Vier Minuten später
RE:
Na ja, unser erstes echtes Mitternachts-Rendezvous hab ich mir etwas anders vorgestellt. Leo, sternhagel- voll! Hat aber auch seinen gewissen Reiz. Wissen Sie was, Leo? Ich halte mich kurz, vermutlich können Sie die Buchstaben ohnehin nicht mehr auseinander halten. Aber wenn Ihnen danach ist, und wenn Sie es noch schaffen, dann erzählen Sie mir ruhig mehr von »daheim« bei Ihnen. Schreiben Sie aber nichts, was Sie heute Früh oder Vormittag nach dem Aufwachen aus dem Delirium schon bereuen könnten. Dann trinke ich also ein Glas französischen Rotwein aus dem Rhonetal, 1997. Ich trinke auf Sie! Ihnen würde ich allerdings empfehlen, auf Mineralwasser umzusteigen. Oder machen Sie sich einen starken Kaffee!
50 Minuten später
AW:
Sie sind so streng, Emmi. Seien Sie nicht so streng. Ich will keinen Kaffee. Ich will Emmi. Kommen Sie zu mir. Trinken wir noch ein kleines Glas Wein. Wir können Augenbinden tragen, wie im Film. Ich weiß nicht, wie der Film heißt, ich muss nachdenken. Ich würde Sie so gerne küssen. Mir ist egal, wie Sie aussehen. Ich habe mich in Ihre Worte verliebt. Sie können schreiben, was Sie wollen. Sie können ruhig streng schreiben. Ich liebe alles. Sie sind nämlich gar nicht streng. Sie zwingen sich dazu, Sie wollen einfach nur stärker wirken, als sie sind. Marlene trinkt keinen Tropfen Alkohol. Marlene ist eine sehr nüchterne Frau, aber faszinierend, das sagt jeder, der sie kennt. Sie war mit einem Piloten zusammen, aus Spanien. Aber es ist schon wieder vorbei. Sie sagt, für sie gibt es nur einen, und der bin ich. Wissen Sie, das ist eine Lüge. Mich gibt es nicht mehr für sie. Es tut so weh, wenn man sich trennt. Ich will mich nicht mehr trennen von Marlene. Mama hat sie gemocht. Meine Mutter ist tot, sie war unglücklich. Es ist ganz anders, als ich dachte. Etwas von mir ist mitgestorben. Ich spüre es erst, seit es tot ist. Meine Mutter hat sich nicht viel um mich gekümmert, nur um meine kleine Schwester. Und mein Vater ist nach Kanada ausgewandert, er hat meinen älteren Bruder mitgenommen. Ich bin irgendwo in der Mitte durchgerutscht. Ich bin übersehen worden. Ich war ein stilles Kind. Ich kann Ihnen Fotos zeigen. Wollen Sie Fotos sehen? Im Fasching war ich immer Buster Keaton. Ich mag stumme traurige lustige Helden, die Grimassen machen können. Kommen Sie, trinken wir noch ein Glas auf uns und schauen wir uns Faschingsfotos an. Schade, dass Sie verheiratet sind. Nein, gut so, dass Sie verheiratet sind. Betrügen Sie Ihren Mann, Emmi? Tun Sie es nicht. Es tut so weh, wenn man betrogen wird. Ich bin schon ein bisschen betrunken, aber ich habe noch einen klaren Kopf. Marlene hat mich einmal betrogen. Das heißt, von einem Mal weiß ich es. Marlene sieht man und man weiß, dass sie einen betrügt. Emmi, ich schicke das jetzt weg. Ich küsse Sie. Und noch ein Kuss. Und noch ein Kuss. Und noch ein Kuss. Ganz egal, wer Sie sind. Ich habe Sehnsucht nach Nähe. Ich will nicht an meine Mutter denken. Ich will nicht an Marlene denken. Ich will Emmi küssen. Ich bin ein bisschen betrunken, verzeihen Sie. Ich schick das jetzt weg. Dann gehe ich schlafen. Gutenachtkuss. Schade, dass Sie verheiratet sind. Ich glaube, wir würden gut zusammen passen. Emmi. Emmi. Emmi. Ich schreibe gerne Emmi. Einmal linker Mittelfinger, zweimal rechter Zeigefinger, und zwei Reihen darüber rechter Mittelfinger. EMMI. Ich könnte tausendmal Emmi schreiben. Emmi schreiben ist Emmi küssen. Gehen wir schlafen, Emmi.
Am nächsten Vormittag
Betreff: Hallo
Hallo Leo, wieder unter den Irdischen? Alles Liebe von Ihrer Emmi.
Zweieinhalb Stunden später
RE:
Sind Sie noch beim Nachdenken, wie Sie sich und vor allem wie Sie MIR Ihre nächtlichen E-Mails erklären? - Müssen Sie nicht, Leo. Ich habe das schön gefunden, was Sie mir da unabsichtlich geschrieben haben, sehr schön sogar. Sie sollten öfter volltrunken sein, da werden Sie ja zu einem richtigen Gefühlsmenschen, sehr offen und unverblümt, sehr zärtlich, ansatzweise sogar stürmisch und leidenschaftlich. Steht Ihnen gut, das Unkontrollierte! Und ich fühle mich geehrt, dass Sie mich so oft küssen wollten! Also schreiben Sie mir schon!! Ich bin echt neugierig, wie Sie dazu stehen. Nüchtern bemühen Sie sich ja immer krampfhaft, nur nicht jener Leo zu sein, der sich im betrunkenen Zustand wie von selbst ergibt. Hoffentlich hat er sich nicht übergeben.
Drei Stunden später
RE:
Leo???? Nicht melden ist unfair! Und es ist abtörnend. Das riecht nach einem Mann, der in der Früh schon nicht mehr zu dem steht, was er einer Frau in der Nacht davor liebestrunken ins Ohr geflüstert hat. Es riecht also nach einem ziemlich typischen, ziemlich durchschnittlichen, ziemlich öden Mann. Es riecht jedenfalls nicht nach Leo. Also schreiben Sie endlich!!!
Fünf Stunden später
AW:
Liebe Emmi, es ist jetzt 22 Uhr. Wollen Sie zu mir kommen? Ich zahle Ihnen das Taxi. (Ich wohne am Stadtrand.) Leo.
Knapp zwei Stunden später
RE:
Na hoppala! Lieber Leo, es ist jetzt 23 Uhr 43. Träumen Sie noch oder schlafen Sie schon? Wenn nicht, dann frage ich Sie:
1.) Wollten Sie wirklich, dass ich zu Ihnen komme?
2.) Wollen Sie noch immer, dass ich zu Ihnen komme?
3.) Sind Sie vielleicht wieder »ein bisschen betrunken«?
4.) Wenn ich zu Ihnen komme, was hätten Sie sich da so vorgestellt, dass wir beide machen?
Fünf Minuten später
AW:
Liebe Emmi,
1.)Ja. 2.) Ja. 3.) Nein. 4.) Was sich ergibt.
Drei Minuten später
RE:
Lieber Leo,
1.)Aha. 2.) Aha. 3.) Gut. 4.) Was sich ergibt? Es ergibt sich immer das, was man will, dass sich ergibt. Also was wollen Sie, dass sich ergibt?
50 Sekunden später
AW:
Ich weiß es wirklich nicht, Emmi. Aber ich glaube, wir wissen es sofort, wenn wir uns sehen.
Zwei Minuten später
RE:
Und wenn sich gar nichts ergibt? Dann stehen wir beide blöd herum, zucken mit den Schultern und einer sagt zum anderen: »Tut mir Leid, irgendwie ergibt sich nichts.« Und was machen wir dann?
Eine Minute später
AW:
Dieses Risiko müssen wir in Kauf nehmen. Also kommen Sie, Emmi! Trauen Sie sich! Trauen wir uns! Vertrauen wir auf uns!
25 Minuten später
RE:
Lieber Leo, Ihre ungewohnte Dringlichkeit, die sonst nicht gerade Ihrem Wesen entspricht, irritiert mich. Ich habe da so einen Verdacht. Ich glaube, dass Sie ganz genau wissen, was sich gefälligst zu ergeben hat. Sie sind vermutlich noch ein bisschen rauschig von der Vornacht, also unheimlich »in Stimmung«. Sie suchen Nähe. Sie wollen Marlene vergessen beziehungsweise vergessen machen. Und Sie haben genügend Bücher dieser Art gelesen und einschlägige Filmszenen gesehen, letzte Tangos mit Marlon Brandos und so. Leo, diese Szenen kenne ich auch: ER sieht SIE zum ersten Mal, möglichst im Halbdunkel, damit auch das schön ist, was vielleicht nicht so schön ist. Und dann fällt kein einziges Wort mehr, nur noch Gewand. Wie knapp vorm Verhungern fallen sie übereinander her, sparen nichts aus, wälzen sich stundenlang über die Wohnlandschaften. Kameraschnitt. Das nächste Bild: Er liegt auf dem Rücken, über seine Lippen huscht ein frivoles Lächeln, die Augen ruhen im lasziven Blick auf die Zimmerdecke, als wollte er auch diese noch vernaschen. Sie liegt mit dem Kopf auf seiner Brust. Befriedigt wie eine Hirschkuh nach dem Durchzug eines Rudels brunftiger Böcke. Vielleicht bläst noch einer der beiden Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher. Und dann wird dezent ausgeblendet. Und was ist danach? Das würde mich am allermeisten interessieren: Was ist danach???
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