»Könnte ich dieses Wandbild sehen?«
»Leider nicht. Unser Haus steht nicht mehr.
Wir sind jetzt in einem Neubau. Ich hab zwar ein Bild von Edgar. Aber da ist nichts zu sehen. Es ist ein Schattenriß. Ich sag ja: Er ließ es sich nicht beweisen. Das war einen Tag später. Ich kam zu ihm. Wir wollten ihm ein Honorar zahlen. Dabei kam ich auf den Gedanken, daß er ein Bild von mir machen sollte, diesmal ohne Hilfe. Wir waren ja allein. Was machte er? — Diesen Schattenriß. Das kann schließlich jeder. Aber in seiner Laube hab ich dann seine anderen Bilder gesehen. Ich kann sie nicht beschreiben. Es war nur konfuses Zeug drauf. Das sollte wahrscheinlich abstrakt sein. Aber es war nur konfus, wirklich. Überhaupt sah es furchtbar konfus bei ihm aus. Ich meine: nicht dreckig, aber konfus und schlampig bis dorthinaus.«
Du liegst völlig richtig, Charlie. Konfus und schlampig und alles, was du willst. Erst dachte ich, mich streift ein Bus, Leute, als Charlie da in meiner Bude stand. Zum Glück war es Nachmittag, und ich war schon einigermaßen kregel. Aber das mit dem Geld war mir gleich klar. Von wegen Honorar. Das war Charlies eigenes Geld und außerdem ein Vorwand. Ich ließ ihr irgendwie keine Ruhe.
Ich zierte mich erst mal. Ich sagte: Wofür denn? Ich hab doch keinen Finger krumm gemacht!
Und Charlie: Trotzdem! — Ohne Ihre Anleitung wäre es nie geworden.
Da sagte ich ihr auf den Kopf zu: Das ist doch Ihr eigenes Geld. Von wegen Honorar!
Dann fiel ihr ein: Schon. Aber ich krieg's wieder. Muß erst genehmigt werden von oben. Ich dachte, Sie können es brauchen.
Ich hatte zwar noch Geld, aber brauchen konnte ich's schon. Geld kann man immer brauchen, Leute. Ich nahm's trotzdem nicht. Ich begriff doch, was das heißen sollte. Das sollte heißen, sie hielt mich für einen Gammler oder so. Den Gefallen tat ich ihr nicht. Anschließend hätte sie eigentlich gehen müssen. Bloß, so war Charlie nicht. Das war nicht ihre Art. Sie hatte mindestens so einen dicken Schädel wie ich. Oder Kopf. Bei Frauen soll man wohl Kopf sagen.
Außerdem sagte ich ihr die ganze Zeit, daß sie mir ungeheuer was sein konnte. Ich meine, ich sagte es ihr nicht wörtlich. Ich sagte eigentlich überhaupt nichts. Aber sie merkte es doch, denke ich. Und dann kam sie mit ihrer Idee mit dem Bild von ihr. Angeblich bloß so, spaßeshalber. Und das sollte ich glauben! Charlie konnte vielleicht alles, aber als Schauspielerin war sie ganz mies. Das lag ihr nicht. Ich sah drei Sekunden lang ziemlich alt aus, bis ich den Einfall mit der Kerze hatte. Ich setzte Charlie auf einen ollen Hocker, verdunkelte die Bude, pinnte ein Blatt an die Wand und fing an, ihren Kopf ins Licht zu drehen. Ich hätte natürlich auch die olle Kerze rücken können, aber ich war doch nicht blöd. Ich nahm ihr ganzes Kinn in die Hand und drehte ihren Kopf. Charlie schluckte zwar, aber sie machte mit. Ich machte so auf die Masche: der Maler und sein Modell. Angeblich spielt sich da erotisch nichts ab, was ich für großen Quatsch halte. Wahrscheinlich haben das die Maler rausgehauen, damit ihnen die Modelle nicht weglaufen. Bei mir jedenfalls spielte sich was ab und bei Charlie mindestens auch. Aber sie hatte keine Chance. Sie nahm bloß ihre Augen nicht weg. Diese Scheinwerfer. Ich war kurz davor, alles zu versuchen. Aber ich analysierte mich kurz und stellte fest, daß ich gar nicht alles wollte. Ich meine: ich wollte schon, bloß nicht gleich. Ich weiß nicht, ob mich einer versteht, Leute. Zum erstenmal wollte ich warten damit. Außerdem hätte es wahrscheinlich Schellen gegeben. Das bestimmt. Damals hätte es noch Schellen gegeben. Ich blieb also ganz ruhig und machte diesen Schattenriß von ihr. Als ich fertig war, fing sie sofort an: Geben Sie es mir! Für meinen Verlobten. Er ist zur Zeit bei der Armee.
Wenn jetzt einer denkt, das ging mir besonders an die Nieren oder so mit dem Verlobten, der irrt sich, Leute. Verlobt ist noch lange nicht verheiratet. Auf jeden Fall hatte Charlie begriffen, was gespielt wurde. Das war's doch! Sie fing an, mich ernst zu nehmen. Ich kannte das schon. Verlobte tauchen immer dann auf, wenn es ernst wird. Den Schattenriß gab ich ihr natürlich nicht. Ich nuschelte irgendwas von: Ist noch zu roh… Noch kein Leben drin. Als wenn da noch Leben reinzukriegen gewesen wäre. Schon weil ihre Augen nicht drin sein konnten. Und Charlies Augen waren förmlich Scheinwerfer, oder sagte ich das schon? Ich wollte ihn einfach behalten. Ich wollte ihn firnissen und für mich haben. Das brachte Charlie ziemlich auf. Sie stellte sich hin und sagte mir ins Gesicht: Sie können überhaupt nicht malen, jedenfalls nicht richtig. Das ist alles eine Ausrede für irgendwas. Sie sind auch nicht aus Berlin, das merkt man. Eine richtige Arbeit haben Sie nicht, und mit Malen verdienen Sie jedenfalls kein Geld, womit sonst, weiß ich nicht. Sie war in Fahrt gekommen!
Auch ich war nicht faul. Ich dachte kurz nach und schoß folgendes ab:
Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden.
Charlie sagte gar nichts. Wahrscheinlich hatte sie kein Wort verstanden. Kein Wunder bei diesem Stil. Ich hatte das natürlich aus diesem Buch. Ich weiß nicht, ob ich schon sagte, daß ich mir Sachen aus Büchern hervorragend merken konnte. Das war ein wirkliches Leiden von mir. Es hatte zwar auch seine Vorteile, in der Schule zum Beispiel. Ich meine, jeder Lehrer ist doch zufrieden, wenn er einen Text hört, den er aus dem Buch kennt. Ich konnte es keinem verdenken. Brauchte er nicht nachzuprüfen, ob alles stimmte, wie bei eigenen Worten. Und alle waren zufrieden.
»Irre ich mich, oder haben Sie sich mit ihm gestritten?«
»Gestritten nicht. Ich hab ihm auf den Kopf zugesagt, daß ich ihn für einen Arbeitsscheuen hielt. Ich dachte beinah, er macht irgendwelche krummen Sachen. Irgendwie mußte er doch zu Geld kommen. Entschuldigen Sie! Das war natürlich Unsinn. Aber man konnte wirklich nur schwer schlau werden aus ihm.«
»Und er? Edgar?«
»Edgar machte, was er immer in solchen Fällen machte, nur an dem Tag zum erstenmal für mich: Er redete Blech. Ich kann es nicht anders sagen. Man konnte sich das auch nicht merken. Ein dermaßen krauses Zeug. Vielleicht nicht sinnlos, aber völlig verschroben. Von sich hatte er das nicht. Wahrscheinlich aus der Bibel, denk ich manchmal. Damit wollte er einen einfach verblüffen, das war alles.«
Mit Charlie hätte ich mir diesen Jux vielleicht nicht leisten sollen. Trotzdem, ihr Gesicht war nicht mit Dollars zu bezahlen.
Als nächstes fragte sie mich: Wie alt bist du eigentlich? Du! Sie sagte: du. Das sagte sie seit dem Tag immer, wenn sie mir zu verstehen geben wollte, daß sie eigentlich meine Mutter sein konnte. Dabei war sie höchstens zwei Jahre älter als ich. Ich sagte: Dreitausendsiebenhundertundsiebenundsechzig Jahre, oder waren es — sechsundsiebzig? Ich verwechsle das dieses Jahr immer. Danach ging sie. Ich gebe zu, daß mich diese Frage immer fast gar nicht anstank. Auch bei einer Frau, die mir was sein konnte. Das zwang einen immer zum Lügen. Ich meine, kein Mensch kann was für sein Alter. Und wenn einer geistig weit über die Siebzehn raus ist, ist er doch schön blöd, die Wahrheit zu sagen, wenn er ernst genommen sein will. Wenn du in einen Film willst, der erst ab achtzehn ist, stellst du dich ja auch nicht hin und brüllst: Ich bin erst siebzehn. Übrigens ging ich wohl doch ziemlich oft ins Kino. Das war immer noch besser, als zu Hause mit Mutter Wibeau vor der Röhre hocken.
Das erste, was ich machte, als Charlie weg war: ich lud den Recorder neu und teilte Willi mit:
Nein, ich betrüge mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Sie ist mir heilig. Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ende.
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