Nun schlugen auch noch die Hunde an, und die Katzen miauten, und Katharina erwachte. Unter der Tür stand die Base mit Anna auf dem Arm und Kaspar an der Hand und blickte verwundert auf Züsi, das sich auf der Bettdecke räkelte und die Gestalten in der Tür betrachtete wie eine Königin ihre Untertanen. Kaspar schaute belustigt von Züsi zu der Base und von der Base zu Züsi.
»Wie kommt die Katze hierher?« fragte die Base.
Katharina erzählte ihr, wie Züsi heute vor der Haustür gewartet hatte, als sie in der Frühe am Brunnen Wasser holen gegangen sei.
Die Base schüttelte den Kopf. So etwas sei noch nie vorgekommen, sagte sie, was denn nur in das Tier gefahren sei, und wie es überhaupt den Weg gefunden habe. In der Küche gebe es Milch und Brot, und Katharina solle nicht vergessen, die Nachttöpfe zu leeren und wieder heraufzubringen.
Dann ging sie mit Kaspar und Anna die Treppe hinunter, und Katharina stand auf, öffnete die Fenster und stieß die Läden auf.
Auch heute keine Sonne, nur graue Wolken ringsum, Gras, Bäume und Blumen glänzten vor Nässe. Über dem Wald jagten drei Krähen mit lautem Krächzen einen Raubvogel. Im Vorgarten gackerten die zwei Hühner und liefen eilig zwischen den Blumen und den Rhabarbern hin und her.
Vom Weg her kam ein Spatzenschwarm geflogen und ließ sich offenbar auf dem Dach der »Bleiggen« nieder, denn gleich daraufschien es Katharina, als zwitschere das ganze Haus.
Als es vom Plattenberg herüber polterte, verstummten die Vögel einen Augenblick, um sofort wieder um so heftiger loszutschilpen.
Diesmal entdeckte Katharina die Stelle, aus der ein Fels herausgebrochen sein mußte. Über den obersten Baumwipfeln am Weg war in der Weite ein Räuchlein zu sehen, das aus einem frechen grauen Fleck mitten im Grün der Tannen aufstieg. Natürlich war nicht mehr zu sehen, wohin er gefallen war, der Fels, aber es gab immer nur eine Richtung, und das war die Tiefe, und in der Tiefe, das wußte Katharina, lagen die Schieferwerke, und gleich dahinter lag die »Meur«.
»Didi!« hörte sie aus der Küche rufen.
»Ich komme!« rief sie zurück.
Sie war noch gar nicht angezogen. Und was war mit den Nachttöpfen? Heute war Sonntag, also sollte sie vielleicht den Sonntagsrock anziehen, und der hing wohl immer noch in der Stube, oder lag in irgendeinem Schrank. Sie zog sich ihr graues Strickjäckchen über das Nachthemd an und ging zur Tür. Dann kehrte sie wieder um und holte vorsichtig die beiden Nachttöpfe unter dem Bett hervor. Die Base sollte nicht wieder schimpfen mit ihr. Langsam ging sie die Treppe hinunter, und dann durch den Gang auf den Abtritt zu. Die Tür war geschlossen, und dahinter hörte sie, wie jemand stöhnend mit der dicken Tante kämpfte. Der Kampf ging mit einem erlösten Aufatmen zu Ende, und Johannes trat heraus, in einem Schwaden von Gestank.
»Schau da, die Didi«, sagte er, und fügte dann hinzu: »Komm, gib mir die Nachthäfen.«
Er nahm sie ihr ab, leerte ihren Inhalt in die Latrine und gab sie ihr wieder zurück. Als er sah, daß sich Katharina die Schuhe anziehen wollte, sagte er, sie brauche die Nachttöpfe nicht spülen zu gehen, die seien sauber genug, und schnell huschte Katharina damit die Treppe hinauf, stellte die Töpfe unter das Bett und lief wieder hinunter, in die Küche, wo alle andern um den Tisch saßen, vor ihren Kacheln mit Kaffee oder Milch, und in der Mitte lag ein großer Laib Brot, von dem einige Stücke abgeschnitten waren.
»Da kommt unsere Schlafmütze«, sagte Paul lachend, und die Großmutter fragte Katharina, ob sie Milch wolle. Katharina errötete und nickte, und als der schöne weiße Strahl aus dem Krug in ihre Tasse floß und ihr Fridolin ein Stück Brot reichte, das nach Sonntag duftete, begann sie langsam daran zu glauben, daß es doch ein schöner Tag werden könnte.
Katharina stand auf einem Küchentaburett am Spültrog und versuchte mit einer Bürste die Kruste vom Boden der Pfanne zu kratzen. Sie hatte schon alle Teller und alle Kacheln abgewaschen und auf das Abtropfbrett neben dem Trog gestellt, den ersten Teller hatte sie an eine Kachel gelehnt, und die nächsten Teller an den ersten Teller, so daß sie nun schräg hintereinander standen wie eine Reihe von Suworows Soldaten, in die der Wind blies.
Das wäre doch eine kleine Arbeit für die Didi, hatte die Großmutter gesagt, und für die kleine Arbeit hatte sie »Ärbetli« gesagt, ein Wort, dem Katharina zutiefst mißtraute, denn fast immer stellte sich heraus, daß es sich um eine große, oft sogar besonders mühsame Arbeit handelte. Von einem »Ärbetli« sprach auch ihr Vater, wenn er sie in das Weinfaß schickte. Unten im Keller der »Meur« standen zwei große Weinfässer. War eines davon leer, konnte man beim Spund ein Türchen öffnen, das gerade groß genug war für ein Kind wie sie, und dann mußte sie hineinkriechen und die Wände und den Boden des Fasses mit einer Bürste und einem Scheuerlappen reinigen, während der Vater mit seiner Sturmlaterne hineinzündete. Das Weinfaß war so groß, daß sie sich in seinem Innern ganz aufrichten konnte, und als Katharina daran dachte, wie ihr Vater mit ihr die Kellertreppe hinunterstieg und wie er sie etwas hochhob, um ihr beim Hineinkriechen zu helfen, und wie er dann die ganze Zeit bei ihr blieb, um den weingetränkten Scheuerlappen auszuwringen, den sie ihm jeweils hinausreichte, und seinen Kopf durch das Türchen streckte, um ihr diese oder jene Stelle zu zeigen, wo der Weinstein noch nicht ganz weg war, und wie er sie wieder herunterhob, wenn sie fertig war, und er ihr dann eine ganze Handvoll Birnenschnitze gab, die er noch im Keller aus seiner Hosentasche zog, merkte sie, daß sie sich schon auf das nächste leere Weinfaß freute, obwohl ihr auch wieder mit Schrecken der Augenblick in den Sinn kam, als die Kerze in der Laterne erlosch und der Vater keine Streichhölzer bei sich hatte und nach oben gehen mußte, um welche zu holen und sie ganz allein im dunklen Keller zurückließ, im Bauch des noch dunkleren Weinfasses, umgeben von einer süßlich-sauer riechenden Finsternis, in der sie zu ersticken glaubte; damals hatte sie, auf den Knien und den Kopf am Türchen, laut und heftig zu weinen begonnen, zu brüllen fast, und als sich das schwankende Licht der Laterne wieder genähert hatte, bestand sie darauf, sofort aus dem Faß zu steigen, und der Vater mußte sie zuerst eine Weile in den Armen halten und ihr zusprechen, bevor sie wieder hineinkroch, um das »Ärbetli« zu beenden. Und sie wußte noch gut, wie er sie getröstet hatte, der Ätti, er hatte ihr gesagt, das könne eben einzig und allein sie machen, sie, Katharina, weil Jakob und Regula schon zu groß wären für die kleine Faßtüre, und wie froh er sei um sie, und daß er sonst gar nicht wüßte, wie er dieses Faß sauber bekäme.
Das hatte sie sonst nie gehört von ihm, daß er froh war um sie, und auch die Mutter hatte nie so etwas gesagt, nicht einmal, wenn sie bei der alten Elsbeth Eier holen ging. Wieso sollten Eltern auch froh sein um ihre Kinder? Kinder gab es einfach, sie kamen auf die rätselhafte Art zustande, über die Katharina ihre älteste Schwester zu befragen gedachte, sobald sie sie das nächstemal alleine sähe. Die Mutter hatte jedenfalls nicht ausgesehen wie jemand, der sich freut, als sie mit kalten Händen stöhnend in ihrem Bett lag.
Aber jetzt ging es ihr bestimmt wieder besser, sicher hatte sie viel Tee getrunken und lange geschlafen, außer wenn sie das Bébé geweckt hätte, weil es trinken wollte. Nun mußte also auch ihre Mutter einem Kleinen ihre Brust hinhalten, wie die Kläfi und die Base. Noch nie hatte Katharina die Brust ihrer Mutter gesehen, aber auf diesen Anblick war sie mindestens so gespannt wie auf den Anblick ihres neuen Schwesterleins.
Die Frauen hatten zwei Brüste, das war praktisch, wenn es Zwillinge gab. »Eine Mutter hat 2 Brüste und bringt Zwillinge zur Welt. Wieviele Brüste kommen auf ein Kind?« Katharina kicherte. So eine Rechnung würde nie im Büchlein stehen. Warum eigentlich nicht? Im Kapitel »Die Zahlen eins und zwei«? Von den Vätern stand doch auch alles mögliche in den Rechenaufgaben, zum Beispiel die wirklich kinderleichte Rechnung »Der Vater will unter seine 2 Kinder 2 Äpfel verteilen, wie viele Äpfel erhält jedes Kind?« Und darauf hatte Anna Elmer doch tatsächlich geantwortet: »Zwei«, Katharina konnte sich noch genau erinnern, vor allem weil Anna danach dem Lehrer Wyss ihre Hände hinhalten mußte und auf jedes eine Tatze bekam, das machte zusammen zwei Tatzen.
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