Unser Wissen über ein Tier sowie Nahrung, Unterkunft und der Schutz, den wir bieten, sind Mittel, die Fluchtdistanz zu verringern. Wenn es gut geht, bekommen wir ein emotional stabiles, entspanntes Tier, das nicht nur bleibt, wo es ist, sondern gesund dabei bleibt, ein langes Leben lebt, immer seinen Teller leer isst, sich gemäß seiner Natur gesellig verhält und - stets das beste Zeichen - Nachwuchs bekommt. Ich weiß nicht, wie unser Zoo im Vergleich zu San Diego oder Toronto oder Berlin oder Singapur abgeschnitten hätte, aber einen guten Zooleiter hält nichts auf. Vater war ein Naturtalent. Was ihm an fachlicher Ausbildung fehlte, machte er durch Intuition und ein aufmerksames Auge wieder wett. Er sah ein Tier an und wusste, wie ihm zumute war. Er kümmerte sich um seine Schützlinge, und zum Dank waren sie fruchtbar und mehrten sich, manche davon im Übermaß.
Kapitel 10
Trotz allem wird es immer wieder Tiere geben, die aus einem Zoo ausbrechen wollen. Tiere, die in unpassender Umgebung gehalten werden, sind das offensichtlichste Beispiel. Jedes Tier hat einen bestimmten Lebensraum, den es auch im Zoo braucht. Wenn sein Gehege zu sonnig ist oder zu feucht oder zu leer, wenn sein Platz zu hoch oder zu offen liegt, der Boden zu sandig ist, die Äste zu licht sind, um ein Nest zu bauen, wenn der Futtertrog zu tief steht, wenn es nicht genug Schlamm gibt, um sich darin zu suhlen - und tausend weitere Wenns -, dann ist das Tier nicht zufrieden. Es genügt nicht, die äußere Erscheinung seines Lebensraums in der Wildnis zu kopieren - was man nachbilden muss, ist das Wesen dieses Raums. Jede Einzelheit in einem Gehege muss genau richtig - anders gesagt, auf die Grenzen der Anpassungsfähigkeit des Tieres eingestellt - sein. Der Teufel soll die schlechten Zoos mit ihren schlechten Gehegen holen! Weltweit bringen sie die Zoos in Verruf.
Ebenfalls zum Ausbruch neigen Tiere, die man ausgewachsen in freier Wildbahn fängt; oft sind sie schon zu fest in ihrer Umgebung verankert, um sich an einem neuen Ort noch einmal von Grund auf neu zu orientieren.
Doch selbst Tiere, die im Zoo zur Welt gekommen sind und die Wildnis nie gesehen haben, Tiere, die bestens an ihr Leben im Gehege angepasst sind und Menschen nicht als Bedrohung empfinden, geraten bisweilen in eine Erregung, die sie zu Fluchtversuchen treibt. In jedem lebendigen Wesen gibt es eine Spur Irrsinn, die sich in unerwartetem, manchmal unerklärlichem Verhalten äußert. Dieser Irrsinn kann nützlich sein, er ist notwendig für die Fähigkeit, sich anzupassen; ohne ihn würde keine Tierart überleben.
Aber ob nun irrsinnig oder nicht, ganz gleich aus welchem Grunde ein Tier ausbrechen will, sollte eines den Zookritikern klar sein: Tiere fliehen nicht irgendwohin, sondern sie fliehen vor etwas. Etwas in ihrem Territorium hat ihnen Angst eingejagt - das Eindringen eines Feindes, der Angriff eines Artgenossen, ein Geräusch - und hat sie in die Flucht getrieben. Der Fluchtinstinkt gewinnt die Oberhand. Im Zoo von Toronto - ein sehr schöner Zoo übrigens - habe ich gelesen, dass Leoparden aus dem Stand sechs Meter hoch springen können. Die Mauer auf der Rückseite unserer Leopardengrube in Pondicherry war nur fünf Meter hoch; Rosie und Copycat sind also anscheinend nicht deswegen dort geblieben, weil sie nicht herauskonnten, sondern weil sie keinen Grund hatten zu gehen. Ein Tier, das aus dem Zoo flieht, begibt sich vom Bekannten ins Unbekannte - und wenn es etwas gibt, was ein Tier wirklich hasst, dann ist es das Unbekannte. Entflohene Tiere verstecken sich in der Regel an der ersten Stelle, die ihnen Sicherheit verspricht, und gefährlich werden sie nur dem, der ihnen dabei in die Quere kommt.
Kapitel 11
Nehmen wir zum Beispiel den Fall des schwarzen Leopardenweibchens, das im Winter 1933 aus dem Züricher Zoo entwich. Sie war noch nicht lange im Zoo und vertrug sich, soweit man sah, mit dem männlichen Leoparden. Spuren von Prankenhieben ließen aber doch auf ein angespanntes Eheleben schließen. Bevor eine Entscheidung gefällt war, was weiter getan werden sollte, zwängte sie sich durch ein Loch in ihrer Käfigdecke und entschwand in die Nacht. Als bekannt wurde, dass eine wilde Raubkatze sich irgendwo in der Stadt versteckt hielt, geriet die Bürgerschaft in Aufruhr. Fallen wurden aufgestellt und Jagdhunde losgelassen. Aber die befreiten den Kanton nur von den wenigen streunenden Hunden, die es dort gab. Zehn Wochen lang fand sich keine Spur von dem Leoparden. Schließlich stieß ein Gelegenheitsarbeiter auf ihn, unter einer Scheune vierzig Kilometer vor der Stadt, und erschoss ihn. In der Nähe wurden Überbleibsel von Rehen gefunden. Dass eine große, schwarze tropische Katze über zwei Monate lang im schweizerischen Winter überleben konnte, ohne dass jemand sie sah, und dass diese Katze nicht im Traum daran dachte, jemanden anzugreifen, zeigt, dass Tiere, die aus einem Zoo entweichen, keine entflohenen Sträflinge sind, sondern einfach nur Geschöpfe der Natur, die einen Platz zum Leben suchen.
Und das ist nur einer von vielen Fällen. Wenn Sie eine Stadt wie Tokio auf den Kopf stellten und kräftig schüttelten - Sie würden staunen, was da an Tieren herausfiele. Nicht nur Katzen und Hunde. Da spannen Sie besser den Regenschirm auf, denn es würde Boa Constrictors, Komodowarane, Krokodile, Piranhas, Strauße, Wölfe, Luchse, Wallabies, Manatis, Stachelschweine, Orang-Utans und Wildsauen regnen. Und da dachten sie allen Ernstes, sie könnten - ha! Mitten im mexikanischen Dschungel, das stelle sich einer vor! Ha! Ha! Lächerlich, einfach lächerlich. Was die Leute sich denken!
Kapitel 12
Manchmal wird er wütend. Das liegt nicht an mir (ich sage kaum etwas), er redet sich selbst in Rage. Mit seiner eigenen Geschichte. Die Erinnerung ist ein Ozean, und er hüpfthoch oben auf den Wellen. Ich habe immer Angst, dass er einfach aufhört. Aber er redet weiter. Er will ja erzählen. Selbst nach so vielen Jahren geht ihm Richard Parker nicht aus dem Sinn.
Er ist ein so liebenswürdiger Mann. Jedes Mal wenn ich ihn besuche, kocht er mir ein südindisches Essen, ein vegetarisches Festmahl. Ich habe ihm einmal gesagt, ich äße gern scharf. Ich weiß auch nicht, wie ich auf eine dermaßen dumme Idee gekommen bin. Das war gelogen. Löffel um Löffel Joghurt gebe ich hinzu. Aber es nützt nichts. Jedes Mal dasselbe. Meine Geschmacksknospen strecken alle viere von sich, ich werde puterrot, Tränen schießen mir in die Augen, mein Kopf brennt lichterloh, und meine Eingeweide winden sich in Qualen wie eine Boa Constrictor, die einen Rasenmäher verschluckt hat.
Kapitel 13
Wenn Sie also in eine Löwengrube fallen, wird der Löwe Sie nicht deswegen zerreißen, weil er Hunger hat - glauben Sie mir, Zootiere bekommen reichlich zu fressen - oder weil er ein so blutrünstiger Geselle ist, sondern weil Sie in sein Revier eingedrungen sind.
Deswegen, um das hier nebenbei zu erwähnen, muss ein Löwendompteur im Zirkus immer als Erster in den Ring gehen, und zwar so, dass die Löwen ihn sehen. Damit gibt er ihnen zu verstehen, dass der Ring sein Territorium ist und nicht ihres, und er unterstreicht es mit Rufen, Auf-den-Boden-Stampfen und Peitschenknallen. Die Löwen werden kleinlaut. Sie fühlen sich unterlegen. Sehen Sie doch nur, wie sie hereinkommen - die mächtigen Jäger, »Könige der Tiere«, kommen angekrochen, lassen den Schwanz hängen, drängen sich an den Rand der Manege, die stets rund ist, damit sie keine Ecke haben, in die sie sich drücken können. Die Manege wird beherrscht von einem höchst dominanten Mann, einem Super-Alphatier, und seinen Dominanzgesten müssen sie sich unterordnen. Also reißen sie das Maul auf, setzen sich auf Kommando, springen durch papierbespannte Reifen, kriechen durch Röhren, gehen rückwärts, machen Rollen. »Ein komischer Kerl«, denken sie benommen. »So einen Oberlöwen habe ich noch nie gesehen. Aber er hält das Rudel in Schuss. Die Speisekammer ist gut gefüllt und - seid mal ehrlich, Leute - man hat immer was zu tun. Immer nur dösen ist doch auf die Dauer ganz schön langweilig. Und wir müssen ja nicht Rad fahren wie die Braunbären oder Teller auffangen wie die Schimpansen.«
Читать дальше