In Persien ist es offenbar Sitte, sich unmittelbar nach dem Abendessen zurückzuziehen, und an diesem Abend in Kazvin, ganz allein mit meinem Bettzeug in einem der Zimmer im Obergeschoss des Hauses, packte mich der übermächtige Wunsch, in die Stadt hinauszugehen. Aber das Haus war bestimmt abgeschlossen, und ich befürchtete, in eines der Frauengemächer zu stolpern, wenn ich mein Zimmer verließ. Ersatzweise stieg ich durch mein Fensterchen auf ein kleines Dach, von wo aus ich die flachen Dächer und die tintenschattigen Innenhöfe der Stadt sehen konnte, die sich ringsum unter dem Mond erstreckte. Mir gegenüber war die dicke Kuppel und das gedrungene kachelgeschmückte Minarett der Freitagsmoschee. Auf vielen Dächern waren Gestalten zu erkennen, die sich dort zum Schlafen hingelegt hatten, und manchmal eine Bewegung in einem Innenhof. Ich musste an eine Erzählung von Maupassant denken, in der ein nacktes Mädchen im Mondschein auf dem flachen Dach eines Hauses in Marokko steht. Und aus irgendeinem Grund überkam mich eine Abscheu vor den ganzen romantischen Orientklischees, von denen es ja selbst im Orient wimmelt, so dass ich fast wieder in mein Zimmer geklettert wäre, um all diese Gedanken in mein Notizbuch zu schreiben. Ja, das Spektakel, die karminroten Bärte und die safrangelben Bärte und die mächtigen Turbane und die hohen runden Filzhüte und die Teppiche und die buntgeschmückten Pferde und die anmutigen Gesten alter Männer und die gespenstisch verhüllten Frauen und die Kamele mit ihren langen, federnden Schritten und die dunkle Fülle der gewölbten Lagerräume in den Basaren – war das nicht alles leblose Routine, ein halbvergessenes Ritual, vor Ewigkeiten gelernt? Es ist der Westen, wo das Blut heiß in den Adern fließt und die Welt ungeordnet und romantisch ist, wo phantastische, unerwartete Dinge passieren. Hier ist alles versucht und erfahren und verschlissen worden. Mit sehnsüchtigen Gedanken an den Broadway und die Zweiundvierzigste Straße legte ich mich auf meine weiche Matratze. Kaum hatte ich mich beruhigt, hörte ich eine Trommel in der Ferne und kehlige, angespannte, wilde Stimmen, die in raschem Rhythmus «Hassan, Hossein, Hassan, Hossein» riefen, als wäre Hossein, der ritterliche Enkel des Propheten, erst gestern in Kerbela gestorben.
Bevor wir am nächsten Morgen Kazvin verließen, führte der Sajjid eine Operation durch. Dann brachen wir auf, mit viel Tamtam und eskortiert von berittenen Gendarmen und unter Zurücklassung des Opfers, das blutend auf einem wackeligen Tisch in der Apotheke des Gouverneurs lag und durch seinen Äther stöhnte. Wir aßen Weintrauben, während der Zweispänner mit eindrucksvoller Gemächlichkeit über staubige Pisten dahinrumpelte und der Sajjid über die Revolution in Asien sprach. Begonnen, sagte er, habe alles mit der Niederlage Russlands im japanischen Krieg, die die Asiaten auf die Frage brachte, ob in den Büchern des Schicksals geschrieben stand, dass sie ein für alle Mal die Sklaven Europas sein müssten. Sodann hätten die türkische Verfassung und die persische Verfassung gezeigt, dass die schattigen und verfallenen Gärten des Orients nicht völlig verdorrt waren unter dem tödlichen Ansturm des Westens. Und während Europa Krieg führte, dachte Asien nach. In Asien entwickelten sich die Dinge immer sehr langsam, so langsam, dass die Europäer nichts bemerkten und erklärten, dass sich dort überhaupt nichts bewege, aber irgendwann wird die Zeit kommen, da die mächtigen Ausbeuter plötzlich feststellen, dass sie nicht mehr wissen, wohin ihr Weg sie führt. So ist das in Asien. «Nehmen Sie nur mich», rief der Sajjid mit schriller Stimme. «Als Kind habe ich die Europäer für eine überlegene Rasse gehalten, vor fünf, sechs Jahren hatten sie so viel erreicht; Persien könnte sich glücklich schätzen, wenn es von den Briten regiert würde. Aber heute ... Ich habe alle Länder gesehen, habe ihre Propaganda gehört. Ich habe gesehen, welche Schmiergelder sie bezahlen und mit welchen Methoden sie kämpfen, all die hochzivilisierten, vornehmen Völker Europas, und ich weiß, was ich weiß. Und was ich weiß, das wissen auch der Maultiertreiber und der Töpfer und der Bademeister, der einen durchwalkt, und der Bauer und der Nomade. Nein, ich werde gern sterben, bevor mein Land von irgendeiner europäischen Nation dominiert wird. Und ich bin nicht der Einzige.»
«Und was die Briten hier in Persien angeht ... ja, ich weiß, sie sind ein großes Volk. Ich war mal drei Tage in London, die ganze Zeit hat es geregnet, aber ich bin durch die Stadt gegangen und habe die Leute gesehen und wusste, es waren braves gens. Aber hier sind sie anders, uns gegenüber, und deshalb werde ich zeit meines Lebens gegen sie kämpfen, avec Diplomatik. Und den Türken geht es genauso und den Arabern und den Afghanen. Erst haben wir die Briten gemocht, weil sie besser sind als die Russen, doch nun gibt es keinen Druck von Russland, und die Briten haben sich verändert. Und im Islam ist nicht mehr so viel Fatalismus wie früher. Europa ist unser Lehrmeister, Europa gibt uns Waffen.»
8. Die kleinen Leute in Persien
Später, auf der letzten Etappe nach Teheran, sagte der Sajjid wieder: «Welchen Fehler machen alle europäischen Mächte in Bezug auf Persien? Ich werde es Ihnen sagen. Sie denken nur an die großen Leute. Es ist ihnen nicht klar, dass es auch kleine Leute gibt, wie mich, Ärzte, Mollahs, kleine Händler, und dass selbst die Bauern in den Teehäusern an der Straße über Politik sprechen. Sie wissen, dass sie die großen Leute bestechen und unter Druck setzen können, und sie glauben, sie haben Persien in der Hand. Aber uns, die kleinen Leute, können sie nicht bestechen, denn wir sind zu viele. Wenn sie mich kaufen oder mich töten lassen, dann gibt es Hunderte anderer, die genauso denken wie ich und an meine Stelle treten. Es wird ihnen also nichts nützen.»
Es war kurz vor Morgendämmerung. Ein hauchzartes goldenes Band säumte den steil aufragenden Demavand, den mächtigen Berg oberhalb von Teheran. Der Wind war eisig wie ein Schneefeld.
«Und wenn Sie in Ihre Heimat zurückkehren», sagte der Sajjid, «vergessen Sie nicht, Ihren Landsleuten zu sagen, dass es kleine Leute in Asien gibt.»
Vor dem Tor, wo die staubige Straße vorbeiführt, unter Platanen hinauf in die Berge, sitzt ein weißgewandeter alter Mann mit blauem Turban. Sein Bart ist so dicht, als wäre er aus Silber gewirkt. Bewegungslos hockt er da und schaut aus ernsten Adleraugen vor sich hin. In der einen Hand hält er einen aufrechten Krummsäbel, in der anderen, die auf seinem Schoß ruht, hält er ein Buch. Schwert oder Koran. Die Spitzen des zunehmenden Halbmonds greifen nach der Welt. Passanten werfen Kupfermünzen auf die Ecken seines Gebetsteppichs. Der alte Mann sitzt bewegungslos da, achtet nicht auf den aufwirbelnden Staub, hockt am Straßenrand auf einem Baumwollteppich mit dem Gesicht eines Emirs, der die Gläubigen in den heiligen Krieg führt.
In Persien werden Bettler fast als Heilige angesehen. Bettler geben dem Gläubigen die Möglichkeit, für ein angenehmes Leben im Himmel vorzusorgen. Im Chan von Mianeh war ein Kaufmann, dessen Karawane von Banditen überfallen worden war. Er hatte eine Bestätigung eines Mudschtahid, wonach er durch Allahs Willen alle irdischen Güter verloren habe, und nun wartete er in seiner Kammer geduldig auf Spenden von Reisenden, die es ihm ermöglichen würden, sein Geschäft wiederaufzunehmen. Er sah sehr glücklich aus, wie jemand, der nicht mehr gegen die Widrigkeiten des Lebens ankämpft. Islam bedeutet nicht umsonst Unterwerfung, Selbstaufgabe.
Und in jedem Teehaus an der Straße findet man fröhliche Gestalten, zerlumpt und abgerissen, Männer jeden Alters und aus allen Schichten, die nicht mehr arbeiten, sondern durchs Land ziehen und so gut es geht aus der Heiligkeit der Armut Kapital schlagen. Sie sind gewiss die glücklichsten Menschen in Persien. Sie denken nicht an Steuern oder Überfälle von Bergstämmen oder Banditen im Gebirge. Sie wandern umher, Sonne und Wind ausgesetzt, hungern und singen Gebete und tragen Epidemien und das Wort Gottes von der Wüste Gobi bis zum Euphrat. Landstreicher gibt es überall, aber im Orient ist diese Lebensform ein religiöser Akt. Alle Tollheit, alle Rastlosigkeit kommt von Gott. Verliert ein Mann sein einziges Kind oder seine geliebte Frau oder geschieht ihm ein anderes unbeschreibliches Unglück, legt er seine Kleider ab und läuft hinaus ins Freie und lässt das Haar wachsen und zieht bettelnd und Gott preisend durch die Welt. Er wird ein Derwisch, so wie er im mittelalterlichen Europa in ein Kloster gegangen wäre.
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