»Ich habe keine Virginia«, erinnerte ihn Curry. »Auf mich wartet niemand. Und wenn du Recht hast und ich mich in dieses Land verliebe, werde ich wenigstens eine Liebe haben. Du musst zugeben, dass es die reinste und jungfräulichste wäre, die man nur haben kann.«
»Sie wird dich verschlingen.«
»Dich nicht?«
»Doch, ich fürchte, mich auch.«
Jahre später würde sich Jimmie an dieses Gespräch in der stillen Dunkelheit der Gran Sabana wie an eine schmerzhafte, unausweichliche Vorahnung erinnern.
Jimmie hielt sich nicht gerade für einen Hellseher, was das Verhalten von Menschen anging; doch als er sah, wie sich sein Freund verändert hatte, seit sie sich im wilden Land des Escudo Guayanés befanden, war ihm klar geworden, dass es Curry erwischt hatte.
Dick Curry war in einem Arbeiterviertel von Detroit zur Welt gekommen und zwischen Öl, Motoren und dem Gestank von Benzin groß geworden. Er war dem Bier, dem Baseball, dem Rennfahren und den Frauen verfallen. Doch jetzt, mit fünfunddreißig Jahren, hatte er plötzlich eine leidenschaftliche Sehnsucht entwickelt: nach reiner Luft, dem Geruch feuchter Erde, der Stille der Nächte und offenen Landschaften, die keinen Horizont kannten.
In diesem Augenblick wusste Jimmie jedoch nicht so recht, ob er sich für seinen Freund freuen oder ihn bedauern sollte.
Jahre später sollte er noch viel Zeit haben zu bereuen, dass er zur Entstehung dieser ungezügelten Leidenschaft beigetragen hatte.
Jetzt aber sah er nur zu, wie sich sein Gefährte auf dem Boden ausstreckte und den sternenübersäten Himmel betrachtete.
»Ich habe mal in einer Zeitschrift gelesen, dass die Polynesier alle Sterne des Firmaments wiedererkennen können. Sie wissen, an welchem Punkt des Firmaments sie entstehen und wo sie erlöschen. Deshalb sind sie so gute Seefahrer.« Als sein Freund schwieg, fragte er: »Weißt du auch so viel über die Sterne?«
»Ich habe unzählige Nächte im Freien verbracht. Ich kenne mich ein bisschen aus, aber nicht so gut wie die Polynesier.«
»Wäre es nicht herrlich, mehr darüber zu wissen? Dann könntest du dich da oben nie verirren!«
»Ich gehöre der alten Schule an«, erklärte der Pilot. »Ich fliege nicht gern nachts. Dann ist man immer darauf angewiesen, dass einen irgendwer am Boden bemerkt, und dann stellt er auch noch die Landebeleuchtung falsch auf, so wie es uns in Managua passiert ist. Aber du hast Recht. Die Luftfahrt macht eine rasante Entwicklung durch. Von Tag zu Tag gibt es mehr Flughäfen mit elektrischer Beleuchtung. Es wäre nicht schlecht, wenn ich einen Schnellkurs in Astronomie machen würde.«
»Wo ist eigentlich der Polarstern?«
»Dort drüben. Siehst du den Großen Bären? Etwas höher rechts, das ist der Polarstern.«
»Und er zeigt immer den Norden an?«
»Immer.«
»Das genügt mir.«
»Sei nicht albern«, schimpfte der König der Lüfte. »Du bist zum ersten Mal in einer vollkommen anderen Welt, hast keine Ahnung, wo du dich befindest und was um dich herum los ist, und glaubst, wenn du weißt, wo der Polarstern ist, kann dir nichts passieren?«
»Es ist ein Anhaltspunkt«, erwiderte der andere schlicht. »Und das ist mehr, als ich bisher hatte.« Er schwieg einen Augenblick, ohne die Augen vom Himmel abzuwenden, und sagte dann nachdenklich: »Vielleicht irre ich mich, aber irgendwie habe ich das seltsame Gefühl, dass ich zum ersten Mal im Leben eine absolut klare Vorstellung davon habe, wo ich bin. Ab jetzt wird alles, was ich tue, allein von mir selbst abhängen.«
»Du vergisst, dass hier die Natur das Sagen hat«, warnte Jimmie. »Wäre es das Paradies, dann würde es nur so von Menschen wimmeln. Aber in Wirklichkeit trifft man keine Seele an.«
»Gerade diese Einsamkeit macht das Land zum Paradies. Die Natur kann noch so brutal sein, trotzdem sind ihre Gesetze logisch, daran glaube ich fest. Da, wo wir herkommen, scheint mir vieles ziemlich absurd.« Er lächelte. »Und außerdem ist es voller Menschen.«
»Du wirst ja wirklich langsam zum Philosophen«, wunderte sich Jimmie grinsend. »Wer hätte das gedacht?«
»Wenn man ein halbes Leben hinter der Theke gestanden und zugesehen hat, wie sich die Leute zu Tode saufen und über ihr Leid, ihre Ängste und Sehnsüchte jammern, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich eine Philosophie von der Welt zurechtzubasteln, ob man will oder nicht. Und es ist eine schmutzige Welt, das kannst du mir glauben.«
»Da hast du allerdings Recht. Ich habe Kollegen erlebt, die ihr Leben in einem alten Flieger riskiert haben, um ein paar Dollar zu verdienen, mit denen sie sich besaufen konnten, um zu vergessen, dass sie ihr Leben riskiert hatten, um ein paar Dollar zu verdienen, mit denen sie sich besaufen konnten. Und nicht wenige haben sich umgebracht. Was ist das für eine Welt? Wie konnte sich alles so verändern?«
Doch auf diese Frage hatte keiner eine Antwort. Also verfielen sie in Schweigen und beobachteten am Boden ausgestreckt den sternenübersäten Himmel über ihren Köpfen, bis sie einschliefen. Der eine froh darüber, dass er endlich seinen Weg gefunden hatte, und der andere besorgt, weil er aus Erfahrung wusste, dass der Weg, den sein Freund eingeschlagen hatte, mit Fallgruben gespickt war.
Die Wolken wurden dichter.
Mit ihnen kam der Regen.
Wolken und Regen spiegelten die Seele des Berglandes von Guayana. Eine Seele, die sich scheinbar nur von Wasser und dem verhangenen Himmel ernährte, um anschließend einen stickigen, feuchten Dunst auszustoßen, der rasch aufstieg und den Himmel, der für kurze Zeit leuchtend blau und sauber gewesen war, erneut verdunkelte.
Es kam einem vor wie das Ausdehnen und Zusammenziehen eines riesigen Herzmuskels, der sich niemals eine Pause gönnte.
Es war eine trostlose und zugleich enorm faszinierende Landschaft.
Wasser, das vom Himmel fiel, und Wasserdampf, der vom durchnässten Boden zum Himmel aufstieg.
Ruhige Flüsse, die sich urplötzlich in reißende Ströme verwandelten.
Tafelberge, die häufig nicht größer waren als ein paar Fußballfelder, aber so viel Wasser aufnehmen mussten, dass sie gewaltige Wasserfälle hervorbrachten.
Spiegelglatte Lagunen.
Seltene Fische.
Grausame Piranhas.
Kuriose Seekühe, die stets auf der Hut waren und nur für kurze Augenblicke an die Wasseroberfläche kamen, um Luft zu holen.
Weiße Reiher.
Rote Ibisse.
Schwarze Wildenten.
Und eine erdrückende Schwüle.
Jeden Morgen starteten sie bei Sonnenaufgang und flogen so lange, bis dichte Wolken oder das Stottern des Motors, der seinen Geist aufzugeben drohte, sie zur Landung zwangen.
Dann verstrichen ein, zwei oder drei Tage, einmal sogar eine ganze Woche, ohne dass sie abheben konnten, weil dichter Nebel über der Landschaft hing.
Es war zum Verzweifeln.
Eintönig und deprimierend.
Jimmie Angel und Dick Curry hatten einen verhängnisvollen Fehler begangen, als sie Mitte Juni in diese Gegend gekommen waren. Es war Winter, so seltsam dies auch anmuten mochte, und die hohen Temperaturen und sintflutartigen Regenfälle führten zu der intensiven, anhaltenden Verdampfung.
Doch bis September konnten sie auf keinen Fall warten.
Die Zeit lief ihnen davon.
Und mit ihr das Geld.
Zweimal mussten sie nach Ciudad Bolívar fliegen, um die Maschine aufzutanken, die Reservekanister aufzufüllen und Proviant zu kaufen. Ein Monat war vergangen, aber sie hatten nicht einmal ein Zehntel des Gebietes erforscht, wo sich laut Aussage des Schotten der Heilige Berg befinden musste.
Wasser, Wolken und Dampf…
Und ein überlasteter Motor.
Sie saßen unter der sich allmählich auflösenden Plane, die sie an die Tragfläche der alten Maschine gespannt hatten, und schlugen die Zeit tot. Von Tag zu Tag wurde es schwerer, gegen die Enttäuschung und Verbitterung anzukämpfen, die sich mehr und mehr in ihre Herzen fraß, als ihnen ihr klägliches Scheitern bewusst wurde.
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