»Schuhe anziehen«, sagte er vorwurfsvoll zu Katharina.
»Ja«, sagte das Grosi, »macht vorwärts!«
Nun kam Katharina wieder in den Sinn, was sie hatte fragen wollen.
»Grosi«, sagte sie, »was machen wir mit Züsi?«
Die Großmutter sagte, sie hole gleich den Deckelkorb in der Küche, und Katharina solle Züsi einfangen und ihr bringen.
Kaspar war vom Gehörten begeistert. »Züsi fangen!« rief er, rannte mit seinem Schuh in der Hand zur Küchentür und warf ihn auf die Katze, die sofort die Treppe hinauf in den oberen Stock entwischte.
»Dumm, dumm, dumm!« rief Katharina ihrem Bruder zu, »so vertreibst du sie!«
Kaspar ließ sich nicht beirren und kraxelte die Treppenstufen hoch. Als ihm allerdings vom obersten Absatz die Katze entgegenfauchte, ließ sein Eifer etwas nach, und er blickte sich nach seiner Schwester um. Die ging an ihm vorbei auf Züsi zu, der sie ruhig zuzusprechen versuchte. »Komm«, sagte sie so lieb wie möglich, »komm, du darfst wieder nach Hause.«
Aber Züsi hatte offensichtlich keine Lust, nach Hause zu gehen, sie flüchtete vor Katharina die nächste Treppe hinauf, die in den obersten Stock führte, wo Johannes und Fridolin ihre Schlafkammern hatten. Dort war Katharina noch nie gewesen, und nur zögernd setzte sie ihren Fuß auf die erste Stufe. »Jetzt geht sie ganz hinauf!« schrie sie ihrem Bruder wütend zu, der nun den ersten Stock auch erreicht hatte.
»Kommt, Kinder!« rief die Großmutter von unten, »zieht euch zuerst an, dann kommt die Katze von selber herunter!«
Hinter Bäsis Tür begann die kleine Anna zu greinen. Die Tür öffnete sich, und die Base schaute verärgert heraus. »Was ist das für ein Mordskrach?« fragte sie, »jetzt habt ihr mir die Kleine geweckt!« Betreten schlichen Katharina und Kaspar an ihr vorbei und gingen die Treppe hinunter. Die Großmutter setzte Kaspar auf das Schuhbänklein und steckte ihm den einen Fuß in den Schuh, den er Züsi nachgeworfen hatte. Dann band sie ihm die Schnürsenkel zu, worüber Katharina sehr froh war, denn das konnte sie nur bei sich selbst. Wenn sie es bei Kaspar machen sollte, mußte sie sich hinter ihn stellen und ihm von hinten an die Schuhe greifen, damit sie die Schuhbändel vor sich hatte, als ob es ihre eigenen wären, und wenn sich Kaspar, dem das gar nicht gefiel, dabei umdrehte, dann war alles verloren, und sie konnte wieder von vorn anfangen.
»So, Didi, und deine Schuhe?« fragte die Großmutter.
Katharina war immer noch in den Socken und merkte, daß sie danebenstand und zuschaute wie jemand, der nicht mitkommt. Sie hatte weder begonnen, ihre Pelerine anzuziehen noch ihr Bündelchen zu packen.
»Ich komme nicht mit«, sagte sie. Das Blut schoß ihr in den Kopf. Was hatte sie da gesagt?
Das durfte man doch gar nicht. Sie war noch klein, so klein, daß man ihr nicht einmal eine Haarspange gab, die doch ihr gehörte, und die Großmutter war groß, und mit einem solchen Satz durfte man ihr nicht kommen. Aber eigentlich war es ihr, als hätte sie ihn gar nicht selbst gesagt, sondern eine zweite Katharina, die irgendwo in ihrem Bauch wohnte.
»Was hast du gesagt?« fragte die Großmutter denn auch prompt, und Katharina, die eigentlich sagen wollte, sie ziehe gleich die Schuhe an, wiederholte diesen verbotenen Satz nochmals: »Ich komme nicht mit.«
Sie senkte den Kopf, denn sie war sicher, daß sie gleich eine Ohrfeige bekäme oder daß sie das Grosi mindestens an den Zöpfen ziehe. Statt dessen fragte Grosi etwas Unerwartetes: »Wann willst du denn wieder heim?«
Das hatte sich Katharina nicht überlegt, aber die zweite Katharina meldete sich wieder, und ihre Antwort kam wie von selbst: »Morgen nach der Schule«, sagte sie, »ich kann doch von hier aus in die Schule, oder?«
Als die Großmutter keine Antwort gab, fügte sie hinzu: »Ich kenne ja den Weg.«
Und als die Großmutter immer noch stumm blieb, rief ihr die innere Katharina fröhlich zu: »Ich kann mit Lena hinuntergehen!«
Und je länger die große Großmutter schwieg, desto kleiner wurde sie, und desto größer wurde die Katharina in ihrem Innern.
»Du Trotzkopf«, sagte das Grosi.
Die beiden Katharinas jubelten lautlos. Sie wußten, daß sie gewonnen hatten.
Auch als die Großmutter noch hinzufügte: »Den Dickschädel hast du von deinem Vater«, hätte sie gerade so gut sagen können: »Also meinetwegen.« Und genau das sagte sie jetzt: »Also meinetwegen«, und damit es nicht allzu lieb klang, sondern ein bißchen streng, wie man das von einer Großmutter erwartete, ließ sie noch einen Nachsatz folgen: »Dann bleib halt.« Aber es klang nicht streng in Katharinas Ohren, sondern es klang wie ein lustiges Lied, bleiben durfte sie, wie gut hörte sich das an, sie fühlte sich wie der Floh im Elsaß, und auch als Grosi einen noch strengeren Satz anhängte, einen bösen eigentlich, damit wirklich klar war, daß sie streng und böse sein mußte mit einem derart unfolgsamen Kind, klang es für Katharina schmeichelnd und lieb, »dann geh ich eben mit Kaspar allein«, ja, dann sollte sie eben mit Kaspar allein gehen, das war genau das richtige, dann brauchte Katharina ihm nicht dauernd zu helfen, beim Brünzeln, beim Kotzen und beim Wassertrinken, und sie mußte auf niemanden aufpassen als auf sich selbst, und auch als jetzt die Base von oben rief, dann könne ihr ja die Didi die Kleine hüten, änderte das nichts an Katharinas Hochgefühl, denn die Didi, das war die Katharina, welche die andern kannten, die, die jetzt mit beiden Händen Kaspar die Pelerine hinhielt, aber irgendwo in ihr drinnen war die wirkliche Katharina, die kannte nur sie, die saß auf einer goldenen Kugel, mit einer silbernen Spange im Haar, und wußte genau, was sie zu tun hatte, und diese Katharina hatte sich durchgesetzt.
»Wollt ihr wohl?« sagte Katharina zu den Schafen, die auf der Türschwelle zu Grosis Zimmer standen. Sie waren als einzige nicht aus Knöchelchen gemacht, sondern aus kleinen Tannenzapfen, und als Beine hatten sie Streichhölzer. Ein feiner Duft nach Harz ging von ihnen aus.
Die Schafe blökten und wichen nicht von der Stelle. Als ob sie nicht wüßten, daß sie im Schlafgaden der Großmutter nichts zu suchen hatten.
»Dann muß der Sultan her«, sagte Katharina und holte den Hund, der auf einem der Ofentritte stehengeblieben war, als er eine Kuh hinaufgetrieben hatte. Sie stellte ihn hinter die kleine Herde, und nun bequemte sich ein Schaf nach dem andern, den langen Weg auf den Schieferofen unter die Füße zu nehmen, gefolgt vom schwarzen Sennenhund, der ihnen manchmal sogar nach den Hinterbeinen schnappte. Katharina, die auf den Knien rutschte, hob die Tiere auf und setzte sie in kurzen Abständen wieder auf den Boden, und so rückte die Herde langsam an den Fuß des Ofens.
Die kleine Anna war in einen Korb gebettet, der neben dem Ofen stand, und als der Hund wieder einmal ein langsames Schaf anbellte, begann sie zu weinen. Das war ärgerlich, denn die Schafe waren noch nicht an ihrem Ziel, und Katharina wollte sie zuerst zur Bauernfamilie bringen.
»Achtung, der Lämmergeier!« rief sie, packte zwei Schafe auf einmal und trug sie rasch auf den Ofen, wo sie mit tiefer Stimme »Brave Schafe!« sagte. Der Bauer hatte gesprochen. Dann verfuhr sie mit den andern ebenso, und nun war die ganze Familie mit allen Tieren auf dem Ofen versammelt, und Menschen, Schafe, Schweine, Kühe, Pferde, Ziegen und Hühner blickten vom Rand des Ofens in die Stube hinunter.
Jetzt holte Katharina das Kind aus dem Bettchen. Wie schwer so ein Säugling war! Sie ließ sich auf einem Stuhl am Tisch nieder und setzte sich das Kind aufs Knie. Das schien diesem zu gefallen, jedenfalls hörte es auf zu weinen und schaute sich in der Stube um.
»Alle sind dort oben«, sagte Katharina und zeigte zur Puppenfamilie. »Sie haben die Hühner gesucht, und jetzt haben sie sie gefunden. Siehst du die Hühner?«
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