Manchmal hob er die freie Hand und fuhr mit seinen kräftigen Fingern durch die Luft, als streichelte er ein unsichtbares Maskottchen. Unter dem zurückrutschenden Ärmel traten Male auf dem Unterarm zum Vorschein, wie ich sie sonst nur bei Obdachlosen in den heruntergekommenen Seitenstraßen von San Francisco gesehen hatte.
Seine Haut war viel heller als die der beiden Wachen, fast bleich, und unterhalb des schwarzen Turbans glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Auch sein Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing, war ungewöhnlich hell.
»Salaam-u-alaykum«, sagte er.
»Salaam.«
»Gib dir keine Mühe«, entgegnete er.
»Wie bitte?«
Mit flacher nach oben gestreckter Hand gab er einem der bewaffneten Männer einen Wink, und ehe ich mich’s versah, hatte der mir den Bart heruntergerissen und warf ihn mit einem Kichern in die Luft. Der Talib grinste. »Immerhin einer von der besseren Sorte. Aber so ist dir doch bestimmt wohler, oder?« Er spreizte die Finger, schloss sie zur Faust und spreizte sie wieder. »Die heutige Show hat dir, inshallah, gefallen.«
»Sollte das eine Show gewesen sein?«, fragte ich und massierte mir die brennenden Wangen. Ich hoffte, dass meine Stimme nicht verriet, wie groß mein Schrecken war.
»Was wäre sehenswerter als öffentlich vollstreckte Gerechtigkeit, mein Bruder? Da ist alles drin: Dramatik, Spannung. Und das Beste ist, sie wirkt erzieherisch.« Er schnippte mit den Fingern. Der jüngere der beiden Leibwächter zündete ihm eine Zigarette an. Der Talib lachte. Murmelte etwas in seinen Bart. Seine Hände waren zittrig, und fast hätte er die Zigarette fallen lassen. »Aber du hättest einmal mit mir in Mazar sein sollen. Im August 1998. Das war eine noch viel bessere Show!«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Wir haben sie den Hunden überlassen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich ahnte, worauf er hinauswollte.
Er stand auf, ging um das Sofa herum, einmal, zweimal. Dann setzte er sich wieder. Er sprach sehr schnell. »Wir sind von Tür zu Tür gegangen, haben Männer und Jungen nach draußen gerufen und sie an Ort und Stelle erschossen, vor den Augen ihrer Familien. Die sollten zusehen und sich für immer daran erinnern, wer sie sind und wohin sie gehören.« Er geriet fast ins Keuchen.
»Manchmal mussten wir die Türen eintreten und die Häuser stürmen. Und… und dann habe ich mit dem Maschinengewehr draufgehalten, so lange, bis ich vor lauter Rauch nichts mehr sehen konnte.« Er beugte sich vor, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen. »Du ahnst ja nicht, wie befreiend so was ist, in einem Raum voller Ziele zu stehen und die Kugeln zischen zu lassen, ganz ohne Hemmungen und in dem Wissen, etwas Gutes und Richtiges zu tun. Ein gottgefälliges Werk zu verrichten. Das ist unbeschreiblich.« Er küsste seine Gebetskette und drehte sich zur Seite. »Weißt du noch, Javid?«
»Ja, Aga Sahib«, antwortete der Jüngere. »Wer würde so etwas vergessen?«
Ich hatte von dem Massaker in Mazar-e-Sharif aus den Zeitungen erfahren. Gleich nachdem sie Mazar als eine der letzten Städte eingenommen hatten, waren die Taliban über die dort ansässigen Hazara hergefallen. Ich erinnerte mich, wie mir Soraya mit bleichem Gesicht die Zeitung mit dieser Meldung über den Frühstückstisch zugeschoben hatte.
»Von Tür zu Tür. Nur zum Essen und Beten haben wir kurze Pausen eingelegt«, fuhr der Talib fort. Er sprach wie von einer netten Party, an der er teilgenommen hatte. »Wir haben die Leichen auf den Straßen liegen lassen, und wenn irgendwelche Angehörigen versuchten, sie zu bergen, haben wir auch die erschossen. Wir haben sie tagelang auf den Straßen liegen lassen. Für die Hunde. Hundefleisch für Hunde.« Er drückte die Zigarette aus. Rieb sich die Augen mit zittriger Hand. »Du kommst aus Amerika?«
»Ja.«
»Wie geht’s der Hure dieser Tage?«
Ich verspürte plötzlich Harndrang und hoffte, es noch eine Weile auszuhalten. »Ich suche nach einem Jungen.«
»Tun das nicht alle?«, antwortete er. Seine Leibwächter lachten. Der Konsum von Kautabak hatte ihre Zähne grün verfärbt.
»Wenn ich richtig informiert bin, lebt er hier bei Ihnen«, sagte ich. »Sein Name ist Suhrab.«
»Frage: Was willst du von diesem Hurensohn? Und warum bist du nicht hier, bei deinen muslimischen Brüdern, um deinem Land zu dienen?«
»Ich bin eine lange Zeit fort gewesen«, war alles, was mir zu sagen einfiel. Mir drohte der Schädel zu zerspringen. Ich presste die Knie zusammen, um nicht die Kontrolle über meine Blase zu verlieren. Der Talib wandte sich den beiden Männern an der Tür zu. »Beantwortet das meine Frage?«, fragte er.
„Nay, Aga Sahib«, antworteten sie unisono und grinsten dabei.
Er richtete den Blick wieder auf mich. Zuckte mit den Schultern. »Sie sagen, das war keine Antwort.« Er zog an seiner Zigarette. »In meinen Kreisen gibt es Stimmen, die sind der Meinung, dass Hochverrat begeht, wer sein watan im Stich lässt, wenn es in Not ist und Hilfe braucht. Ich könnte dich dafür verhaften, ja sogar erschießen las sen. Macht dir das Angst?«
»Ich bin nur wegen des Jungen hier.«
»Macht dir das Angst?«
»Ja.«
»Das sollte es auch«, sagte er und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Drückte die Zigarette aus.
Ich dachte an Soraya. Das beruhigte mich. Ich dachte an ihr sichelförmiges Muttermal, an den elegant geschwungenen Hals, die strahlenden Augen. Ich dachte an den Abend unserer Hochzeit, wie wir uns im Spiegel unter dem grünen Schleier gegenseitig betrachtet hatten, wie sie errötete, als ich ihr flüsternd meine Liebe gestand. Ich erinnerte mich, wie wir zu einem alten afghanischen Lied getanzt hatten, ausgelassen, im Kreis, vor aller Augen und stürmisch beklatscht — die Welt, ein verwischtes Bild aus Blumen, Abendkleidern, Smokings und lächelnden Gesichtern.
Der Talib sagte irgendetwas.
»Pardon?«
»Ich fragte, ob du ihn sehen willst? Möchtest du ihn sehen, meinen Jungen?« Seine Oberlippe verzog sich zu einem höhnischen Grinsen, als er die beiden letzten Worte sagte.
»Ja.«
Die Wache verließ den Raum. Ich hörte eine Tür quietschen. Hörte einen harschen Befehl auf Paschto. Dann Schritte und mit jedem Schritt ein Klingeln von Glöckchen. Ich fühlte mich an den Affen-Mann erinnert, dem Hassan und ich immer durch Shar-e-Nau hinterhergelaufen waren. Für eine Rupie hatte er uns zuliebe seinen Affen tanzen lassen, der Schellen um den Hals trug. Das hatte ganz ähnlich geklungen.
Dann öffnete sich die Tür, und der Wachmann kehrte zurück. Er trug ein Kofferradio — einen Ghetto-Blaster — auf der Schulter. Ihm folgte ein Junge in einem weiten saphirblauen pirhan-tumban.
Die Ähnlichkeit war kaum zu fassen. Ganz und gar irritierend. Rahim Khans Polaroid hatte diese Ähnlichkeit überhaupt nicht erkennen lassen.
Er hatte die gleiche schmächtige Gestalt wie sein Vater, das gleiche runde Mondgesicht, das gleiche spitz zulaufende kleine Kinn, die gleichen Ohrmuscheln, verdreht, wie sie waren. Es war das chinesische Puppengesicht aus meiner Kindheit, das Gesicht, das sich während jener Wintertage über den aufgefächerten Spielkarten zeigte, hinter dem Moskitonetz, wenn wir im Sommer auf dem Dach meines Vaterhauses schliefen. Sein Kopf war kahl geschoren, die Augen waren dunkel geschminkt, und die Wangen schimmerten unnatürlich rot. Als er mitten im Raum stehen blieb, hörten die Schellen, die an seinen Fußgelenken befestigt waren, zu klingeln auf.
Er sah mich an, hielt meinem Blick eine Weile stand, wich ihm dann aber aus. Er schaute nach unten auf seine nackten Füße.
Eine der Wachen drückte einen Knopf. Es erklang Paschto-Musik. Tabla, Harmonium, eine klagende dilroba. Musik war letztlich wohl doch keine Sünde, solange sie den Taliban gefiel. Die drei Männer klatschten in die Hände.
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