam mühelos durch, bis er die letzte Bastion erreichte, die englische Sekretärin mit der eisigen Stimme, die Calvin Priest vor den gewöhnlichen Sterblichen schützte.
»Mr. Calvin hat jemanden bei sich, Dr. Robinson«, sagte sie, wie immer mißbilligend. »Ist es sehr wichtig?«
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