Zwar war am Horizont die Sonne längst aufgegangen, doch versuchte sie vergeblich, die dichte graue Wolkenwand zu durchdringen, die sich erneut über den Tafelberg gelegt hatte. Der Nebel war so dicht, dass man die Hand vor Augen nicht sah.
Als Jimmie aufwachte und merkte, dass er allein war, schreckte er hoch.
Er trat unter der improvisierten Zeltplane hervor, kniff die Augen zusammen, um im Dunst etwas zu erkennen, und schrie dann aus vollem Hals: »McCracken! Wo zum Teufel stecken Sie?«
Nach einer Weile antwortete eine ferne Stimme, von der man nicht sagen konnte, aus welcher Richtung sie kam.
»Ich bin hier! Machen Sie sich keine Sorgen!«
»Was tun Sie da?«
»Ich mache uns reich!«, lautete die fröhliche Antwort.
»Ihr Wort in Gottes Ohr«, murmelte der Amerikaner und zündete den kleinen Spirituskocher an, um Kaffee zu machen.
Er hatte bereits zu Ende gefrühstückt und war gerade dabei, sich die Pfeife zu stopfen, als er die Stimme des Schotten hörte.
»Wo zum Teufel stecken Sie?«
»Na hier. Direkt vor Ihrer Nase.«
»Das ist mir klar, aber was zum Teufel heißt hier! Ich kann nicht mal die Hand vor Augen sehen, und wenn ich nicht aufpasse und einen falschen Schritt mache, stürze ich womöglich noch in die Tiefe.«
»Ich glaube, dass Sie direkt vor mir stehen. Nur noch etwas mehr nach rechts.«
»Hören Sie nicht auf zu sprechen, damit ich mich an Ihrer Stimme orientieren kann.«
»Was soll ich sagen? Haben Sie die Mine gefunden?«
»Jawohl!«
»Heißt das, dass wir jetzt tatsächlich reich sind?«
»Ich schon!«, gab der andere zurück und lachte. »Sie nicht ganz so sehr.«
Kurz darauf tauchte er wie ein Gespenst aus dem Nebel auf, in jeder Hand einen Bastkorb, die er dem Amerikaner vor die Füße stellte.
»Da!«, sagte er mit einem breiten Grinsen.
Der König der Lüfte merkte nicht einmal, dass ihm die Pfeife aus dem Mund fiel und die Augen aus den Höhlen traten, als er den Inhalt der beiden Körbe inspizierte, der nur wegen des kärglichen Lichts nicht funkelte.
»Liebe Güte!«, rief er fassungslos. »Das ist doch nicht möglich!«
»O doch«, versicherte sein Reisegefährte, setzte sich neben ihn und schenkte sich Kaffee ein. »Ich sagte Ihnen doch, dass es eine sehr ungewöhnliche Ader ist. Gold und Diamanten, alles auf einmal. Nicht mal wir selbst wollten es glauben, als wir sie damals entdeckten, und wir kennen uns in unserem Beruf aus. So etwas kommt in der Natur so gut wie nie vor.«
»Wie viel wird das sein?«
»Schätzungsweise fünfunddreißig Kilo Gold und sechs Kilo Diamanten.«
»Sie haben in knapp über einer Stunde sechs Kilo Diamanten gesammelt?«, rief der Pilot ungläubig. »Das kommt mir vor wie ein Traum.«
McCracken nickte. »Es ist tatsächlich einer. Obwohl es in Wahrheit eher eine Legende ist. Die guaharibos glauben, dass die Erde zu Anbeginn der Zeiten ein unfruchtbarer Ort war. Eines Tages jedoch beschlossen das Gold, das die Sonne darstellte, und die Diamanten, ein Symbol für Eis, sich auf dem Gipfel des Heiligen Berges zu vermählen. Die Sonne brachte mit der Wärme ihrer Liebe das kalte Herz der Diamanten zum Schmelzen. So entstand das Wasser, das in Gestalt des Vaters aller Flüsse den Boden fruchtbar machte, damit er Pflanzen hervorbrachte, von denen sich später die Tiere und Menschen ernähren sollten.«
»Eine schöne Legende.«
»Und wie in jeder Legende steckt auch in ihr ein Körnchen Wahrheit«, deutete der Schotte an. »Manche Leute behaupten, die Ureinwohner Amerikas seien über Alaska aus Asien gekommen. In Alaska sind die Berge von Eis bedeckt, bis es in der Frühlingssonne schmilzt und sein Wasser die Felder überschwemmt. Ich glaube, hier liegt der Ursprung der Legende von Aucayma.«
Jimmie nickte. »Könnte sein.«
»Ja. Und genauso ist es mit dem Fluch, der besagt, dass derjenige, der den Vater aller Flüsse zu sehen bekommt, den nächsten Vollmond nicht erleben wird.« Er schwieg eine Weile, in Gedanken an längst vergangene Zeiten versunken. »All Williams ist bei Vollmond gestorben, wenige Tage nachdem er mir erzählt hatte, dass er den Vater aller Flüsse gesehen hat.«
»Fallen Sie wirklich auf einen so dummen Aberglauben herein?«
»Wer wenn nicht ich hätte einen Grund, daran zu glauben?«, gab McCracken traurig zurück. »Ich habe meinen besten Freund verloren, das ist die härteste Probe, auf die man einen Menschen stellen kann.« Er deutete mit dem Kinn auf die Bastkörbe, die vor ihnen auf dem Boden standen. »Deshalb werde ich nur das mitnehmen, was ich brauche, um ein sorgloses Leben zu führen. Ich will nicht mit einem Fluch leben müssen.«
»So ein Unfug!«, wandte der Amerikaner ein. »Wir könnten noch viel mehr transportieren.«
McCracken zögerte mit seiner Antwort. Er fuhr sich mit der Hand über den ungepflegten Bart und blinzelte; ob aus Erschöpfung oder Nervosität, war nicht ganz klar. Schließlich schüttelte er energisch den Kopf.
»Nein! Das genügt. Habgier führt nur ins Verderben und ich war noch nie habgierig.«
»Aber wenn wir Gold und Diamanten hier lassen, hat niemand etwas davon!«
»Das ist mir klar. Doch wenn Gott sie hier haben wollte, dann sollten sie auch hier bleiben. Vielleicht werden sie eines Tages jemanden, der wie All und ich durch die Hölle gegangen ist, für seine Mühen entschädigen.«
»Ich begreife das nicht«, antwortete Jimmie verwirrt. »Das will mir einfach nicht in den Kopf! In nur einer Stunde könnten wir doppelt so viel da rausholen und Sie wollen es hier lassen, an einem Ort, an den sich vielleicht kein Sterblicher je wieder verirren wird?«
»So ist es. In einer Stunde könnten wir doppelt so viel herausholen, in zwei Stunden dreimal so viel. Und so weiter und so weiter, nur weil die Habgier keine Grenzen kennt.« Der Schotte sah Jimmie in die Augen. »Dabei habe ich Habgier schon immer verachtet.«
»Nun, ich halte mich nicht gerade für habgierig«, protestierte der Pilot gekränkt. »Aber irgendwie ist es nicht fair, wenn man bedenkt, dass ich nur zehn Prozent abkriege. Dabei liegt anscheinend nur einen Steinwurf von hier entfernt jede Menge davon.«
Wieder herrschte Schweigen. McCracken dachte nach und sagte schließlich: »Mir stehen neunzig Prozent zu, weil ich den größten Teil meines Lebens damit verbracht habe, diesen Ort zu suchen. Aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Ihre zehn Prozent gegen sechs Stunden. Gehen Sie und suchen Sie die Stelle. Alles, was Sie finden, gehört Ihnen, aber wenn Sie nichts finden, werden Sie alles verloren haben.«
Der König der Lüfte warf ihm einen langen, bohrenden Blick zu. Was er sah, missfiel ihm scheinbar, denn er grinste breit und erwiderte: »Sie Schlitzohr! Sie wollen mir eine Lektion erteilen, was? Von wegen Habgier führt ins Verderben.« Er stopfte seine Pfeife und zündete sie achselzuckend an. Nach geraumem Schweigen gab er endlich nach. »Na schön, Sie sitzen am längeren Hebel. Ich gebe mich geschlagen. Ich nehme die zehn Prozent. Es ist mehr als das, womit ich gerechnet habe, und wenn ich vorsichtig bin und nicht alles auf einmal verprasse, könnte auch ich ein sorgenfreies Leben führen. Was schlagen Sie jetzt vor?«
»Dass wir versuchen, so schnell wie möglich in die Zivilisation zurückzukehren.«
Der Pilot sah sich um und dachte eine Weile nach. Dann stand er auf und streckte die Arme aus.
»Der Nebel kann sich ebenso gut drei Stunden wie drei Tage halten. Und eigentlich ist es völlig egal, ob wir beim Start etwas sehen können oder nicht. Also brechen wir auf.«
Sie fingen an, die Plane abzubauen und die Maschine loszumachen. Während sie schweißgebadet das Flugzeug wendeten, um in Richtung des Abgrundes starten zu können, fragte der Amerikaner plötzlich:
»Jetzt sagen Sie mal ganz ehrlich: Wie lange hätte ich gebraucht, um diese Ader zu finden?«
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