Plötzlich sagte Charlie: Die Bilder stammen noch aus unserer Schulzeit.
Dabei hatte ich den Mund nicht einmal aufgemacht. Ich hatte auch nicht gestöhnt oder die Augen verdreht, nichts. Ich sah mich nach Dieter um. Ich möchte sagen, der Mann stand in seiner Ecke, hatte die Fäuste unten und bewegte sich nicht. Kann sein, er hatte noch nicht begriffen, daß die zweite Runde längst lief. Charlie entschuldigte sich ständig für ihn, und er bewegte sich nicht. Leute, ich wußte jedenfalls, was ich zu tun hatte. Als nächstes nahm ich mir seine Bücher vor. Er hatte die Masse. Alles unter Glas. Alle der Größe nach geordnet. Ich sackte zusammen. Immer wenn ich so was sah, sackte ich zusammen. Meine Meinung zu Büchern hab ich wohl schon gesagt. Ich weiß nicht, was er alles hatte. Garantiert alle diese guten Bücher. Reihenweise Marx, Engels, Lenin. Ich hatte nichts gegen Lenin und die. Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das, die Abschaffung der Ausbeutung auf der ganzen Welt. Dagegen war ich nicht. Aber gegen alles andere. Daß man Bücher nach der Größe ordnet zum Beispiel. Den meisten von uns geht es so. Sie haben nichts gegen den Kommunismus. Kein einigermaßen intelligenter Mensch kann heute was gegen den Kommunismus haben. Aber ansonsten sind sie dagegen. Zum Dafürsein gehört kein Mut. Mutig will aber jeder sein. Folglich ist er dagegen. Das ist es. Charlie sagte: Dieter wird Germanistik studieren. Er hat eine Menge aufzuholen. Andere, die nicht so lange bei der Armee waren, sind längst Dozenten heute.
Ich sah Dieter an. Spätestens jetzt wäre ich an seiner Stelle losgegangen. Aber er hatte immer noch die Fäuste unten. Eine hervorragende Situation. Langsam begriff ich, daß es zu einem ungeheuren Bums kommen mußte, wenn ich so weitermachte und wenn Charlie nicht aufhörte, sich für ihn zu entschuldigen.
Das einzige in dem ganzen Zimmer war noch Dieters Luftgewehr, ein Knicklauf. Er hatte es über das Bett gehängt. Ich holte es lässig runter, ohne zu fragen, und fing an damit rumzufummeln. Ich hielt die Spritze auf dieses Paar am Strand, auf Dieter, auf Charlie. Bei Charlie kam Dieter endlich in Bewegung. Er drehte mir den Lauf weg.
Ich fragte: Geladen?
Und Dieter: Trotzdem. Ist schon zu viel vorgekommen.
Solche Opa-Sprüche brachten mich immer fast gar nicht um. Trotzdem sagte ich nichts. Ich hielt mir bloß den Lauf an die Schläfe und drückte ab. Das brachte ihn endlich aus der Reserve: Das Ding ist kein Spielzeug! Soviel Grips wirst du doch haben!
Dabei riß er mir die Flinte aus der Hand.
Ich ließ sofort meine schärfste Waffe sprechen, Old Werther:
Mein Freund…, der Mensch ist Mensch, und das bißchen Verstand, das einer haben mag, kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wütet und die Grenzen der Menschheit einen drängen. Vielmehr — Ein andermal davon.
Die Grenzen der Menschheit, unter dem machte es Old Werther nicht. Aber ich hatte Dieter voll getroffen. Er machte den Fehler, darüber nachzudenken. Charlie hörte gar nicht mehr hin. Aber Dieter machte den Fehler nachzudenken. Ich konnte an sich gehen. Da fing Charlie an: Ich mach uns noch was zu schnabulieren, ja?
Und Dieter: Von mir aus! Aber ich hab zu tun. Er war in Fahrt. Er pflanzte sich hinter seinen Schreibtisch. Mit dem Rücken zu uns.
Charlie: Er hat in drei Tagen Aufnahmeprüfung.
Charlie hatte wohl einen schlechten Tag. Sie konnte es nicht lassen. Ich stand immer noch rum.
In dem Moment ging Dieter in die Luft. Er sagte eisig: Kannst ihm ja unterwegs noch was von mir erzählen.
Charlie wurde bleich. Das war ein glatter Rauswurf für uns beide. Ich hatte sie in eine herrliche Lage gebracht, ich Idiot freute mich noch. Charlie war bleich, und ich Idiot stand da und freute mich noch. Dann ging ich. Charlie kam mir nach. Auf der Straße kriegte ich es fertig, den Arm um ihre Schultern zu legen.
Charlie boxte mir sofort in die Rippen und fauchte mich an: Bist du noch normal, ja?
Dann rannte sie weg. Sie rannte weg, aber ich kam in eine völlig verrückte Stimmung. Ich begriff zwar langsam, daß ich bei Charlie vorläufig nichts zu bestellen hatte. Trotzdem war ich irgendwie echt high. Jedenfalls stand ich plötzlich vor meiner Laube und hatte ein Band von Old Willi in den Pfoten. Folglich mußte ich auf der Post gewesen sein. Ich weiß nicht, ob einer so was kennt, Leute.
Lieber Edgar. Ich weiß nicht, wo du bist. Aber wenn du jetzt zurückkommen willst, der Schlüssel liegt unter dem Fußabtreter. Ich werde dich nichts fragen. Und ab jetzt kannst du nach Hause kommen, wann du willst. Und wenn du deine Lehre in einem anderen Betrieb fertig machen willst, auch. Hauptsache, du arbeitest und gammelst nicht.
Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Das war Mutter Wibeau.
Dann kam Willi: Salute, Eddie. Ich hab deine Mutter einfach nicht abwimmeln können. Tut mir leid. Sie ist ganz schön am Boden. Sie wollte mir sogar Geld geben für dich. Vielleicht ist der Gedanke mit dem Arbeiten gar nicht so schlecht. Denk mal an van Gogh oder einen. Was die alles machen mußten, um malen zu können. Ende.
Ich hörte mir das an. Ich wußte sofort, was von Old Werther darauf paßte:
Das war eine Nacht! Wilhelm! nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn!.. Hie sitz ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und mit Sonnenaufgang sind die Pferde…
Länger war das Band blöderweise nicht, und ich hatte keinen Nachschub mehr. Ich hätte ein Stück Musik löschen müssen, aber das wollte ich nicht. Aus der Bude gehen und neues Band ranschaffen wollte ich auch nicht. Ich analysierte mich kurz und begriff, daß die ganze Kolchose und das nicht mehr popte. Ich dachte nicht daran, zurück nach Mittenberg zu gehen, das nicht. Aber es popte einfach nicht mehr.
»Aber irgendwann muß Edgar dann doch angefangen haben zu arbeiten, beim Bau. Beim WIK.«
»Ja, sicher. Ich hab ihn dann einfach aus den Augen verloren. Ich hatte genug eigene Dinge. Die Hochzeit. Dann fing Dieter an zu studieren. Germanistik. Es fiel ihm nicht ganz leicht zu Anfang. Ich arbeitete nur noch halbtags, um ihm den Start zu erleichtern. Dann zogen wir mit dem Kindergarten in den Neubau um, das alte Haus kam weg, wegen der Neubauten, auch der Auslauf neben Edgars Grundstück. Wir hätten einfach zur Polizei gehen sollen. Da wohnt einer unerlaubt in einer Laube. Ich weiß nicht, ob ihm das geholfen hätte. Jedenfalls wäre es dann nicht passiert.«
»Darf ich Sie etwas fragen? — Haben Sie Edgar gemocht?«
»Wie gemocht? Edgar war noch nicht achtzehn, ich war über zwanzig. Ich hatte Dieter. Das war alles. Was denken Sie?«
Richtig, Charlie, nicht alles sagen. Es hat keinen Zweck, alles zu sagen. Ich hab das mein Leben lang nicht gemacht. Nicht mal dir hab ich alles gesagt, Charlie. Man kann auch nicht alles sagen. Wer alles sagt, ist vielleicht kein Mensch mehr.
»Sie müssen mir nicht antworten.«
»Gemocht hab ich ihn natürlich. Er konnte sehr komisch sein. Rührend. Er war immerzu in Bewegung… ich…«
Heul nicht, Charlie. Tu mir den Gefallen und heul nicht. Mit mir war nicht die Bohne was los. Ich war bloß irgend so ein Idiot, ein Spinner, ein Angeber und all das. Nichts zum Heulen. Im Ernst.
»Guten Tag! Ich soll mich an Kollegen Berliner wenden.«
»Ja. Das bin ich.«
»Wibeau ist mein Name.«
»Haben Sie was mit Edgar zu tun? Edgar Wibeau, der bei uns war?«
»Ja. Der Vater.«
Addi! Alte Streberleiche! Ich grüße dich! Du warst von Anfang an mein bester Feind. Ich hab dich getriezt, wo ich konnte, und du hast mich geschurigelt, wenn es irgendwie ging. Aber jetzt, wo alles vorbei ist, kann ich es rauslassen: Du warst ein Steher! Unsere unsterblichen Seelen waren verwandt. Bloß deine Gehirnwindungen waren rechtwinkliger als meine.
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