»Heh! Was macht ihr beide da auf dem Baum? Lest ihr euch Romane vor?« Li Hand hatte mich entdeckt und fragte in lautem Ton.
»... Liebste, wenn du mich nicht erhörst, werde ich mich nicht zurückziehen, werde nicht aufgeben. Ich werde dir folgen. Still. Wohin du auch gehst. Ich werde am Boden knien und deine Fußspuren küssen. Ich werde an deinem Fenster stehen und auf den Lichtschein im Zimmer schauen; wenn das Licht angeknipst wird, werde ich da sein, bis es gelöscht ist. Ich werde wie eine Kerze für dich brennen. Bis ich heruntergebrannt bin. Du meine Liebste! Wenn ich für dich an Bluthusten sterbe und du mir gnädig bist, an mein Grab kommst und nach mir schaust, so will ich’s zufrieden sein. Wenn du für mich eine Träne vergießt, sterbe ich ohne Reue. Denn deine Tränen, du meine einzig Liebste, sind die wunderbare Medizin, die mich von den Toten wiederauferstehen und ins Leben zurückkehren lässt.«
Die Gänsehaut auf meinen Armen verschwand allmählich. Seine liebestollen Rezitationen rührten mich. Ich hatte nicht erwartet, dass seine große Verliebtheit in Shizi aus ihm einen Trunkenen, Tollen machen würde, nicht erwartet, dass er eine so blumige Sprache schreiben konnte, nicht erwartet, dass dieser Liebesbrief in eine tränenreiche Klage münden würde. Im selben Augenblick spürte ich, dass Wang Leber mir den Weg zeigte, dass er mir die Tür von der Kinderzeit in die Teenagerzeit weit aufstieß. Obwohl ich damals von der Liebe nichts wusste, war ich von diesem hellen Strahlen so gefangengenommen, dass ich ihm todesmutig entgegenstürzte, wie eine Motte, die ins lichterloh brennende Feuer fliegt.
»Wenn du sie so sehr liebst, liebt sie dich bestimmt auch.«
»Glaubst du wirklich?« Ganz fest drückte er meine Hand und seine Augen begannen wieder so magisch zu strahlen: »Glaubst du wirklich, dass sie mich lieben wird?«
Ich gab ihm einen festen Händedruck: »Auf jeden Fall! Und wenn es nicht klappt, dann sage ich meiner Tante Bescheid, damit sie vermittelt. Kleiner Löwe hört immer auf meine Tante.«
»Nein, das will ich nicht! Ich will mir nicht von anderen dabei helfen lassen. Gewaltsam gepflückte Melonen sind nicht süß . Ich möchte ihr Herz mit Ausdauer und Beharrlichkeit erobern.«
Li Hand schaute zu uns nach oben in den Baum: »Was treibt ihr da für einen Schabernack?«
Der Koch Wang griff einen Batzen Matsche und bewarf uns damit: »Hört auf, da herumzukrakeelen! Ihr verscheucht mir die Fische!«
Flussaufwärts kam ein rotblau gestrichenes, mit einem Dieselmotor betriebenes Patrouillenboot aus Stahlblech auf uns zugefahren, der Außenborder ratterte. Alle befiel eine heftige Unruhe. Reißend stürzten die Wassermassen flussabwärts, während das Boot langsam gegen die Strömung fuhr. Am Bug schlugen schäumend die Wellen hoch und teilten sich wie Feldraine zu beiden Seiten des Schiffkörpers in zwei Wellensäume, die auseinanderdrifteten und allmählich wieder zusammenliefen. Aus dem hellblauen Nebel, der über dem Fluss schwebte, stieg ein Geruch von verbranntem Diesel auf und verteilte sich bis zu unseren Nasen. Wohl zwanzig graue Möwen folgten dem kleinen Boot.
Es handelte sich um das Patrouillenboot des Kommunekomitees zur Geburtenplanung. Meine Tante Gugu benutzte das Boot als Fortbewegungsmittel. Klar, dass auch ihre Assistentin Kleiner Löwe mitfuhr. Der Kreis hatte das Boot zur Verfügung gestellt, weil man verhindern wollte, dass, wenn die Brücke während der Hochwassersaison überschwemmt war, am anderen Ufer Ordnungsverstöße ungeahndet blieben. Denn wer wusste, was dann in Sachen unerlaubte Schwangerschaften dort passieren würde? Um während der Hochwasserzeit an der Front der Geburtenplanung die knallrote Fahne hochzuhalten, damit es in unserer Kommune nicht zu überzähligen Kindern jenseits der Plansolls kam, dafür war dieses Boot unterwegs. Auf dem Boot gab es eine winzige Kajüte, in der man sich auf zwei Reihen mit Skyleder bezogener Sitzbänke niederlassen konnte. Am Heck befand sich ein mit Diesel betriebener 12-PS-Außenbordmotor, am Bug waren zwei Hochfrequenzlautsprecher befestigt, aus denen eine Mao-Hymne schallte. Es war eine Volksweise aus Hunan, eine liebliche, angenehme Melodie. Der Bug schwenkte um, und das Boot fuhr auf unser Dorf zu. Jemand hatte die Musik abgestellt. In der plötzlichen Stille stach das Rattern des Dieselmotors richtig ins Ohr. Jetzt ertönte auch Gugus heisere Stimme: »Unser großartiger Führer, der Vorsitzende Mao, heißt uns zu beherzigen, dass die Menschheit sich bescheiden soll und nur noch planvoll wachsen darf ...«
Als Gugus Boot in Sichtweite kam, verstummte Wang Leber augenblicklich. Ich sah, wie sein Körper zitterte, wie er mit halb geöffnetem Mund, mit tränenfeuchten Augen auf das Boot starrte. Als es die Flussmitte überquerte und Schräglage bekam, stieß er einen Schrei aus. Er fuhr zusammen, als wolle er in den Fluss springen. Das Boot kam nun in schnellem Tempo mit gleichmäßig tuckerndem Motor auf uns zu gefahren. Meine Tante und Kleiner Löwe kamen!
Bootsführer war der uns allen vertraute Qin Strom. Sein großer Bruder war nach der Kulturrevolution rehabilitiert worden und nun wieder Parteisekretär. Als Funktionär fühlte er sich durch seinen kleinen Bruder kompromittiert, wenn dieser auf dem Markt bettelte. Daran änderten auch dessen feine Umgangsformen nichts. Er versuchte, mit ihm zu verhandeln.
Qin Strom stellte eine ungewöhnliche Bedingung: »Besorg mir eine Arbeit in der Abteilung für Frauenmedizin der Kommunekrankenstation!«
»Du bist ein Mann. Wie willst du da auf der gynäkologischen Station arbeiten?«
»Es gibt doch viele männliche Frauenärzte!«
»Du verstehst aber nichts von Medizin!«
»Warum muss ich Mediziner sein, um dort zu arbeiten?«
»Nun gut!«
So wurde er zum Berufsbootsführer des Stationsboots der Abteilung für Geburtenplanung und arbeitete von da an mit meiner Tante zusammen. Wenn gefahren werden musste, fuhr er, wenn nicht gefahren wurde, saß er im Boot und döste.
Er trug sein Haar immer noch in der Mitte gescheitelt wie die Studenten der Bewegung des Vierten Mai, die man aus dem Fernsehen kennt. Auch im Hochsommer trug er seine dicke Schüleruniform aus Gabardine, in der Brusttasche steckten immer noch seine beiden Stifte – der Füller und der Zweifarben-Kuli –, aber seine Gesichtsfarbe hatte sich verändert. Er war sonnengebräunt. Mit beiden Händen hielt er das Steuerrad und manövrierte das Boot nahe an die Uferböschung auf den alten Weidenbaum zu. Er drosselte den Motor, dafür schallten die Hochfrequenzlautsprecher in so trommelfellerschütternder Lautstärke, dass uns die Ohren summten.
Links neben der schiefnackigen alten Weide war auf Geheiß der Kommune vorübergehend eine Anlegestelle für das Patrouillenboot errichtet worden. Vier mächtige Baumstämme hatte man in den Grund des Flusses getrieben, mit Draht Querhölzer daran festgemacht und darauf Bretter für den Bootssteg gelegt. Qin Strom machte das Boot fest und stellte sich vorn am Bug auf. Das Motorengeräusch erstarb, der Krach aus den Lautsprechern auch. Wir konnten nun wieder das Kreischen der Möwen und die klatschenden Wellen hören.
Gugu kam als erste aus der Kajüte. Als das Boot schwankte, verlor sie das Gleichgewicht, aber Qin Strom streckte ihr sofort eine Hand entgegen, um sie zu stützen. Sie wehrte ihn jedoch ab und sprang mit einem Satz auf den Steg. Trotz ihrer Wohlstandsspeckrollen hatte sie nichts von ihrem Elan verloren. Ich bemerkte einen blendend weißen Mullverband, den sie um die Stirn trug.
Als zweite verließ Kleiner Löwe die Kajüte. Kleinwüchsig und pummelig, wie sie war, sah sie mit dem großen Arzttornister auf dem Rücken winzig aus. Sie war wesentlich jünger als meine Tante, aber behäbiger. Ausgerechnet ihretwegen klammerte Wang Leber sich jetzt mit leichenblassem Gesicht und tränenvollen Augen an den Stamm der alten Weide.
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