Er winkte mit der Hand ab und errötete. »Nicht der Rede wert«, sagte er. Ich wandte mich an Suhrab. Er trug neue Kleider: einen hellbraunen pirhan-tumban, der ihm eine Nummer zu groß zu sein schien, und eine schwarze Kappe. Er hatte den Blick gesenkt und spielte mit dem Infusionsschlauch, der sich auf der Bettdecke schlängelte.
»Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt«, sagte ich und reichte ihm meine Hand. »Ich bin Amin«
Er musterte meine Hand, dann mich. »Sind Sie der Amir Aga, von dem mir mein Vater erzählt hat?«, fragte er.
»Ja.« Ich erinnerte mich an die Worte aus Hassans Brief. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir z usammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!
»Auch dir bin ich sehr dankbar, Suhrab jan«, sagte ich. »Du hast mir das Leben gerettet.«
Er sagte nichts. Ich ließ die Hand sinken, als klar war, dass er sie nicht ergreifen würde. »Die neuen Sachen gefallen mir«, murmelte ich.
»Die sind von meinem Sohn«, sagte Farid. »Er ist aus ihnen rausgewachsen. Und Suhrab passen sie ganz gut, wie ich finde.« Suhrab könne bei ihm bleiben, sagte er, solange noch keine Unterkunft für ihn gefunden sei. »Wir haben zwar nicht viel Platz, aber was soll ich machen? Ich kann ihn schließlich nicht auf der Straße übernachten lassen. Außerdem haben meine Kinder schon Freundschaft mit ihm geschlossen. Ha, Suhrab?« Doch der Junge reagierte nicht; er hielt weiter den Blick gesenkt, drehte nur den Schlauch zwischen den Fingern.
»Ich wüsste gern«, sagte Farid zögernd, »was in diesem Haus passiert ist? Was ist zwischen dir und dem Talib vorgefallen?«
»Lass es mich so sagen: Wir haben beide bekommen, was wir verdient haben«, antwortete ich.
Farid nickte, drang nicht weiter in mich ein. Mir kam der Gedanke, dass wir irgendwann zwischen unserem Aufbruch von Peshawar und jetzt Freunde geworden waren. »Auch ich würde dich gern etwas fragen.«
»Was?«
Es fiel mir schwer zu fragen. Ich fürchtete die Antwort. »Rahim Khan«, sagte ich.
»Er ist gegangen.«
Mein Herz stolperte. »Ist er…«
»Nein, er ist einfach… gegangen.« Er reichte mir ein gefaltetes Stück Papier und einen kleinen Schlüssel. »Das hat mir sein Vermieter gegeben, als ich da war, um ihn zu sprechen. Er sagte, dass Rahim Khan einen Tag nach uns aufgebrochen ist.«
»Mit welchem Ziel?«
Farid zuckte mit den Achseln. »Das wusste der Vermieter nicht. Er sagte, Rahim Khan habe den Brief und den Schlüssel für dich hinterlassen und sei dann gegangen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich musste jetzt los. Bia, Suhrab.«
»Könnte er nicht noch eine Weile bleiben?«, sagte ich. »Du holst ihn dann später ab, ja?« Ich wandte mich an Suhrab. »Würdest du mir noch ein bisschen Gesellschaft leisten?«
Er zuckte mit den Achseln und sagte nichts.
»Natürlich«, antwortete Farid. »Kurz vorm Abendgebet hol ich ihn ab.«
In meinem Zimmer lagen noch drei weitere Patienten: zwei ältere Männer — einer mit Gipsbein, der andere anscheinend mit asthmatischen Problemen — und ein junger Kerl von fünfzehn oder sechzehn Jahren, dem man den Blinddarm entfernt hatte. Der mit dem Gipsbein gaffte uns unverhohlen an und ließ seine Blicke zwischen mir und dem Hazara-Jungen hin und her wandern. Im Zimmer ging es zu wie in einem Taubenschlag; meine Bettnachbarn bekamen jede Menge Besuch von ihren Angehörigen, alten Frauen in hellen shalwar-kameezes, Kindern und Männern mit gehäkelten Kappen. Sie kamen mit pakoras, naan, samosas, biryani. Manchmal verirrte sich auch jemand in unser Zimmer, so wie der große bärtige Mann, der, in eine braune Decke gehüllt, kurz vor Farid und Suhrab aufgetaucht war. Aisha hatte ihn etwas auf Urdu gefragt, doch war er ihr eine Antwort schuldig geblieben, hatte sich nur umgesehen und seinen Blick, wie mir schien, ein wenig länger als nötig auf mich gerichtet. Ein zweites Mal von der Krankenschwester angesprochen, hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und das Zimmer verlassen.
»Wie geht es dir?«, fragte ich Suhrab. Er zuckte mit den Achseln und blickte auf seine Hände.
»Hast du Hunger? Die Dame dort hat mir einen Teller biryani gegeben. Ich kann aber doch nichts essen«, sagte ich. Mir fiel nichts anderes ein. »Möchtest du’s?«
Er schüttelte den Kopf.
»Willst du mir was sagen?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
Eine Zeit lang saßen wir schweigend da, ich an dem hochgeklappten Kopfteil und zwei Kissen lehnend und Suhrab auf dem dreibeinigen Hocker neben dem Bett. Irgendwann döste ich weg. Als ich wieder aufwachte, hatte das Tageslicht ein wenig abgenommen, die Schatten waren länger geworden, und Suhrab saß immer noch neben mir. Nach wie vor betrachtete er seine Hände.
Nachdem Harid den Jungen abgeholt hatte, faltete ich Rahim Khans Brief auseinander. Ich hatte seine Lektüre so lange wie möglich hinausgezögert und las nun:
Amir jan,
Inshallah, dass dich der Brief erreicht und du in Sicherheit bist. Ich hoffe inständig, dich nicht in Gefahr gebracht zu haben und dass du Afghanistan nicht allzu ungastlich findest. Du bist seit dem Tag deines Aufbruchs in meinen Gebeten.
Du hattest all die Jahre Recht mit der Vermutung, dass ich Bescheid weiß. Hassan hat mir von dem Vorfall berichtet. Du hast dich falsch verhalten, Amir jan, aber vergiss nicht, dass du damals noch ein Junge warst. Ein verstörter kleiner Junge. Du warst damals schon zu hart gegen dich selbst und bist es heute noch — das habe ich hier in Peshawar deinen Augen angesehen. Doch ich hoffe, du bedenkst Folgendes: Von Leid verschont bleibt nur, wer kein Gewissen hat und ohne Güte ist. Ich wünsche dir allerdings, dass dein Leiden mit dieser Reise nach Afghanistan ein Ende findet.
Amir jan, es beschämt mich, dass wir dich über all die Jahre belogen haben. Dein Wutausbruch in Peshawar war nur allzu berechtigt. Du hattest einen Anspruch auf Aufklärung. So wie auch Hassan. Ich will nichts und niemanden entschuldigen, aber das Kabul jener Tage war eine seltsame Welt, in der manche Dinge wichtiger waren als die Wahrheit.
Amir jan, ich weiß, du hattest es als Junge oft schwer mit deinem Vater. Ich habe miterlebt und mitgefühlt, wie sehr du dich um seine Zuneigung bemüht hast. Dein Vater, Amir jan, war hin- und hergerissen zwischen dir und Hassan. Er hat euch beide geliebt, konnte aber Hassan nicht so lieben, wie er es gewünscht hätte, nämlich unverhohlen und wie ein Vater. Also hat er seine Verzweiflung an dir ausgelassen — an Amir, der gesellschaftlich akzeptierten Hälfte, jener Hälfte, die für die ererbten Reichtümer steht und für all die damit einhergehenden Privilegien. Wenn er dich sah, sah er sich selbst. Und seine Schuld. Du hegst immer noch Groll, und mir ist klar, dass es noch zu früh ist, Nachsicht von dir zu erwarten, aber vielleicht wirst du eines Tages einsehen, dass dein Vater, wenn er es dir schwer gemacht hat, im Grunde mit sich selbst hart ins Gericht gegangen ist. Dein Vater hat wie du unter Seelenqualen gelitten, Amir jan.
Ich kann dir kaum beschreiben, wie tief meine Trauer war, in die mich der Tod deines Vaters gestürzt hat. Ich habe ihn geliebt, nicht nur als Freund, sondern auch, weil er ein guter Mensch war, ja ein großer Mann. Und es liegt mir sehr daran, dir klar zu machen, dass Güte, wahre Güte, aus Reue erwächst, so wie bei deinem Vater. Ich glaube, dass alles, was er getan hat, sei es seine Mildtätigkeit gegenüber den Armen auf den Straßen, sei es der Bau des Waisenhauses oder seine Freigebigkeit, mit der er Freunden in Not geholfen hat — dass all das in der Absicht geschah, eine Schuld zu tilgen. Das ist, glaube ich, wahre Wiedergutmachung: Wenn Schuldgefühle Gutes hervorbringen.
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