Das Heidelidum-Lied in der Stube unten war zu Ende, und diesmal stimmte Fridolin ein neues an, und zwar das vom Floh, der ins Elsaß wollte, um ein Fuder Wein zu bekommen.
Katharina mochte dieses Lied. Sie wußte zwar nicht, wo das Elsaß war, aber dort mußte es alles geben, denn es hieß vom Floh, er käme ins Schlaraffenland, beim linken Haus zur rechten Hand, und Katharina kam in den Sinn, wie der Vater vor ein paar Tagen gesagt hatte, wenn es so weiterregne, dann verfaulten die Kartoffeln wieder, und sie müßten wie letztes Jahr welche aus dem Elsaß kommen lassen. Kartoffeln gab es also dort im Überfluß, soviel stand fest. Aber daß die Kühe auf Stelzen gingen und der Esel auf dem Seil tanzte und die Geißen Stiefel anzogen, das war ein Witz, das kam nur im Lied vor, und dem Floh gefiel das so, daß er sich ein Haus kaufte und dort blieb, und vielleicht sollten sie alle zusammen ins Elsaß hinunter, Vater, Mutter, Anna, Jakob, Regula, sie und Kaspar und das Neugeborene, mit den Kühen und der Katze, und sich dort ein Haus kaufen, neben dem vom Floh, und dann könnten sie zuschauen, wie die Kühe auf Stelzen gingen, am Ende würde es ihre Lobe auch lernen, und auch Bleß und Stern, die noch auf der Falzüber-Alp waren, und die Menschen müßten selbst auf Stelzen steigen, um die Kühe melken zu können, der Esel auf dem Seil hielt die Stelzen bereit, und man hüpfte ganz leicht und locker über das Seil bis zum Esel, der in der Mitte stand und einen zu sich winkte, dann stellte man sich auf die Stelzen, und der Esel gab einem noch den Melkkübel in die Hand, aber der Sepp, der faule Hund, hatte seinen Kübel abgestellt und tanzte mit einer Magd, die hatte rote Stiefel an und einen Faltenrock, der herumwirbelte, und als sie einmal das Gesicht zu Katharina drehte, war es gar keine Magd, sondern eine Geiß, mit einer geknickten Nelke in der Schnauze, die nach unten hing, und sie richtete ihre glasigen Augen blitzschnell gen Berg und stampfte so fest auf den Boden, daß die Hirschgeweihe in den Häusern von den Wänden fielen und die Fensterscheiben klirrten und die Kuhschädel über den Tennstoren schief hingen.
Als Katharina aus dem Bett stieg, um sich auf den Nachttopf zu setzen, trat sie auf etwas Hartes und stieß einen kleinen Schreckensruf aus. Im schwachen Licht, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, sah sie ihre Holzpuppe, auf deren Kopf sie mit der Ferse gestanden war. Nachdem sie ihr Wasser ins Nachtgeschirr gelassen hatte, schob sie dieses unter die Bettstatt, packte Lisi und kroch mit ihr zusammen wieder unter die warme Decke. Neben ihr regte sich Kaspar und richtete sich auf.
»Muß brünzeln«, sagte er.
Ungern wand sich Katharina nochmals aus den Leintüchern, ging ums Bett herum und zog Kaspars Nachthafen darunter hervor.
»Komm«, sagte sie, hob die Decke auf und streckte ihm die Hand hin.
Katharina fürchtete, der Nachttopf werde überlaufen, so lange ließ Kaspar sein Wasser fließen.
»Bin fertig«, sagte er schließlich, stand auf und stieg wieder ins Bett.
Katharina stellte den Nachthafen mit leichtem Ekel unters Bett und sagte: »Wir haben ein Schwesterlein.«
»Wo?« fragte Kaspar.
»In der ›Meur‹«, antwortete Katharina, »zu Hause.«
»Kein Brüderlein?« fragte Kaspar.
»Nein«, sagte Katharina, »ein Schwesterlein.«
Es dauerte eine Weile, bis sich Kaspar hören ließ.
»Will trinken«, sagte er.
Katharina seufzte. Gerade hatte sie wieder ins Bett einsteigen wollen.
»Kannst du nicht warten?« fragte sie, »bald ist Morgen.«
»Hab Durst«, sagte Kaspar.
Katharina dachte daran, daß Kaspar gestern erbrochen hatte und vielleicht krank war.
»Wart«, sagte sie, »ich gehe in die Küche.«
Die Tür zum Schlafgaden stand immer noch ein wenig offen, Katharina stieß sie ganz auf und ging die Treppe hinunter, die leise knarrte. Sie betrat die Küche, die im spärlichen Morgendämmerlicht seltsam fremd aussah, so ganz ohne einen Menschen darin. Ein kalter Geruch von Kartoffeln und Kräuterschnaps hing über dem Tisch, das Geschirr von gestern abend stand samt der Pfanne auf dem Brett neben dem Spültrog, offenbar hatte niemand mehr abgewaschen.
Jetzt sah Katharina den großen Teekrug neben dem Wasserschaff. Sie faßte ihn am Henkel, hob ihn herunter und schaute hinein. Er war leer. Sie hielt ihren Finger ins Schaff. Das Wasser war lauwarm. Also mußte sie am Brunnen draußen frisches Wasser holen. Sie nahm sich eine Trinkkachel vom Brett, füllte mit dem Schöpflöffel etwas laues Wasser hinein, ging zum Spültrog und schüttete das Wasser aus.
Dann ging sie in den Vorraum, zog sich die Schuhe an und stopfte die Bändel mit hinein, so daß sie sie an ihren Füßen spürte. Ob die Haustür abgeschlossen war? Nein. Sie drückte die schwere Falle hinunter und traute ihren Augen nicht.
Durch den ersten Spalt, den die Tür freigab, schlüpfte Züsi, ihre Katze aus der ›Meur‹, und strich Katharina miauend um die Beine.
»Züsi, was machst du da?« fragte Katharina leise, kauerte sich nieder, die Kachel in der einen Hand, und streichelte die Katze mit der andern. Keine Verwechslung möglich, es war ihre Katze, das getigerte Muster des Fells, die schwarzen Pfoten und der weiße Fleck hinter dem Ohr. Von oben hörte sie Kaspar jammern. Wie konnte man laut und leise zugleich rufen?
»Ich komme!« zischte Katharina das Treppenhaus hinauf, stand auf und sagte zur Katze: »Wart hier.«
Dann ging sie über den Vorplatz zum Brunnen, am knurrenden Hund vorbei, dem sie ihr »Ruhig, Sauvieh!« zuwarf, mit sofortigem Erfolg, und hielt ihre Kachel unter den Wasserstrahl.
Behutsam lief sie zum Haus zurück, stellte die Kachel auf das Schuhbänklein, zog sich die Schuhe wieder aus und ging dann die Treppe hinauf, dicht gefolgt von ihrer Katze.
Ungeduldig erwartete sie der kleine Bruder, der hoch aufgerichtet im Bett saß. Als ihm Katharina die Kachel geben wollte, sah er die Katze.
»Züsi?« fragte er erstaunt.
»Ja«, sagte Katharina, »sie kommt zu Besuch.«
Und als Kaspar nicht aufhörte, auf die Katze zu starren, sagte sie: »Trink jetzt!« und hielt ihm die Kachel hin. Immerhin war sie seinetwegen bis zum Brunnen draußen in der Kälte gegangen.
Kaspar nahm die Kachel und trank mit heftigen Schlucken, ohne dabei die Katze aus dem Auge zu lassen, welche stets die Nähe von Katharinas Beinen suchte. »Fertig«, sagte er schließlich und gab die leere Kachel seiner Schwester zurück.
Diese stellte sie auf den Boden und überlegte, was sie tun sollte. Da sich im Haus noch nichts regte, kroch sie nochmals ins Bett. Mit einem schnellen Sprung war Züsi auf der Bettdecke und legte sich auf Katharinas Seite ans Fußende, rollte sich zusammen und blieb schnurrend liegen.
Kaspar kicherte. »Züsi kommt ins Bett«, sagte er.
»Sie will auch schlafen«, sagte Katharina, »es ist noch zu früh zum Aufstehen.«
Sie drehte sich von Kaspar weg zur Seite und lutschte am Daumen. Das tat sie zu Hause nur, wenn gar niemand zuschaute, denn sonst kriegte sie sofort eins auf die Hände von den Eltern, oder auch von den älteren Geschwistern, wenn diese sie dabei erwischten. Jetzt aber konnte ihr das niemand verbieten. Neben ihr lag Lisi, und am Bettende lag Züsi, und der Daumen im Mund war wie das Käslein im Märchen, das nie weniger wurde, und er machte ihren Mund saftig. Auf einmal dachte sie, schöner könne es gar nicht werden, und am allerschönsten wäre es, wenn sie ihr ganzes Leben lang so liegen bleiben könnte.
Draußen grollte es in der Ferne.
Im Schlafgaden des unteren Stockes hörte sie die Großmutter laut gähnen, und ihr Bett ächzte.
War das Paul, der im Zimmer nebenan aufstand? Oder ging er nur auf den Nachthafen, wie sie und Kaspar, und legte sich dann nochmals hin? Heute war Sonntag, da mußte man nicht so früh hinaus wie am Werktag. Blüemli wollte zwar trotzdem gemolken werden, die wußte nicht, daß es Sonntag war. Dafür mußte sie auch nicht zur Kirche. Katharina versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn einmal alle Kühe zur Kirche kämen und muhend vor der großen Tür ständen, auf dem Kiesplatz, oder zwischen den Gräbern des Friedhofs herumgingen und dort die Blumen und das Gras fräßen. Vielleicht wollten sie sich einmal versammeln, um Noah zu danken, der ihnen das Leben gerettet hatte vor der großen Flut, und die andern Tiere kämen auch, die Ziegen, die Schafe, die Hühner, und die Steinböcke, die Gemsen, die Murmeltiere und die Füchse, nur die Fische nicht, die waren ja auch ohne Noah am Leben geblieben. Das gäbe ein schönes Gedränge, da wüßten die Kirchgänger nicht mehr, was machen, und der Pfarrer Mohr auch nicht, vielleicht würde er versuchen, mit allen zusammen ein Lied zu singen, »Mein Augen ich gen Berg aufricht«, und die Kühe würden muhen, die Schafe blöken, die Ziegen meckern und die Hühner gackern, die Murmeltiere würden durch die Zähne pfeifen und die Gemsen und Steinböcke durch die Nasenlöcher, die Füchse würden heiser bellend zu den Hühnern schielen, während der Lehrer Wyss die Tasten des Harmoniums schlüge und der Siegrist dazu schwitzend den Blasbalg pumpte, und dann würde sich Noah im Himmel sicher freuen und würde Gott Vater holen und seinen Sohn und würde nach Elm hinunter zeigen, damit die beiden auch einmal etwas zu lachen hätten.
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