Babu ging an die Tür zwischen den beiden Käfigen und begann, sie aufzuziehen. In Erwartung seiner Beute verstummte Mahisha. Zwei Dinge hörte ich in der plötzlichen Stille - Vaters Worte »Vergesst diese Lektion niemals«, den Blick grimmig auf das Schauspiel geheftet; und das Meckern der Ziege. Sie musste schon die ganze Zeit geschrien haben, aber wir konnten sie nicht hören.
Ich spürte, wie Mutter mir die Hand auf mein pochendes Herz drückte.
Die Tür widersetzte sich mit einem schrillen Quietschen. Mahisha war außer sich - er sah aus, als würde er jeden Moment die Stäbe auseinander zwängen. Er schien hin- und hergerissen zwischen dem Impuls zu bleiben, wo er war - da wo er seiner Beute am nächsten war, sie aber nicht erreichen würde -, und jenem, zur weiter entfernten Tür im unteren Stock zu springen, die sich nun langsam öffnete. Er richtete sich auf und fauchte von neuem.
Die Ziege sprang in die Luft. Ich war überrascht - ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Ziegen so hoch springen können. Aber auf der Rückseite des Käfigs war eine hohe, glatte Betonwand.
Plötzlich gab die Tür nach und öffnete sich. Wieder war alles still, nur das Meckern der Ziege und das Klicken der Hufe auf dem Boden waren zu hören.
Ein schwarz-orangefarbener Blitz schoss vom einen Käfig in den anderen.
In der Regel bekamen die Großkatzen einmal die Woche nichts zu fressen, was die Nahrungsverhältnisse in der Natur nachahmte. Später fanden wir heraus, dass Vater Anweisungen gegeben hatte, Mahisha schon seit drei Tagen nicht mehr zu füttern.
Ich weiß nicht mehr, ob ich das Blut spritzen sah, bevor ich mich in Mutters Arme flüchtete, oder ob ich es später in der Erinnerung dazumalte, mit breitem Pinsel. Aber die Ohren konnte ich nicht verschließen. Was ich hörte, versetzte mich in äußerste vegetarische Panik. Mutter scheuchte uns hinaus. Wir waren hysterisch. Sie kochte vor Wut.
»Wie kannst du so etwas machen, Santosh! Das sind Kinder! Die Angst werden sie ihr Leben lang nicht mehr los.«
Die Stimme war erregt und bebend. Ich sah die Tränen in ihren Augen. Gleich ging es mir besser.
»Gita, mein Täubchen, es ist doch zu ihrem Guten. Was wäre denn gewesen, wenn Piscine eines Tages die Hand durch die Gitterstäbe gesteckt hätte, weil er das schöne gelbe Fell streicheln wollte? Besser eine Ziege als er, oder nicht?«
Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern. Er sah zerknirscht aus. Noch nie hatte er sie in unserer Gegenwart »mein Täubchen« genannt.
Wir standen dicht an sie gedrängt. Er kam zu uns herüber. Das Schlimmste war überstanden, aber die Lektion war noch nicht vorbei.
Vater führte uns zu den Löwen und Leoparden.
»In Australien gab es einmal einen Verrückten, der hatte den schwarzen Karategürtel und dachte, er kann es mit den Löwen aufnehmen. Aber da hatte er sich verrechnet. Und zwar sehr. Am Morgen fanden die Wärter nur noch seine halbe Leiche.«
»Ja, Vater.«
Die Himalaja- und die Lippenbären.
»Ein Tatzenhieb von diesen putzigen Gesellen, und ihr könnt eure Eingeweide im ganzen Gehege einsammeln.«
»Ja, Vater.«
Die Flusspferde.
»Mit ihren lustigen Mäulern zerkauen sie eure Leiber zu Brei. Sie können schneller laufen als ihr.«
»Ja, Vater.«
Die Hyänen.
»Die kräftigsten Kiefer des Erdballs. Lasst euch nicht erzählen, sie wären feige oder fräßen nur Aas. Sie sind es nicht und sie fressen alles! Die haben schon die ersten Stücke von euch im Maul, noch bevor ihr tot seid.«
»Ja, Vater.«
Die Orang-Utans.
»Stark wie zehn Männer. Sie brechen euch die Knochen wie dürre Äste. Ich weiß, wir hatten ein paar davon im Haus, als sie noch klein waren, und ihr habt mit ihnen gespielt. Aber jetzt sind sie groß und wild und unberechenbar.«
»Ja, Vater.«
Der Vogel Strauß.
»Sieht aus wie eine Witzfigur, oder? Aber glaubt mir, kaum ein Tier im Zoo hier hat mehr Kraft. Ein Tritt, und er bricht euch das Rückgrat.«
»Ja, Vater.«
Die Rehe.
»Was für anmutige Geschöpfe, nicht wahr? Wenn der Bock sich bedroht fühlt, greift er an, und die kurzen Geweihspitzen durchbohren euch wie Dolche.«
»Ja, Vater.«
Das Dromedar.
»Ein Biss von seinem sabbernden Maul, und euch fehlt ein Stück Fleisch.«
»Ja, Vater.«
Die schwarzen Schwäne.
»Ein Schnabelhieb knackt euch den Schädel. Mit einem Flügelschlag brechen sie euch den Arm.«
»Ja, Vater.«
Im Vogelhaus.
»Mit diesen Schnäbeln beißen sie euch die Finger durch wie Butter.«
»Ja, Vater.«
Die Elefanten.
»Keiner ist gefährlicher. Mehr Wärter und Besucher kommen durch Elefanten um als durch jedes andere Zootier. Ein junger Elefant wird euch in Stücke reißen und dann die Einzelteile zertrampeln. So ist es einem Unschuldsengel in Europa gegangen, der durch ein Fenster ins Elefantenhaus geklettert war. Die älteren Tiere haben mehr Geduld. Sie drücken euch wahrscheinlich an die Wand, oder sie setzen sich auf euch. Hört sich lustig an - aber malt es euch aus!«
»Ja, Vater.«
»Wir sind nicht bei allen gewesen. Aber glaubt nicht, die anderen Tiere sind harmlos. Alles Leben verteidigt sich, egal wie klein es ist. Jedes Tier ist wild und mörderisch. Es wird euch vielleicht nicht umbringen, aber es wird euch in jedem Falle verletzen. Es wird kratzen und beißen, und was habt ihr davon? Eine eitrige, geschwollene Wunde, hohes Fieber, zehn Tage Krankenhaus.«
»Ja, Vater.«
Wir kamen zu den Meerschweinchen, den einzigen anderen-neben Mahisha-, die auf Vaters Geheiß am Vorabend nichts zu fressen bekommen hatten. Vater schloss den Käfig auf. Er zog eine Tüte mit Futter aus der Tasche und streute es auf dem Boden aus.
»Seht ihr die Meerschweinchen?«
»Ja, Vater.«
Die Ärmsten waren so ausgehungert, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten, und stürzten sich gierig auf ihre Kornähren.
»Also die« - er beugte sich vor und nahm eins in die Hand -, »die sind nicht gefährlich.« Die anderen Meerschweinchen liefen sofort davon.
Vater lachte. Er gab mir das quiekende Meerschwein in den Arm. Die Lektion sollte auf einer heiteren Note enden.
Das Tier saß verschüchtert auf meinem Arm. Ein Junges. Ich ging zum Käfig und setzte es vorsichtig wieder ab. Sofort lief es zu seiner Mutter. Der Grund dafür, dass diese Meerschweinchen nicht gefährlich waren - dass sie nicht mit Zähnen und Krallen blutige Wunden schlugen -, war, dass sie so gut wie zahm waren. In der freien Natur ein Meerschwein mit der bloßen Hand zu fassen, das wäre, als ob man in die Klinge eines Messers fasst.
Der Unterricht war vorüber. Ravi und ich schmollten und sahen Vater eine ganze Woche lang nicht an. Auch Mutter ging ihm aus dem Wege. Als ich an der Rhinozerosgrube vorüber kam, hatte ich das Gefühl, die Nashörner sähen traurig aus, als vermissten sie den Gefährten, der sein Leben gelassen hatte.
Aber wenn man seinen Vater nun einmal liebt, was will man da machen? Das Leben geht weiter, und man nimmt sich in Acht vor Tigern. Ich selbst war ja ohnehin so gut wie tot, weil ich Ravi eines Verbrechens bezichtigt hatte, das gar nicht existiert hatte. Noch Jahre später, wenn er in der Stimmung war, mich zu quälen, flüsterte er mir zu: »Warte nur, bis wir zwei alleine sind. Die nächste Ziege bist du!«
Kapitel 9
Im Mittelpunkt der Kunst und Wissenschaft des Zoobetriebs steht es, die Tiere an die Gegenwart von Menschen zu gewöhnen. Dazu muss man die Fluchtdistanz verringern - den Abstand, den das Tier zu einem Feind hält. Ein Flamingo in der Natur fühlt sich nicht bedroht, wenn man auf hundert Meter Abstand bleibt. Kommt man näher, geht er zunächst in Fluchtbereitschaft. Nähert man sich noch weiter, fliegt er auf und landet erst, wenn die Hundert-Meter-Distanz wiederhergestellt ist oder Herz und Lungen erschöpft sind. Jedes Tier hat seinen typischen Abstand, und jedes wacht auf seine Weise darüber: Katzen mit den Augen, Rehe mit den Ohren, Bären mit der Nase. Nähert man sich mit einem Fahrzeug einer Giraffe, lässt sie einen bis auf zehn Meter heran; kommt man hingegen zu Fuß, läuft sie schon bei fünfzig Metern davon. Winkerkrabben bringen sich in Sicherheit, wenn man bis auf drei Meter an sie herankommt; Brüllaffen regen sich, sobald man die Sieben-Meter-Grenze an ihrem Baum überschreitet; die Schwelle von Wasserbüffeln liegt bei fünfundzwanzig.
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