Leute! War das ein Krampf! Vor allem das mit der Begier. Das heißt, so ganz blöd war es auch wieder nicht. Ich kam einfach nicht mit dieser Sprache zu Rande. Heilig! Ich war gespannt, was Willi sich dazu einfallen ließ.
Danach war mir sehr nach Musik. Ich schob die Kassette mit den ganzen Aufnahmen von diesem M. S.-Septett rein und fing an mich zu bewegen. Zuerst langsam. Ich wußte, daß ich Zeit hatte. Das Band lief gute fünfzig Minuten. Ich hatte fast alles von diesen Jungs. Sie spielten, daß man kaputtging. Ich konnte nicht besonders gut tanzen, jedenfalls nicht öffentlich. Ich meine: Dreimal so gut wie jeder andere konnte ich es immer noch. Aber richtig warm wurde ich nur in meinen vier Wänden. Draußen störten mich die ewigen Tanzpausen. Man kam langsam in Fahrt — Pause. Das machte mich immer fast gar nicht krank. Diese Musik muß pausenlos gespielt werden, meinethalben mit zwei Bands. Sonst kann sich kein Mensch in seine richtige Form steigern. Die Neger wissen das. Oder Afrikaner. Man soll wohl Afrikaner sagen. Bloß, wo gab es zwei solche Bands wie das M. S.-Septett? Man mußte froh sein, daß es die Jungs überhaupt gab. Vor allem den Orgeler. Meiner Meinung nach konnten sie den nur von einem Priesterseminar haben, ein Ketzer oder so. Ich hatte mir fast den halben Arsch aufgerissen, um alle Aufnahmen von den Jungs aufzutreiben. Die gingen ungeheuer los. Eine Viertelstunde und ich war echt high, das zweitemal in kurzer Zeit. Sonst hatte ich das höchstens einmal im Jahr geschafft. Ich wußte langsam, daß es genau richtig war für mich, nach Berlin zu gehen. Schon wegen Charlie. Leute, war ich high! Ich weiß nicht, ob das einer begreift. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich euch alle eingeladen. Ich hatte für mindestens dreihundertsechzig Minuten Musik in den Kassetten. Ich glaube, ich war echt begabt zum Tanzen. Edgar Wibeau, der große Rhythmiker, gleich groß in Beat und Soul. Ich konnte auch steppen. Ich hatte mir an ein Paar Turnschuhe Steppeisen gebaut. Es war erstaunlich, im Ernst. Und wenn meine Kassetten nicht gereicht hätten, wären wir in den »Eisenbahner« gegangen oder noch besser in die »Große Melodie«, wo die M. S.-Jungs spielten oder SOK oder Petrowski, Old Lenz, je nachdem, wer gerade dran war. Montag war immer fester Tag. Oder denkt vielleicht einer, ich wußte nicht, wo man in Berlin hingehen mußte wegen echter Musik? Nach einer Woche wußte ich das. Ich glaube nicht, daß es viele Sachen in Berlin gegeben hat, die ich versäumt habe. Ich war wie in einem Strom von Musik. Vielleicht versteht mich einer. Ich war doch wie ausgehungert, Leute! Schätzungsweise zweihundert Kilometer um Mittenberg rum gab es doch keine anständige Truppe, die Ahnung hatte von Musik. Old Lenz und Uschi Brüning! Wenn die Frau anfing, ging ich immer kaputt. Ich glaube, sie ist nicht schlechter als Ella Fitzgerald oder eine. Sie hätte alles von mir haben können, wenn sie da vorn stand mit ihrer großen Brille und sich langsam in die Truppe einsang. Wie sie sich mit dem Chef verständigte ohne einen Blick, das konnte nur Seelenwanderung sein. Und wie sie sich mit einem Blick bedankte, wenn er sie einsteigen ließ! Ich hätte jedesmal heulen können. Er hielt sie so lange zurück, bis sie es fast nicht mehr aushalten konnte, und dann ließ er sie einsteigen, und sie bedankte sich durch ein Lächeln, und ich wurde fast nicht wieder. Kann auch sein, es war alles ganz anders mit Lenz. Trotzdem, die »Große Melodie«, das war eine Art Paradies für mich, ein Himmel. Ich glaube nicht, daß ich in der Zeit von viel was anderem gelebt habe als von Musik und Milch.
Anfangs war mein Problem in der »Großen Melodie« bloß, daß ich keine langen Haare hatte. Ich fiel ungeheuer aus dem Rahmen. Als echter Vorbildknabe durfte ich in Mittenberg natürlich keinen Kanten haben und eine Innenrolle schon gar nicht. Ich weiß nicht, ob sich einer vorstellen kann, was das für ein Leiden war. Ich krümmte mich, wenn ich die anderen mit ihren Loden sah, natürlich nur innerlich. Ansonsten behauptete ich, daß mir lange Haare nichts sein konnten, wenn alle welche hatten, weil da kein Mut zu gehörte. Dabei gab es in einer Tour Heckmeck wegen der Haare. Schon bei der Einstellung. Ich weiß nicht, wer das kennt, Leute. Dieses Gesicht, wenn sie einem erklären, daß in der Werkstatt oder wo keine langen Haare getragen werden dürfen, wegen der Sicherheit. Oder eben Kopfschutz, Haarnetz, wie die Frauen, womit einer dann aussieht wie markiert, wie bestraft. Ich glaube, keiner kann sich vorstellen, was das für eine Genugtuung für einen wie Flemming war. Die meisten nahmen natürlich den Kopfschutz, und wenn es ging, nahmen sie ihn ab. Mit dem Erfolg, daß Flemming sofort angetobt kam. Er hätte nichts gegen lange Haare, aber in der Werkstatt…, leider … und so weiter. Wenn ich sein Grinsen sah dabei, wurde mir immer rot vor Augen. Ich weiß nicht, wie man so was nennen muß, wenn Leute wegen langer Haare ewig angestänkert werden. Ich möchte wissen, wem man damit irgendwas zuleide tut? Ich fand Flemming dann immer ungeheuer fies. Vor allem, wenn er dann noch sagte: Seht euch den Edgar an. Der sieht immer proper aus. Proper!
Irgendwer hat mir mal die Geschichte von einem erzählt, auch so einem Musterknaben, Durchschnitt eins und besser, Sohn prachtvoller Eltern, bloß, er fand keine Kumpels. Und in seiner Gegend gab's da so eine Horde, die kippte Parkbänke um, schmiß Scheiben ein und dergleichen Zeugs. Kein Aas konnte sie erwischen. Der Anführer war ein absolut ausgeschlafener Junge. Aber eines mehr oder weniger schönen Tages klappte es doch. Sie griffen ihn. Der Kerl hatte Haare bis auf die Schultern — typisch! Bloß, es war eine Perücke, und in Wahrheit war er eben jener prachtvolle Musterknabe. An einem Tag hatte es ihm gereicht, und er hatte sich eine Perücke angeschafft.
Anfangs in Berlin dachte ich oft daran, ebenfalls irgendwo eine Perücke aufzureißen, für die »Große Melodie«. Aber erstens liegen Perücken nicht einfach so auf der Straße rum, und zweitens hatte ich einen geradezu teuflischen Haarwuchs. Ob das einer glaubt oder nicht — meine Haare wurden am Tag schätzungsweise zwei Zentimeter länger. Das war lange Zeit ein echtes Leiden von mir. Ich kam gar nicht wieder weg vom Friseur. Aber auf die Art hatte ich nach zwei Wochen schon einen annehmbaren Pilz.
»Sie haben ihn demnach noch öfter gesehen?«
»Das ließ sich nicht vermeiden. Wir waren ja praktisch Nachbarn. Und seit der Sache mit dem Wandbild gingen ihm die Kinder nicht mehr von der Pelle! Was sollte ich dagegen machen? Er konnte mit Kindern umgehen, wie man das bei Männern ganz selten hat, ich meine, bei Jungs. Außerdem glaube ich, daß Kinder genau wissen, wer was für sie übrig hat oder nicht.«
Das stimmt. Charlies Gören war nicht mehr zu helfen. So sind sie. Man darf ihnen nicht den kleinen Finger geben. Ich wußte das. Sie denken wahrscheinlich, das macht einem Spaß. Trotzdem machte ich mit, geduldig wie ein Vieh. Erstens war Charlie der Meinung, ich könnte hervorragend mit Kindern auskommen, eine Art Kindernarr. Die Meinung wollte ich ihr nicht nehmen. Ich und ein Kindernarr! Zweitens waren die Gören meine einzige Chance, an Charlie dranzubleiben. Ich konnte machen, was ich wollte, ich kriegte Charlie nicht wieder auf meine Kolchose und in meine Laube, schon gar nicht. Sie wußte, warum, und ich auch. Auf die Art hing ich also Tag für Tag in diesem Auslauf. Ich drehte das Karussell oder was dieses Ding mit den vier Auslegern sein sollte, oder ich mimte den Indianer. Dabei kriegte ich langsam mit, wie man sie sich abwimmeln kann, wenn man will. Wenigstens für zehn Minuten. Ich teilte sie in zwei Parteien und ließ sie sich befehden.
Um die Zeit kam auch die erste Antwort von Willi. Der gute Willi. Das war zuviel für ihn. Das hatte er nicht überstanden. Auf dem Band war folgender Text: Salute, Eddie! So geht es nicht. Gib mir den neuen Code. Welches Buch, welche Seite, welche Zeile. Ende. Was macht Variante drei?
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