Einige Minuten lang beobachtete er diese ungewöhnliche Frau. Dann stand er auf und verließ auf Zehenspitzen das Abteil. Die Tür ließ er leise hinter sich ins Schloss schnappen.
Im Gang blickte er durchs Fenster auf die Landschaft, die hier genauso trübe und deprimierend war wie auf der anderen Seite. Er schüttelte mehrmals den Kopf, als hätte er das, was er gerade gehört hatte, immer noch nicht verdaut, und ging dann langsam zum Speisewagen.
Er hatte sein Mittagessen bereits bestellt und wollte gerade einen Schluck von dem kalten Bier nehmen, als er lautes Geschrei hörte. Vor Schreck fuhr er zusammen und hätte sich um ein Haar das Bier über sein feines Jackett geschüttet.
»McCracken! John McCracken! Nicht zu fassen!«
Als er aufsah und den kräftigen, sonnengebräunten Mann mit dem breiten Grinsen erkannte, der vor ihm stand, stieg ein tiefes Glücksgefühl in ihm auf.
»Jimmie!«, rief er. »Jimmie Angel! Bin ich froh, Sie zu sehen.«
Bewegt schüttelten sie sich die Hand. Der Pilot hielt sie noch fest, als er sich seinem alten Freund gegenüber setzte.
»Mein Gott!«, wiederholte er immer wieder. »Der große John McCracken! Herr über Gold und Diamanten! In all diesen Jahren hat es keinen einzigen Tag gegeben, an dem ich nicht an Sie gedacht habe.«
»Auch ich denke oft an Sie«, antwortete McCracken. »Aber erzählen Sie… Was macht der König der Lüfte in diesem Zug, der wie eine Schnecke durchs Land kriecht? Hier sind Sie doch nicht in Ihrem Element.«
»Dann verraten Sie mir mal, wie ich bei diesem verdammten Staub fliegen soll? Ich wurde angeheuert, um eine Maschine zu transportieren, und jetzt muss ich sie in einem Zug befördern lassen. In dieser Gegend kann man seit Jahren nicht mehr fliegen.«
»Ja, ich weiß. Und schuld daran sind die Büffel.«
»Wie bitte?«, fragte der König der Lüfte verwundert.
»Ach nichts. Ich habe nur laut gedacht.« Er rief den Kellner, damit er seinen Gast bediente. »Erzählen Sie… Wie ist es Ihnen ergangen? Was haben Sie in all der Zeit gemacht?«
»Oh, einen Haufen verschiedenster Dinge!«, antwortete der Pilot fröhlich. Er trug immer noch sein ewiges Grinsen zur Schau. »Aber das Wichtigste ist, dass ich zwei Jahre in China war.«
»In China?«, staunte McCracken. »Was zum Teufel hat Sie denn dahin verschlagen?«
»Man hatte mich engagiert, um die Luftwaffenpiloten Chiang Kaisheks auszubilden. Leider musste ich bald feststellen, dass es keine Antikommunisten waren, sondern eingefleischte Faschisten. Also habe ich den Job an den Nagel gehängt und bin zurückgekehrt. Danach habe ich im Filmgeschäft mitgemischt.«
»Im Filmgeschäft?« Der Schotte kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie jetzt ein Filmstar sind?«
»Von wegen Filmstar! Ich habe bei den Flugszenen als Stunt gearbeitet und mir dabei das Bein und vier Rippen gebrochen, aber die Bezahlung war gut.«
»Sie werden sich wohl nie ändern, was? Da, wo die Gefahr lauert, ist Jimmie Angel zu Hause!«
»Was soll ich machen? Es ist das Einzige, was ich kann.«
»Und wie ist es sonst im Filmgeschäft?«
»Wie in einem Tollhaus. Aber ich hatte die Möglichkeit, Howard Hughes kennen zu lernen. Er ist der wahre König der Lüfte«, erklärte der Pilot und lachte. »Aber auch der Filmsternchen. Er ist Produzent und vernascht eine nach der anderen, Jean Harlow zum Beispiel. Von ihm habe ich eine Menge gelernt!«
»Über das Fliegen oder über die Sternchen?«
Der Amerikaner schwieg, während der Kellner servierte. Doch sobald der Kellner außer Hörweite war, antwortete er grinsend: »Leider nur über das Fliegen.« Er schüttelte den Kopf. »Was die Geschäfte angeht, so ist er ein Genie, aber beim Fliegen ist er ein Gott. Ein Draufgänger, wie ich es nie sein könnte, nicht einmal, wenn ich auch nur ein Zehntel von seiner Kohle hätte.«
»Man erzählt sich doch schreckliche Dinge über ihn«, wandte sein Gesprächspartner ein.
»Und alle sind wahr«, antwortete der Pilot wie aus der Pistole geschossen. »Alle bösen Gerüchte über H. H. müssen wahr sein. Ich war nämlich bei den Dreharbeiten zu Die Engel der Hölle dabei und da hat er sein wahres Gesicht gezeigt. Er ist der ausgekochteste Hundesohn, den ich je gesehen habe, er weiß, was er will und wie er es bekommt. Eines Tages hat er mich derart auf die Palme gebracht, dass ich um ein Haar absichtlich den Turm gerammt hätte, von wo er eine Schlachtenszene drehte.«
»Wie ich Sie kenne, würden Sie das tatsächlich fertig bringen.«
»Und ob! Ich raste in einer Entfernung von drei Metern an der Kamera vorbei… Und wissen Sie, was er mir gesagt hat, als ich gelandet war?«
»Keine Ahnung.«
»Dass ich ruhig noch etwas näher hätte heranfliegen können, damit die Szene erstklassig wird. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht, das können Sie mir glauben. Dann hat er sich umgedreht und ist mit seiner vollbusigen Blondine verschwunden.«
»Nicht zu fassen! Ach übrigens, da wir gerade beim Thema sind: Haben Sie eigentlich Ihre Krankenschwester von damals wieder gefunden?«
Der König der Lüfte hielt beim Essen inne, als versuchte er, sich einen Augenblick die unvergessliche Nacht von damals ins Gedächtnis zu rufen, und lächelte traurig.
»Nein. Schon als wir beide uns kennen lernten, hatte ich aufgehört, nach ihr zu suchen. Es ist zwar sehr traurig, denn offenbar habe ich einen Sohn, aber es besteht kaum Aussicht herauszufinden, wo er sein könnte.«
»Sie haben einen Sohn?«, fragte der Schotte überrascht. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe es geträumt«, antwortete Jimmie. »Eines Nachts ist sie mir im Traum erschienen. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber das des Jungen an ihrer Hand. Er war etwa fünf Jahre alt. Sie sagte: ›Das ist dein Sohn. Leider wird er nie wissen, wie sehr er seinem Vater ähnelt. Jedenfalls ist er verrückt nach Flugzeugen und ich bin sicher, dass er eines Tages ein berühmter Pilot werden wird.‹«
»Lieber Freund!«, sagte McCracken tief gerührt. »Sie werden nie aufhören, mich in Staunen zu versetzen. Heute noch dreht sich mir der Magen um, wenn ich daran denke, wie wir von dem Tafelberg gestartet sind. Ich weiß nicht, wie ich das so kaltblütig überstehen konnte. Ich glaube, dass ich das Bewusstsein verlor, und als ich wieder aufwachte, streiften wir gerade die Baumkronen, die uns um ein Haar aufgeschlitzt hätten.«
»Es war großartig, nicht wahr?«
»Großartig? Es war Wahnsinn!«
»Was sonst hätten wir machen sollen? Sie waren es doch, der da oben landen wollte. Irgendwie mussten wir dann ja auch wieder wegkommen.«
»Das ist allerdings richtig. Und ich habe es niemals bereut. Wäre ich nicht so alt und müde, würde ich Sie glatt bitten, es noch einmal zu versuchen.«
»Wer sagt, dass Sie alt und müde sind? Sie sehen blendend aus«, widersprach der König der Lüfte.
»Lieber Freund, der Schein trügt«, erklärte McCracken traurig. »Ich komme gerade aus Houston, wo es die besten Krebsspezialisten der Welt gibt, wie Sie vielleicht wissen.« Er lächelte bitter und schüttelte den Kopf. »Zumindest waren sie ehrlich. Man gibt mir noch ein Jahr.«
Jimmies gute Laune verflog augenblicklich, als er diese grausame Neuigkeit vernahm. Sichtlich erschüttert starrte er seinen einstigen Abenteuergefährten an.
Eine Weile brachte er kein einziges Wort heraus und schließlich stotterte er: »Ddas tut mir Leid! Sehr Leid! Auch wenn unsere Freundschaft kurz war, sind Sie mir ans Herz gewachsen.«
»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß. Wenn Gefühle erwidert werden, dann weiß man, dass sie echt sind. Auch ich mag Sie sehr und deshalb bitte ich Sie, nicht traurig zu sein.«
»Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, dass Ihnen nur noch ein Jahr bleiben soll.«
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