Ich sagte nur: »Nun los, meine treuen Freunde! Wir wollen zu Tisch! Dem frechen Backe hören wir nicht mehr zu.«
Backe redete weiter: »Der Hof unseres Kommunebüros ist wegen seines schlechten Fengshuis genauso gefährdet. Seit Urzeiten sind bei uns in China die Haupttore der Amtssitze in den Präfekturen so gelegen, dass sie sich in Richtung Süden öffnen. Aber das Haupttor unserer Kommuneverwaltung geht nach Norden auf. Und dem Tor gegenüber befindet sich unser Schlachthof. Den ganzen Tag geht dort der Stahl blinkend hinein und kommt rot triefend wieder heraus. Bei diesem Gemetzel und Blutvergießen wird der Hauch des Todes auch bei uns Kommunegenossen Einzug halten. Ich bin hin zu unserer Amtsstube und habe mich erkundigt. Die hätten mich um ein Haar eingelocht, weil ich angeblich feudalistischen Aberglauben verbreiten würde. Und nun? Unser Parteisekretär Qin Tai Shan hat eine halbseitige Lähmung, sein kleiner Bruder Qin Shom ist unser Dorftrottel. Der neue Parteisekretär Qiu mit seinen zehn Mann hatte auf seiner Inspektionsreise in den Süden von Gaomi einen Verkehrsunfall. Mehrere Tote und Schwerverletzte gab es dabei zu beklagen. Es hat sie alle hinweggerafft, wie das Auslöschen einer Armee ... Das Fengshui lenkt die großen Zusammenhänge. Mit Härte ist ihm nicht beizukommen. Denn würden wir mit Härte reagieren, wenn wir es mit dem Kaiser zu tun bekämen? Bestimmt nicht! Und nebenbei, auch der Kaiser braucht ein gutes Fengshui.«
»Zu Tisch«, sagte ich wieder und knuffte Backe in die Seite. »Magister, das Fengshui ist wichtig, aber Essen und Schnaps sind genauso wichtig!«
Yuan Backe erwiderte nur: »Wenn die Kommuneverwaltung ihr Eingangstor nicht umbaut, wird es weiter zu Geisteskrankheiten kommen, und es wird ein Unglück geben. Wer’s nicht glaubt, kann abwarten und zusehen, was kommt.«
5
Wang Leber war in unerwiderter Liebe für Shizi entbrannt und stellte die verrücktesten Dinge an, die ihn im ganzen Dorf zum Gespött machten. Er war Thema Nummer Eins unseres Dorftratsches. Ich verspottete ihn nicht, denn ich konnte es ihm nachfühlen. Ich achtete ihn hoch, denn ich fand, dass diesem Genie in Sachen Liebe das gute Schicksal bisher verwehrt geblieben war. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Er war streng monogam, denn er liebte nur die eine, wahre ..., ein gefühlsstarker Romantiker, der, wäre das Glück ihm hold gewesen, ewig gültige Liebeslieder geschrieben und gesungen hätte.
Als wir noch Kinder waren, noch nichts von der Liebe zwischen Mann und Frau wussten, keimte seine erste Liebe auf. Damals verliebte er sich in Shizi. Ich erinnere mich wie heute an seinen vor vielen Jahren ausgesprochenen Stoßseufzer: »Kleiner Löwe ist aber hübsch!« Objektiv betrachtet ist Kleiner Löwe überhaupt nicht hübsch, man könnte sogar sagen, sie sieht nicht mal annehmbar aus. Meine Tante hat sie mir antragen wollen. Ich habe sie ausgeschlagen, mit der Ausrede, dass sie doch Wang Lebers Traumfrau sei und ich sie deswegen nicht wolle. Um ehrlich zu sein: Ich fand sie nicht hübsch genug. Für Leber jedoch war sie die schönste Frau auf Erden. Es gibt einen Ausdruck, der es genau trifft: Vor Liebe blind.
Nachdem er den ersten Liebesbrief an sie in den Kasten geworfen hatte, war er so ergriffen, dass er mich zum Flussufer schleifte und mich den ganzen Weg über mit seinen Gefühlen vollquatschte. Es war der Sommer 1970, wir hatten gerade unseren Abschluss an der Landwirtschaftlichen Mittelschule gemacht. Es gab Hochwasser, das Wasser brodelte, Getreidestroh, Tierkadaver trieben flussabwärts, darüber flog eine einsame Möwe dahin. Am Ufer, wo das Wasser ruhiger floss, saß Renmeis Vater beim Angeln. Unser Mitschüler Li Hand, der Sohn unserer Lehrerin, hockte neben ihm und sah ihm zu.
»Soll ich es Li Hand auch sagen?«
»Der ist doch noch klein. Er versteht das nicht.«
Wir kletterten auf die alte Weide, die auf halber Höhe an der Böschung des Deichs wuchs, und setzten uns auf einen Ast, der über das Wasser ragte. Die Zweige des Astes hingen ins Wasser und rührten immerfort viele kleine Wellenschnüre auf.
»Was gibt’s denn? Nun sag schon!«
»Du musst mir zuerst schwören, dass du das Geheimnis niemandem weitersagst.«
»Gut. Ich schwöre: Wenn ich Wang Lebers Geheimnis ausplaudere, will ich in den Fluss fallen und ertrinken.«
»Ich habe ... heute ... den Brief, den ich ihr geschrieben habe, eingeworfen«, sagte er mit kreideweißem Gesicht und bibbernden Lippen.
»Welchen Brief an wen? Was ist das überhaupt für ein feierlich ernster Ton? Hast du an den Vorsitzenden Mao geschrieben, oder was?«
»Wo denkst du hin? Was habe ich mit dem Vorsitzenden Mao zu schaffen? Ich habe ihr geschrieben. Ihr !«
» Ihr ? Wen meinst du?« Ich wurde ungeduldig.
»Du hast geschworen, dass du nie und nimmer mein Geheimnis preisgibst.«
»Nie und nimmer.«
»Wozu in die Ferne schweifen, sieh das Gute liegt so nah!«
»Hör auf, mich auf die Folter zu spannen!«
»Es ist ...«, Lebers Augen hatten seltsam zu leuchten begonnen. Wie von einem fernen Stern sprach er zu mir: »... meine Shizi ...«
»Warum schreibst du ihr? Willst du sie heiraten?«
»Wie kannst du nur so berechnend denken?«, erklärte Wang Leber voll Inbrunst. »Kleiner Löwe, meine Allerliebste! Dir will ich meine Jugend, meine ganze Lebenskraft in heißer Liebe zu Füßen legen. Meine Geliebte! Meine engste Vertraute! Nimm mir bitte nicht übel, dass ich wohl hundert Mal deinen geschriebenen Namen küsste ...«
Ich bekam eine Gänsehaut, mir lief es kalt den Rücken herunter. Wang Leber rezitierte augenscheinlich seinen Liebesbrief. Er hielt mit beiden Armen den Baumstamm umfangen, Tränen glitzerten in seinen Augen, als er sein Gesicht gegen die raue Rinde presste.
»Seit ich dich bei Renner zu Hause zum ersten Mal sah, hast du mich nicht mehr losgelassen. Von jenem Augenblick an bis jetzt und bis in alle Ewigkeit schlägt mein Herz nur für dich. Wenn du mein Herz willst, gebe ich es dir. Selbst wenn du es essen wolltest, risse ich es mir ohne Zögern aus dem Leibe. So verliebt bin ich in deine geröteten Wangen und die quirlige Nasenspitze, deine samtweichen Lippen, dein wuscheliges Haar und deine strahlenden Augen. Ich bin vernarrt in deine Stimme, deinen Geruch, dein Lächeln. Und wenn du lächelst, will mir schwindlig werden, verschwimmt mir alles vor Augen. Dann will ich dir zu Füßen knien, deine Beine umfassen und dein Lächeln anschauen.«
Der Koch Wang riss die Angel schwungvoll hoch und mit einem Ruck nach hinten. Von der blitzenden Schnur spritzten die Wassertropfen wie Perlen. Sie glitzerten im Sonnenlicht. Die teeschalengroße, sandfarbene kleine Weichschildkröte am Angelhaken knallte heftig auf die Uferböschung. Durch den Aufprall war sie benommen. Niedlich und erbärmlich zugleich sah sie aus, wie sie auf dem Rücken lag, ihren weißen Bauch zeigte und alle viere gen Himmel streckte.
Li Hand rief fröhlich: »Eine Schildkröte!«
»Liebste, ich bin nur ein Bauernsohn, habe eine schlechte Herkunft. Du bist Frauenärztin, ernährst dich von gekauftem Getreide. Das gesellschaftliche Ansehen von uns beiden ist sehr unterschiedlich. Vielleicht würdigst du mich keines Blickes. Vielleicht ertönt nur ein abschätziges Lachen aus deinem hübschen kleinen Mund, wenn du meinen Brief zu Ende gelesen hast. Und dann zerreißt du ihn. Oder du liest ihn gar nicht erst und wirfst ihn sofort in den Papierkorb. Aber ich möchte dir, Liebste, meine Allerallerliebste, sagen: Wenn du meine Liebe erhörst, werde ich wie der wilde Tiger sein, dem Flügel gewachsen sind, wie das edle Ross, das seinen Sattel gefunden hat: Ich werde unbändige Kräfte besitzen. Wie wenn man eine Spritze Hühnerblut bekommt, werde ich vor Energie strotzen. Dann werde ich auch Brot und Milch haben! Ich werde mit deiner Unterstützung auch zu einem werden, der Lebensmittel im Laden einkauft. Ich werde meinen gesellschaftlichen Status ändern, wenn ich nur mit dir zusammen sein kann.«
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