So, lieber Leo, verstehen Sie jetzt, warum ich mich so fühle, wie ich mich fühle? LEO, STUDIEREN SIE MICH NUR? TESTEN SIE MICH ALS TRANSPORTERIN VON EMOTIONEN? BIN ICH FÜR SIE NICHTS ALS DER INHALT EINER KALTEN DOKTORARBEIT ODER SONST EINER GRAUSAMEN SPRACHSTUDIE?
40 Minuten später
AW:
Am besten, Sie holen dazu die Meinung von Ihrem Bernhard ein. Ich habe jedenfalls genug von Ihnen. Unter der Last Ihrer Emotionen würde ohnehin jedes Transportmittel einbrechen. Leo.
Fünf Minuten später
RE:
Nur weil Sie in den Gegenangriff übergehen, heißt das noch lange nicht, dass sich meine Sorge, von Ihnen sprachpsychologisch missbraucht zu werden, in Luft aufgelöst hat. Also bitte ich Sie um eine klare Antwort. Leo. Die sind Sie mir schuldig.
Drei Tage später
Betreff: Leo!
Lieber Leo, ich habe drei fürchterliche Tage hinter mir. Die Angst - ja, es war ein richtiger Panikanfall -, von Ihnen die ganze Zeit über für Studienzwecke verwendet worden zu sein, die hält sich die Waage mit der gegenteiligen Befürchtung: Vielleicht habe ich Ihnen Unrecht getan. Vielleicht habe ich durch meine vorschnelle Schuldzuweisung etwas zwischen uns zerstört. Ich weiß gar nicht, was schlimmer wäre, von Ihnen »betrogen« worden zu sein oder mit einer Attacke blinden Misstrauens unser behutsam angebautes und sorgsam gepflegtes Pflänzchen Vertrauen aus der Erde gehoben zu haben.
Lieber Leo, bitte versetzen Sie sich in meine Lage. Ich habe, das möchte ich Ihnen gestehen, schon lange mit niemandem so heftig Gefühle ausgetauscht wie mit Ihnen. Ich bin selbst am meisten darüber verwundert, dass das auf diese Weise möglich ist. Ich kann in meinen E-Mails an Sie so sehr die echte Emmi sein wie sonst nie. Im »wirklichen Leben« muss man, wenn es gelingen soll, wenn man den langen Atem haben will, ständig Kompromisse mit seiner eigenen Emotionalität eingehen: DA darf ich nicht überreagieren! DAS muss ich akzeptieren! DA muss ich darüber hinwegsehen! - Ständig passt man seine Gefühle der Umgebung an, schont die, die man liebt, schlüpft in die hundert kleinen Alltagsrollen, balanciert, tariert aus, wiegt ab, um das Gesamtgefüge nicht zu gefährden, weil man selbst ein Teil davon ist.
Bei Ihnen, lieber Leo, scheue ich mich nicht, so spontan zu sein, wie ich im Innersten bin. Ich überlege nicht, was ich Ihnen zumuten kann und was nicht. Ich schreibe einfach munter drauflos. Und das tut mir so wahnsinnig gut!!! - Und, das ist Ihre Leistung, lieber Leo, deshalb sind Sie für mich so unverzichtbar geworden: Sie nehmen mich so, wie ich bin. Manchmal bremsen Sie mich, gewisse Dinge ignorieren Sie, manches kommt Ihnen in die falsche Kehle. Aber Ihre Ausdauer, an mir dran zu bleiben, zeigt mir, dass ich so sein darf, wie ich bin. Und, darf ich wieder einmal ein bisschen Werbung für mich machen? - Ich bin viel, viel zahmer, als es in meinen E-Mails den Anschein hat. Das heißt: Mag da jemand schon die Emmi, die sich gehen lässt, die sich überhaupt nicht bemüht, gut dazustehen, die mit Feuereifer ihre negativen Eigenschaften hervorkehrt - ja, Leo, ich bin eifersüchtig, ich bin misstrauisch, ich bin ein bisschen neurotisch, ich habe keine prinzipiell extrem hohe Meinung vom anderen Geschlecht, vom eigenen übrigens auch nicht - jetzt habe ich den Faden verloren, also: Mag da jemand schon die Emmi, die sich gar nicht bemüht, gut zu sein, die eher ihre sonst unterdrückten Schwächen auslebt, wie mag er dann erst die Emmi, wie sie wirklich lebt, weil sie weiß, dass man sich den anderen nur bedingt so zumuten kann, wie man ist, ein Bündel von Launen, ein Container von Selbstzweifel, eine Komposition der Unstimmigkeiten.
Es geht aber nicht nur um mich. Leo, ich beschäftige mich ständig mit Ihnen. Sie besetzen ein paar Quadratmillimeter meines Großhirns (oder Kleinhirns, oder Hirnanhangdrüse, keine Ahnung, wo im Hirn man an so wen wie Sie denkt). Sie haben dort effektiv Ihre Zelte aufgeschlagen. Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben. Aber sind Sie nur ein Teil von diesem, so sind Sie schon ein ganz besonderer. Es sind Ihre Zeilen und meine Reime darauf: die ergeben so in etwa einen Mann, wie ich mir plötzlich vorstelle, dass es sein kann, dass es so jemanden wirklich gibt. Sie haben immer von Ihrer »Fantasie-Emmi« geschrieben. Ich bin vielleicht weniger bereit, mich mit einem »Fantasie-Leo« zufrieden zu geben, mir jemanden, den ich so gern mag, auf Dauer nur einzubilden. Der muss schon aus Fleisch, Blut und Ähnlichem sein. Und er muss einer Begegnung mit mir standhalten können. So weit sind wir noch nicht. Aber ich spüre in mir, dass wir unserer Begegnung mit schreiberischen Mitteln immer näher kommen können. Bis wir uns einmal gegenüberstehen. Oder gegenübersitzen. Oder knien. Ist ja egal.
Leo, nehmen wir die E-Mail, die ich Ihnen gerade schreibe: Die Vorstellung, dass Sie sie Wort für Wort abklopfen, um wissenschaftliche Erkenntnisse daraus zu gewinnen, um Beispiele zu zitieren, wie und womit man Emotionen transportieren kann, oder, noch schlimmer, womit man Emotionen beim anderen weсken kann, wie man schreiben muss, damit der andere emotionell hineinkippt, diese Vorstellung ist so grauenhaft, dass ich schreien könnte vor Schmerz!!! Bitte sagen Sie, dass unser Dialog nichts mit Ihrer Studie zu tun hat. Und bitte verzeihen Sie mir, dass ich das annehmen musste. Ich bin so ein Mensch: Ich muss vom Schlimmsten ausgehen, damit ich Immunkräfte aufbauen kann, mit denen ich es dann ertrage, wenn es sich wirklich als wahr herausstellt.
Leo, das war bisher meine längste E-Mail an Sie. Ignorieren Sie sie nicht. Kommen Sie wieder zurück. Brechen Sie Ihre Zelte nicht ab unter meiner Hirnrinde. Ich brauche Sie! Ich ... schätze Sie! Ihre Emmi.
PS: Ich weiß, es ist schon sauspät. Aber ich bin sicher, dass Sie noch munter sind. Und ich bin überzeugt davon, dass Sie noch in Ihre Mailbox schauen werden. Sie müssen mir jetzt nicht mehr antworten. Aber vielleicht schreiben Sie mir nur ein einziges Wort, damit ich weiß, dass Sie meine Nachricht erhalten haben? Ein Wort, ginge das? Es können auch zwei Worte sein, oder drei, wenn das leichter geht. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte.
Zwei Sekunden später
AW:
ABWESENHEITSNOTIZ. DER EMPFÄNGER IST VERREIST UND KANN SEINE E-MAILS ERST WIEDER AM 18. MAI AUFRUFEN. IN DRINGENDEN FÄLLEN WIRD ER VOM PSYCHOLOGISCHEN INSTITUT DER UNIVERSITÄT VERSTÄNDIGT. DIE E-MAIL-ADRESSE LAUTET: psy- uni@gr.vln. com.
Eine Minute später
RE:
Das ist das Letzte!
Acht Tage später
Betreff: Wieder da!
Hallo Emmi, ich bin wieder zurück. Ich war in Amsterdam. Marlene hat mich begleitet. Wir hatten wieder einen Anlauf genommen. Es war ein kurzer Anlauf. Nach zwei Tagen lag ich mit einer Lungenentzündung im Bett. Es war beschämend für mich, sie hat fünf Tage lang Fiebermesser geschüttelt und mich dabei bitter-gütig angelächelt, wie eine Krankenschwester im 30. Dienstjahr, die ihren Job hasst, aber ihre Patienten dafür nicht verantwortlich zu machen versucht. Amsterdam war das Gegenteil von dem, was ich mir darunter vorgestellt hatte, kein Neubeginn, sondern ein Alt-Ende, eines, worin wir in den Jahren ja schon große Routine gesammelt haben. Wir sind diesmal sehr respektvoll auseinander gegangen. Sie hat gesagt, wenn ich etwas brauche, ist sie jederzeit für mich da. Sie hat gemeint - irgendwas aus der Apotheke. Und ich habe gesagt: Wenn du dir wieder einmal einbildest, nicht ohne mich leben zu können, und ich mir noch immer sicher bin, nicht ohne dich leben zu können, dann fliegen wir einfach ein paar Tage nach Amsterdam - und beweisen uns das Gegenteil.
Ich habe Marlene übrigens von uns erzählt. Sie hat darauf reagiert, als wäre dieser Zustand kritischer als meine Lungenentzündung. Ich habe gesagt: Es gibt da eine Frau aus dem Internet, die mich sehr beschäftigt. Sie: Wie alt ist sie? Und wie sieht sie aus? Ich: Keine Ahnung. Zwischen dreißig und vierzig. Entweder blond, dunkel oder rot. Jedenfalls ist sie glücklich verheiratet. Sie: Du bist krank!
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