In der Laube griff ich sofort zum Mikro. Das mußte Old Willi mitkriegen. Eine Sekunde, und ich hatte den passenden Text:
Genug, Wilhelm, der Bräutigam ist da!.. Glücklicherweise war ich nicht beim Empfange! Das hätte mir das Herz zerrissen. Ende.
»Wenn es mit der Malerei nichts gewesen ist, frage ich mich, wovon er denn nun eigentlich gelebt hat.«
»Er hätte höchstens irgendwo den Hilfsarbeiter abgeben können. Aber das hätten wir merken müssen, mein Mann und ich. Das heißt, damals waren wir noch nicht verheiratet. Wir kannten uns schon ziemlich lange, von Kind auf. Er war dann lange bei der Armee gewesen. Ich brachte ihn und Edgar zusammen. Dieter, also mein Mann, war zuletzt Innendienstleiter gewesen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das was sagt. Dabei hatte er jedenfalls viel mit Jungs in Edgars Alter zu tun. Ich dachte, er würde auf Edgar vielleicht ein bißchen Einfluß haben. Sie kamen auch ganz gut zusammen aus. Wir waren einmal bei Edgar, und Edgar war gelegentlich bei uns. Aber Edgar war ja nicht zu helfen. Es war ihm einfach nicht zu helfen. Dieter hatte wirklich eine Lammsgeduld mit ihm, vielleicht zu viel, ich weiß nicht. Aber Edgar war eben nicht zu helfen.«
Es stimmt. Sie rückten mir beide auf die Bude. Mit ihrem Dieter zusammen traute sich Charlie wieder in meine Bude. Sie war ein paar Tage nicht im Auslauf gewesen. Ihre Gören ja, sie nicht. Dann tauchte sie mit Dieter bei mir auf. Sie duzte mich. Ich kannte das. Sie wollte Dieter klarmachen, daß sie zu mir stand wie zu einem harmlosen Spinner. Ich nahm sofort die Fäuste hoch. Ich meine, nicht wirklich. Innerlich. Ich sagte wohl noch nicht, daß ich seit vierzehn im Boxklub war. Außer Old Willi war das vielleicht das Beste in Mittenberg. Ich wußte zwar nicht, was Dieter für ein Partner war. Auf den ersten Blick schätzte ich ihn für ziemlich schlapp. Aber ich hatte gelernt, daß man einen Partner nie nach dem ersten Blick einschätzen darf. Bloß, daß er kein Mann für Charlie war, der Meinung war ich sofort. Er hätte ihr Vater sein können, ich meine, nicht altersmäßig. Aber sonst. Er bewegte sich mindestens so würdig wie Bismarck oder einer. Er baute sich vor meinen gesammelten Werken auf. Wahrscheinlich hatte ihn Charlie vor allem deswegen mitgeschleppt. Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, ob ich nicht doch ein verkanntes Genie war. Ansonsten hielt sie sich immer dicht neben Dieter. Ich hatte nach wie vor die Fäuste oben. Dieter brauchte ziemlich lange. Ich dachte schon, es kommt gar nichts von ihm. Aber das war so Dieters Art. Ich glaube nicht, daß er irgendein blödes Wort sagte, das er nicht dreimal überlegt hatte, wenn das reicht. Dann legte er los: Ich würde sagen, es könnte ihm nichts schaden, wenn er sich mehr auf das Leben orientieren würde in Zukunft, auf das Leben der Bauarbeiter zum Beispiel. Er hat sie ja hier direkt vor der Tür. Und dann natürlich gibt es hierbei wie überall gewisse Regeln, die er einfach kennen muß: Perspektive, Proportionen, Vordergrund, Hintergrund.
Das war's. Ich sah Charlie an. Ich sah mir den Mann an. Ich hätte laut Scheiße brüllen können. Der Mann meinte das ernst, völlig ernst. Ich dachte erst: Ironie. Aber er meinte das ernst, Leute!
Ich hätte ihn noch eine Weile durch den Ring treiben können, aber ich beschloß, sofort meine schärfste Waffe einzusetzen. Ich überlegte kurz und schoß dann folgendes Ding ab:
Man kann zum Vorteile der Regeln viel sagen, ungefähr was man zum Wohle der bürgerlichen Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der sich durch Gesetze und Wohlstand modeln läßt, nie ein unerträglicher Nachbar, nie ein merkwürdiger Bösewicht werden kann; dagegen wird aber auch alle Regel, man rede, was man wolle, das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören!
Dieser Werther hatte sich wirklich nützliche Dinge aus den Fingern gesaugt. Ich sah sofort, daß ich die Fäuste runternehmen konnte. Der Mann hatte nichts mehr zu bestellen. Charlie hatte ihn mindestens auf allerhand vorbereitet, aber das war zuviel für ihn. Er tat zwar so, als hätte er es mit einem armen Irren zu tun, den man keinesfalls reizen darf, bloß damit konnte er mich nicht täuschen. Jeder vernünftige Trainer hätte ihn aus dem Kampf genommen. Technischer K. o. Charlie wollte denn auch gehen. Aber Dieter hatte noch was: Andererseits ist es recht originell, was er da macht, und auch dekorativ.
Ich weiß nicht, was er sich dabei dachte. Wahrscheinlich glaubte er, er hätte mich ausgeknockt, und wollte mir jetzt die Pille versüßen! Du armer Arsch! Der Mann tat mir leid. Ich ließ ihn gehen. Blöderweise fiel ihm in dem Moment dieser Schattenriß ins Auge, den ich seinerzeit von Charlie gemacht hatte. Charlie sagte sofort: Das sollte für dich sein. Er hat ihn mir bloß nicht gegeben. Angeblich, weil er noch nicht fertig war. Bloß gemacht hat er nichts daran seitdem.
Und Dieter: Ich hab dich ja jetzt in natura.
Leute! Das sollte wahrscheinlich charmant sein. Das war ein Charmebolzen, der liebe Dieter.
Dann zogen sie ab. Charlie hing die ganze Zeit an seinem Hals. Ich meine, nicht wirklich. Mit ihren Scheinwerfern. Damit ich es bloß sah. Aber das lief ab an mir wie Wasser. Nicht daß einer denkt, ich hatte was gegen Dieter, weil er von der Armee kam. Ich hatte nichts gegen die Armee. Ich war zwar Pazifist, vor allem, wenn ich an die unvermeidlichen achtzehn Monate dachte. Dann war ich ein hervorragender Pazifist. Ich durfte bloß keine Vietnambilder sehen und das. Dann wurde mir rot vor Augen. Wenn dann einer gekommen wäre, hätte ich mich als Soldat auf Lebenszeit verpflichtet. Im Ernst.
Zu Dieter will ich noch sagen: Wahrscheinlich war er ganz passabel. Es konnte schließlich nicht jeder so ein Idiot sein wie ich. Und wahrscheinlich war er sogar genau der richtige Mann für Charlie. Aber es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken. Ich kann euch nur raten, Leute, in so einer Situation nicht darüber nachzudenken. Wenn man gegen einen Gegner antritt, kann man nicht darüber nachdenken, was er für ein sympathischer Junge ist und so. Das führt zu nichts.
Ich griff nach dem Mikro und teilte Willi den neusten Stand der Dinge mit:
Er will mir wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk…, denn darin sind die Weiber fein und haben recht; wenn sie zwei Verehrer in gutem Vernehmen miteinander erhalten können, ist der Vorteil immer ihr, so selten es auch angeht. Ende.
Langsam gewöhnte ich mich an diesen Werther, aber ich mußte den beiden nach. Ich wußte, daß man dranbleiben muß, Leute. Die erste Runde kann an dich gehen, aber dann am Gegner dranbleiben. Ich wetzte hinter ihnen her und hängte mich einfach mit rein. »Ich bringe euch noch«, in diesem Stil. Charlie hing an Dieters Arm. Den andern gab sie fast sofort mir. Ich wurde beinah nicht wieder. Ich mußte sofort an Old Werther denken. Der Mann wußte Bescheid. Dieter sagte keinen Ton.
Wir landeten auf Dieters Bude. In einem Altbau. Ein Zimmer und Küche. Das war das aufgeräumteste Zimmer, das es überhaupt geben konnte. Mutter Wibeau hätte ihre Freude dran gehabt. Es war ungefähr so gemütlich wie der Wartesaal auf dem Bahnhof Mittenberg. Bloß, der war wenigstens nie aufgeräumt. Das konnte ich leiden. Ich weiß nicht, ob das einer kennt, diese Zimmer, die ewig so aussehen, als sind sie nur zwei Tage im Jahr bewohnt und dann vom Chef der Hygieneinspektion. Und das schönste war: Charlie dachte plötzlich genau dasselbe. Sie sagte: Das wird hier alles anders. Laß uns erst mal heiraten, ja?
Ich fing mit einer Art Stubendurchgang an. Zuerst nahm ich mir die Bilder vor, die er hatte. Das eine war ein mieser Druck von Old Goghs Sonnenblumen. Ich hatte nichts gegen Old Gogh und seine Sonnenblumen. Aber wenn ein Bild anfängt, auf jedem blöden Klo rumzuhängen, dann machte mich das immer fast gar nicht krank. Bestenfalls tat es mir dann ekelhaft leid. Meistens konnte ich es für den Rest meines Lebens nicht mehr ausstehen. Das andere war in einem Wechselrahmen. Ich will nichts weiter darüber sagen. Wer es kennt, weiß, welches ich meine. Ein echtes Brechmittel, im Ernst. Dieses prachtvolle Paar da am Strand. Überhaupt: Wechselrahmen. Wenn ich alle Bilder der Welt sehen will, geh ich ins Museum. Oder mir geht ein Bild an die Nieren, dann häng ich es mir dreimal ins Zimmer, damit ich es von überall sehen kann. Wenn ich Wechselrahmen sah, dachte ich immer, die Leute haben sich verpflichtet, im Jahr zwölf Bilder anzusehen.
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