Leo, so geht's nicht. Da ist mit Ihnen ausnahmsweise der Klischee-Mann durchgegangen. Ja natürlich, das wäre alles noch steigerbar. Die von Ihnen gestern im Rausch frei gewordene »Augenbinde«. - Wir müssten uns also nicht einmal sehen. Sie öffnen mir blind die Tür. Wir fallen uns blind in die Arme. Wir haben blinden Sex. Wir verabschieden uns blind. Und morgen schreiben Sie mir wieder bigotte E-Mails übers Nichtbetrügen-sollen und ich schreibe Ihnen rotzig zurück wie immer. Und wenn's in der Nacht gut war, dann machen wir es wieder, völlig herausgelöst aus unserem sonstigen Leben, völlig unabhängig von unserem Dialog. Sex in seiner höchsten Stufe absoluter Unverbindlichkeit. Es gibt nichts zu verlieren, nichts wird aufs Spiel gesetzt. Sie haben Ihre »Nähe«, ich habe mein außereheliches Abenteuer. - Zugegeben, ein aufregender Gedanke. Aber schon auch ein bisschen eine Männerfantasie, muss ich Ihnen sagen, lieber Leo. Jedenfalls sollten wir die Finger davon lassen. Oder, um es noch etwas klarer zu formulieren: Nicht mit mir! (Ich habe das ganz zart gesagt, ehrlich!)
15 Minuten später
AW:
Und wenn ich Ihnen einfach nur gerne ein paar Kinderfotos von mir gezeigt hätte? Und wenn ich mit Ihnen nur gerne ein Glas Whiskey oder Wodka sauer getrunken hätte - auf unser Wohl und auf unsere Pionierleistung, uns endlich zu sehen? Und wenn ich einfach nur gerne Ihre Stimme gehört hätte? Und wenn ich nur gerne vielleicht einen Hauch vom Geruch Ihrer Haare und Ihrer Haut inhaliert hätte?
Neun Minuten später
RE:
Leo, Leo, Leo, manchmal klingt es so, als wären Sie die Frau von uns beiden und ich der Mann. Aber ich könnte schwören, das ist nur ein Spiel zwischen uns, auf höchstem Niveau. Ich denke männlich, um Sie zu verstehen, ich versuche mich in die Männerwelt hineinzuversetzen, lade mir aus meinen Erfahrungen die komplette maskuline Gedankenwelt plus zugehörigem Vokabular herunter - mit dem Erfolg, mir dann von Ihnen nachsagen lassen zu müssen, ICH sei sexfixiert. Leo, ich lege eure klassischen Motive für dringliche mitternächtliche Einladungen frei - und Sie drehen den Spieß einfach um und behaupten, es seien meine. Leo, Sie Unschuldsengel, Sie schüchterner Romantiker! Geben Sie doch zu, dass Ihr virtuelles Sturmläuten bei mir um zehn Uhr abends nicht den Zweck haben sollte, mit mir Kinderfotos anzuschauen. (Haben Sie vielleicht auch nette Briefmarken? - Dann wäre ich natürlich sofort gekommen ... )
Drei Minuten später
AW:
Liebe Emmi, sagen Sie bitte nie wieder »eure«, wenn Sie von MIR sprechen wollen. Ich bin mir zu individuell, um mir den pauschalierenden und zumeist auch gehässig vorgetragenen Männer-Plural überstülpen zu lassen. Schließen Sie nicht von anderen Männern auf mich. Das kränkt mich, und zwar wirklich!
18 Minuten später
RE:
Okay, okay, Entschuldigung! Womit Sie sich wieder geschickt um »Ihr« Motiv herumgeschummelt haben, warum Sie mich plötzlich so dringlich sehen wollten, mitten in der Nacht. Leo, es ist ja keine Schande, im Gegenteil, es schmeichelt mir sehr, und Sie sinken in meiner Achtung um keinen Millimeter, wenn Sie im postalkoholischen Sexdrang und Liebestaumel mit der zwar unbekannten, aber angeblich nicht so unhübschen Emmi die Augenbinde-Nummer durchziehen wollen. Ach ja, übrigens: Es ist halb zwei Uhr früh, ich sollte dann langsam ins Bett gehen. Danke noch einmal für Ihr spannendes Angebot. Das war mutig. Ich mag es, wenn Sie spontan sind. Und ich mag es auch, wenn Sie mich betrunken mit Küssen zuschütten. Gute Nacht, Leo. Auch ein Kuss von mir.
Fünf Minuten später
AW:
Ich will niemals und mit niemandem eine Nummer durchziehen. Gute Nacht.
Zwölf Minuten später
RE:
Ach, zwei Dinge noch, Leo. Ich kann heute ohnehin nicht mehr schlafen: Wenn ich also wirklich zu Ihnen gekommen wäre, dann glauben Sie doch nicht im Ernst, dass ich mir von Ihnen das Taxi hätte zahlen lassen? Zweitens: Wenn ich also wirklich zu Ihnen gekommen wäre, welche der drei Emmis aus dem Repertoire Ihrer Schwester hätte dann zu Ihnen kommen sollen? Die quirlige Ur-Emmi? Die vollbusige Blond-Emmi? Oder die schüchterne Überraschungs-Emmi? - Denn eines muss Ihnen schon klar sein: Ihre Fantasie-Emmi wäre im Augenblick unseres Zusammentreffens für immer gestorben.
Einen Tag später
Betreff: Softwareprobleme?
Leo? Sie sind an der Reihe!
Drei Tage später
Betreff: Sendepause
Liebe Emmi, ich schreibe Ihnen nur, damit Sie wissen, dass es nicht so ist, dass ich Ihnen nicht mehr schreibe. Wenn ich wieder so weit bin, zu wissen, WAS ich Ihnen schreiben könnte, dann werde ich es sofort tun. Ich bin gerade beim Aufsammeln meiner schizophrenen Einzelteilchen, in die es mich in den vergangenen Tagen zerlegt hat. Wenn ich die Teilchen erfolgreich zusammengefügt habe, melde ich mich. Emmi, Sie spuken mir ununterbrochen im Kopf herum. Ich vermisse Sie. Ich habe Sehnsucht nach Ihnen. Ich lese Ihre E-Mails mehrmals täglich. Ihr Leo.
Vier Tage später
Betreff: Verrat
Hallo, Herr Leike, haben Sie mir gegenüber ein schlechtes Gewissen? Müssen Sie mir etwas verraten? (»Verraten« mit »V« wie Verrat?) Weiß ich etwas nicht, was ich wissen sollte? Für diesen Fall: Ich glaube, ich weiß es. Ich habe in meiner Mailbox eine fürchterliche Entdeckung gemacht. Wissen Sie, wovon ich rede? Wenn Sie es wissen, dann erleichtern Sie bitte Ihr Gewissen!!! Grüße, Emmi Rothner.
Dreieinhalb Stunden später
AW:
Emmi, was ist los mit Ihnen? Was soll diese kryptische E-Mail? Brüten Sie gerade eine Verschwörungstheorie aus? Ich habe jedenfalls keine Ahnung, wovon Sie reden. Was für eine fürchterliche Entdeckung haben Sie in Ihrer Mailbox gemacht? Bitte werden Sie deutlicher! Und seien Sie nicht nur auf Verdacht so grausam förmlich! Alles Liebe, Leo.
30 Minuten später
RE:
Werter Herr Sprachpsychologe, sollte sich irgendwann herausstellen, dass mein »Verdacht« begründet war, werde ich Sie mein Leben lang hassen!!!! Besser Sie sagen es gleich.
25 Minuten später
AW:
Was auch immer Sie in diese Stimmung versetzt hat, liebe Emmi, Ihre Sprache macht mir Angst. Ich will nicht Opfer Ihres präventiven blanken Hasses sein, der sich auf krause Gedanken und abstruse Reime in Ihrem von Misstrauen zersetzten Gehirn gründet. Reden Sie Klartext oder haben Sie mich gern! Ich bin jetzt wirklich wütend! Leo.
Am nächsten Tag
Betreff: Verrat II
Ich habe am Sonntag eine Freundin getroffen. Ich habe ihr von Ihnen erzählt, Leo. »Was macht er beruflich?«, hat sie mich gefragt. »Er ist Sprachpsychologe und arbeitet auch an der Uni«, habe ich geantwortet. Sprachpsychologe? Sonja war sehr überrascht. »Was macht er da?«, hat sie nachgefragt. Ich: Genau weiß ich es nicht, wir reden nicht über unsere Arbeit, nur über uns. Und dann fiel mir ein: Am Anfang hat er einmal etwas von einer Studie über die Sprache von EMails erzählt, mit der er gerade beschäftigt war. Es ist aber dann nie wieder ein Wort darüber gefallen. Daraufhin hat sich der Blick meiner Freundin Sonja plötzlich ziemlich verdüstert und sie hat wortwörtlich gesagt: »Emmi, pass auf, vielleicht studiert er dich nur!« Das hat mir einen gewaltigen Schock versetzt. Daheim habe ich sofort in unseren alten E-Mails nachgelesen. Und da finde ich am 20. Februar folgende Passage von Ihnen: »Wir arbeiten gerade an einer Studie über den Einfluss der E-Mail auf unser Sprachverhalten und - der noch wesentlich interessantere Teil - über die E-Mail als Transportmittel von Emotionen. Deshalb neige ich ein wenig zum Fachsimpeln, ich werde mich aber künftig zurückhalten, das verspreche ich Ihnen.«
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