Diese Frau, sage ich zu ihr, gibt mir die Möglichkeit, an wen anderen zu denken als an dich, Marlene, und trotzdem Ähnliches zu fühlen. Sie wühlt mich auf, regt mich auf, ich könnte sie manchmal auf den Mond schießen, aber genauso gerne hole ich sie mir von dort wieder herunter. Ich brauche sie nämlich hier auf der Erde. Sie kann zuhören. Sie ist klug. Sie ist witzig. Und, was das Wichtigste ist: Sie ist für mich da. »Wenn es gut für dich ist, ihr zu schreiben, dann schreibe ihr«, hat mir Marlene mit auf den Weg ins Bett gegeben. »Und nimm die Tabletten!«, hat sie ergänzt.
Emmi, ich bin ratlos. Wie komme ich von dieser Frau weg? Sie ist eine Kühlbox, aber mir wird heiß, wenn ich sie angreife. Wenn ich neben ihr durch Amsterdam gehe, hole ich mir eine Lungenentzündung. Aber wenn sie mir in der Nacht ihre Hand auf die Stirn legt, beginne ich zu glühen.
So, Emmi, Teil zwei: Ich bin also wieder zurück. Ich denke nicht daran, meine Zelte unter Ihrer Hirnrinde freiwillig abzubrechen. Ich möchte, dass wir uns weiter schreiben. Und ich möchte, dass wir uns auch persönlich kennen lernen. Wir haben alle der Vernunftbegabung des Menschen entsprechenden, logischen, nahe liegenden, richtigen Zeitpunkte dafür bereits versäumt. Wir haben die simpelsten Spielregeln des Miteinanders negiert. Wir sind alte innige Freunde, gegenseitige Alltagsstützen, ja manchmal sind wir sogar ein Liebespaar. Und bei alldem fehlt uns der natürliche Anfang der Begegnung. Wir werden ihn nachholen, ganz bestimmt! Wie wir das anstellen, ohne etwas von dem, was uns beide ausmacht, zu verlieren, weiß ich noch nicht. Wissen Sie's?
So, Emmi, Teil drei: Ich habe meine E-Mail bewusst mit Marlene begonnen. Ich wünsche mir nämlich, dass wir uns mehr aus unserem Leben erzählen. Ich will nicht mehr so tun, als gäbe es nur uns zwei. Ich will wissen, wie Sie Ihre Ehe meistern, wie Sie mit den Kindern zurechtkommen und all diese Dinge. Es wäre schön, wenn Sie mir auch Ihre Sorgen mitteilen. Es tröstet mich zu wissen, dass nicht nur ich welche habe. Es tut mir gut, darauf einzugehen. Es ehrt mich, in Ihr engstes Vertrauen gezogen zu werden. So, Emmi, Teil vier: Hassen Sie mich bitte nie wieder präventiv! Ich ertrage das nicht. Ich habe meine Mitarbeit an der Studie über den Einfluss der E-Mail auf unser Sprachverhalten und ihre Bedeutung als Transportmittel von Gefühlen Anfang März aufgekündigt. Als offiziellen Grund habe ich Zeitmangel angegeben. Tatsächlich ist mir dieses Thema zu »privat« geworden, um mich damit wissenschaftlich beschäftigen zu wollen. Alles klar, Emmi? Schönen Tag, Ihr Leo. (PS: Einerseits war meine »Abwesenheitsnotiz« die gerechte Strafe für Ihre aggressive Misstrauensnote. Anderseits haben Sie mir Leid getan. Sie haben mir eine wahnsinnig schöne, offene, aufrichtige und ausführliche Mitteilung geschrieben. Danke für jedes Wort! Jetzt haben Sie wieder ein paar Frechheiten gut.)
45 Minuten später
RE:
Sie haben Ihre Studie wegen uns beiden aufgegeben? - Leo, das ist schön, dafür liebe ich Sie! (Zum Glück ahnen Sie nicht, in welcher Weise ich Ihnen das gerade gesagt habe.) Ich muss jetzt mit Jonas zum Zahnarzt. Leider steht er noch nicht unter Vollnarkose. Das nur auf Ihre Frage, wie ich mit den Kindern zurechtkomme. Bis später, Emmi.
Sechs Stunden später
RE:
So, Leo. Ich sitze in meinem Zimmer, Bernhard arbeitet noch, Fiona nächtigt bei einer Freundin, Jonas schläft (mit zwei Zähnen weniger), Wurlitzer frisst Hundefutter (kommt billiger und Wurlitzer ist es egal, Hauptsache viel). Streifenhörnchen haben wir bekanntlich keines, das würde dem Kater vermutlich auch ganz gut schmecken. Die Möbel starren mich vorwurfsvoll an. Sie wittern Verrat. Sie drohen mir: Wehe, du verrätst, wie teuer wir waren, welche Farbe wir haben und welches Design! Das Piano sagt: Wehe, du erzählst ihm, dass Bernhard dein Klavierlehrer war! Und wie ihr euch das erste Mal geküsst habt und wie ihr auf mir gesessen seid und euch geliebt habt. Das Bücherregal fragt: Wer ist überhaupt dieser Leo? Was tut er hier? Warum verbringst du so viele Stunden mit ihm? Warum greifst du so selten auf mich zurück? Warum bist du so nachdenklich geworden? Der CD- Player sagt: Vielleicht kommt es noch so weit, und du wirst nicht mehr Rachmaninow spielen - du weißt, du und Bernhard, euch verbindet nicht zuletzt die Musik -, sondern du wirst dir anhören, was dieser Leo gerne hört, vielleicht die Sugar Babes! Einzig das Weinregal hält dagegen: Also ich habe nichts gegen diesen Leo, wir drei harmonieren gut miteinander. Das Bett aber gebärdet sich bedrohlich: Emmi, wenn du hier liegst, dann träume nicht von anderswo. Lass dich hier nie mit diesem Leo erwischen! Ich warne dich!
Leo, ich kann es nicht. Ich kann Ihnen diese Welt nicht mitteilen. Sie können niemals ein Teil davon werden. Sie ist zu kompakt. Sie ist eine Festung. Kann nicht erobert werden, duldet keine Eindringlinge, hält geschlossen dagegen. Leo, wir beide müssen »draußen« bleiben, das ist unsere einzige Chance, sonst verliere ich Sie. Sie wollen wissen, wie ich meine Ehe »meistere«? - Mit Bravour, Leo, ehrlich! Und Bernhard auch. Er verehrt mich. Ich achte und schätze ihn. Wir gehen respektvoll miteinander um. Er würde mich nie betrügen. Ich könnte ihn nie im Stich lassen. Wir wollen einander nie verletzen. Wir haben miteinander aufgebaut. Wir zählen aufeinander. Wir haben die Musik, das Theater. Wir haben viele gemeinsame Freunde. Fiona, die 16-Jährige, ist wie eine jüngere Schwester zu mir. Und für Jonas bin ich tatsächlich noch so etwas wie eine kleine Mama geworden. Er war drei, als seine Mutter starb.
Leo, zwingen Sie mich nicht, mein Familienalbum aufzublättern. Machen wir es bitte so: Ich erzähle von »daheim«, wenn mir echt danach ist, wenn wirklich einmal der Schuh drückt, wenn ich die Meinung von einem ganz, ganz engen Freund einholen will. Sie aber können mir jederzeit aus Ihrem Privatleben berichten, bis in die brisantesten Details. (Nur nichts Erotisches, das erlaube ich Ihnen nicht!)
So, und jetzt gehe ich ins Bett - und werde endlich wieder einmal gut schlafen. Leo, so schön, dass Sie wieder da sind!! Leo, ich brauche Sie! Ich muss mich auch außerhalb meiner Welt bewegen und spüren können. Leo, Sie sind meine Außenwelt! Und morgen reden wir über Marlene, dafür benötige ich einen klaren Kopf. Gute Nacht, mein Lieber! Gutenachtkuss!
Am nächsten Tag
Betreff: Marlene
Guten Morgen, Leo. Wenn es weder miteinander noch ohne einander geht, gibt es nur eine Möglichkeit: stattdessen! Leo, Sie brauchen eine andere. Sie müssen sich wieder verlieben. Erst dann wissen Sie, was Ihnen die ganze Zeit gefehlt hat. Nähe ist nicht die Unterbrechung von Distanz, sondern ihre Überwindung. Spannung ist nicht der Mangel an Vollkommenem, sondern das stete Zusteuern darauf und das wiederholte Festhalten daran. Leo, es hilft nichts, wir brauchen eine Frau für Sie! Sicher, es ist naiv zu sagen: Vergessen Sie Marlene! Aber tun Sie's trotzdem, und zwar wirklich. Folgender Vorschlag: Denken Sie statt an Marlene bewusst immer an mich! Sie dürfen sich alles mit mir vorstellen, was Sie mit Marlene gerne machen würden. (Meine Möbel schauen mich schon wieder einigermaßen an.) Ich meine, das ist nur ein Übergangsstadium, bis wir eine Frau für Sie gefunden haben. Was wollen Sie für eine? Wie soll sie aussehen? Los, sagen Sie's doch endlich! Vielleicht habe ich tatsächlich wen für Sie. Im Ernst: Eine Frau, die über uns sagt: »Wenn es gut für dich ist, ihr zu schreiben, dann schreibe ihr«, die ist kilometerweit von dem entfernt, was ich unter Liebe verstehe. Marlene liebt Leo nicht. Leo liebt Marlene nicht. Beide Nicht-Liebenden schöpfen aus der Sehnsucht nach der Liebe des anderen ihre Leidenschaft. So, klüger kann ich's nicht. Ich muss jetzt arbeiten. Bis bald. Emmi, die virtuelle Alternative.
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