«Aber gehört Ihnen der Ford wirklich?» – «Gewissermaßen. So gut wie.»
Draußen heulte und pfiff der Wind um das Haus. Vor lauter Staub konnte man den Innenhof nicht sehen. Durch jede Ritze drang Staub in das Zimmer. Eine zentimeterhohe Schicht von feinem weißen Staub bedeckte mein Kissen. Das baufällige Hôtel de France wackelte und rumpelte, als wollte es gleich neben unseren Ohren einstürzen. Schließlich wurde der Lärm so laut, dass ich die sanfte Stimme des russischen Ingenieurs, der sich als Besitzer eines Ford bezeichnet hatte, nicht mehr hören konnte.
Irgendwo im Hotel gab es einen ohrenbetäubenden Krach und einen Schrei. Der russische Ingenieur lief hinaus und kam im nächsten Moment mit seiner Frau am Arm wieder zurück. Das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, und erregt zirpte sie auf Russisch. Das Dach über ihrem Zimmer war weggeweht worden. Es war ein Wellblechdach, das mit einem Geräusch wie Theaterdonner durch die Luft segelte. Vor Mitternacht würde das ganze Haus bestimmt einstürzen. Ich lag frierend im Bett, die Decke über der Nase wegen des Staubs und über den Ohren wegen des Lärms, fühlte mich ganz lang und schwach und müde und sank mühelos in den Schlaf wie ein Baumstamm, der in eine Schlucht fällt.
Die drei Amerikanerinnen waren Bahai-Missionarinnen, eine aus New York, eine aus Chicago, und die jüngste vielleicht aus einem Städtchen in den Dakotas. Alle hatten die gleichen Augen, weit auseinanderstehend, starr, mit geweiteten Pupillen. Wir saßen in einem langen, dunklen, europäisch eingerichteten Zimmer und sahen einander steif an. Die Älteste berichtete von der Verfolgung ihrer Glaubensgenossen in Persien seit El Babs [22] El Bab Sayyid Ali Muhammad, ein schiitischer Anführer in Persien, wurde von seinen Anhängern 1844 zum Propheten ausgerufen und mit dem Titel Bab («Tor») geehrt. Er wurde 1850 hingerichtet.
Märtyrertod in Täbris. Dass sie nicht begraben werden und nicht zusammenkommen dürften und dass viele ihren Glauben verheimlichten. Sie hatte müdes graues Haar, das ihr in die Stirn hing, graue welke Lippen und ein Gesicht voller müder Fältchen. Die Presbyterianer in dem großen Missionsgebäude am anderen Ende der Stadt sprächen nicht mit ihnen, weil sie keine Christen seien. «Sie wissen nicht, dass die Verehrung unseres Herrn Baha’ullah auch die Verehrung Christi einschließt, der ebenfalls ein großer Prophet und die Emanation Gottes war.»
Die zweite Frau war Ärztin. Ihr Gesicht war fest und schmal, und sie war adrett gekleidet. Sie sprach von dem Leid der Frauen, von ihrer Unwissenheit, ihrem Dahinwelken in der überzuckerten Abgeschiedenheit des Andarun [23] Andarun Für die Frauen bestimmter Teil des iranischen Hauses
, ihren Krankheiten und den Problemen der Gebärenden.
Die jüngste war erst seit kurzem in Teheran. Ihr Bericht war voller Wunder. Sie war im Winter von der Küste her gekommen. Man hatte ihr gesagt, dass eine solche Reise den sicheren Tod bedeute. Aber der Tod hat keine Macht über die Diener des immerwährenden Lichts. Sie war ganz allein über einen hohen verschneiten Pass gekommen, über den sich im Winter nicht einmal die Kurden wagen; als sie zu einem Fluss kam, ging das Hochwasser zurück; alle anderen Reisenden, die auf diesem Weg unterwegs waren, wurden von Banditen getötet, nur sie nicht: bei jedem Schritt habe sie die Hand Gottes gespürt, der ihr Maultier sicher führte und sie vor den Absichten böser Männer schützte.
Es war dunkel geworden, als ich mich von ihnen verabschiedete. Draußen kam ein Prozessionszug vorbei, erst ein paar Männer, die als berittene Araber verkleidet waren, dann Reisende auf buntgeschmückten Kamelen, dann Männer mit schweren vielarmigen Messingleuchtern und einer Metallstandarte, die wie ein großer Krummsäbel aussah, oben an der Spitze eine Messingquaste, die im Licht aufblitzte, und schließlich Büßer in Viererreihen, die sich rhythmisch an die Brust schlugen, hochgewachsene dunkelhäutige Männer mit geröteten Augen, die sich zu dem verzweifelten erregten Ruf «Hossein, Hassan» rhythmisch an die Brust schlugen.
Dies war das dumpfe Geräusch gewesen, das ich in der Ferne gehört hatte, das mich unruhig gemacht hatte während des Gesprächs mit den Missionarinnen, die von der Sanftheit und Toleranz der Bahais erzählten und von brüderlicher Liebe. In meinem Hotelzimmer, wo ich Euripides in einer alten und schlechten französischen Übersetzung las, konnte ich immer noch das Stampfen hören, das, bald aus der einen, bald aus der anderen Richtung, durch den stauberfüllten Herbstabend drang, den Zug der Trauernden, die Hosseins Karawane folgten und sich an die Brust schlugen.
Hossein, Sohn von Fatima und Ali und Enkel des Propheten, begab sich von Medina nach Kufa, der Stadt der ersten Ärzte des Islam, wo sein Vater Ali, Herr über alle Welt, ermordet worden war. Yazid, Kalif in Damaskus, wollte Hossein vergiften, so wie er dessen nichtsnutzigen Bruder Hassan vergiftet hatte. Die Leute von Kufa hatten dem einzigen noch lebenden Enkel von Mohammed angetragen, ihr Kalif zu sein. Am ersten Tag des Moharram kam der Karawane von Imam Hossein aus Kufa ein gewisser Hurr entgegen, der im Auftrag des Kalifen verkünden sollte, dass Yazid der Herrscher von Kufa sei und dass Hosseins Anhänger getötet worden seien. Hossein hatte sich mit einigen Sklaven, seiner Schwester, seinen Frauen und Kindern auf die Reise begeben. Eine seiner Frauen war eine Perserin, die Tochter des letzten Sassanidenkönigs. Hurr, der sich seines Auftrags bereits schämte, kehrte nach Kufa zurück und bat darum, dem Imam die Rückkehr nach Medina zu erlauben. Hosseins Gruppe reiste bei Nacht, denn es war sehr heiß. Hossein sagte: «Ein Mann reist bei Nacht, und seine Bestimmung reist ihm entgegen. Ich bin sicher, es war eine Todesahnung.»
Die Verhandlungen gingen in arabischer Manier hin und her, bis Hosseins Karawane am neunten Tag schließlich bei Kerbela, einer Ortschaft am Euphrat, ihre Zelte aufschlug. Die Armee von Amr ibn Saad kreiste sie ein, denn Yazid hatte Befehl gegeben, die Männer zu töten und die Frauen nach Damaskus zu schaffen. Im letzten Moment kamen Hurr und seine Männer in das Lager, um mit dem Imam zu sterben. In dieser Nacht befestigten sie ihre Zelte und zogen einen Graben mit Reisigbündeln, so dass ein Angriff nur von vorn möglich war. Hossein bereute bitterlich, dass er die Kinder und Frauen mitgenommen hatte, denn es gab kein Wasser.
Am Morgen griff Amr ibn Saad an. Hossein und seine Leute waren hoffnungslos in der Minderzahl. Gegen Mittag setzte sich Hossein, vom Kampf erschöpft, einen Moment neben sein Zelt und nahm seinen jüngsten Sohn Abdullah auf den Schoß. Ein Pfeil tötete das Kind. Der Durst wurde immer unerträglicher. Ali Afgar und Ali Asgar, die beiden halbwüchsigen Söhne Hosseins, liefen zum Fluss, um Wasser zu holen. Auch sie wurden von Pfeilen getroffen. Schließlich ging Hossein selbst zum Fluss. Die Soldaten des Kalifen wagten es zunächst nicht, ihn anzugreifen, doch als er sich herabbeugte, um zu trinken, traf ihn ein Pfeil im Mund. Daraufhin stürzten die Soldaten des Kalifen von allen Seiten hinzu. Dreißig Speere durchbohrten Hossein, und Amr ließ seine Kavallerie so lange über den Toten hin und her reiten, bis der Leichnam zerstampft am Ufer lag. Der Kopf Hosseins wurde nach Damaskus geschickt.
Und am Jüngsten Tag wird Allah, der im Begriff ist, die ganze Menschheit trotz der Fürsprache von Mohammed und Isa ben Mariam [24] Isa ben Mariam Der islamische Name für Jesus
und Moses und den zweihundertsiebzigtausend Propheten in die Hölle zu werfen, sich Hosseins erinnern, des Wehklagens der Frauen und des Todes der Söhne und des Durstes in den Zelten von Kerbela, und Tränen werden ihm in die Augen steigen, und all jene, die um Hossein geweint, die sich für ihn geopfert, für ihn gelitten haben, sie alle werden verschont und in das Paradies aufgenommen, den Garten mit den ewig grünen Bäumen, unter denen die ewig jungfräulichen Huris warten.
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