Er löschte das letzte Licht im Erdgeschoss, ging ins Badezimmer und zog sich einen frischen Pyjama an. Er musste seinen Koffer öffnen, um die Zahnbürste herauszuholen.
Im Bett, dem Museum antiker Verkehrsmittel, legte er sich, so weit wie möglich von Enid entfernt, an den äußersten Rand.
Sie schlief auf ihre Schlaf vortäuschende Weise. Er warf einen Blick auf den Wecker, den Radiumschmuck der beiden Zeiger — näher an der Zwölf als an der Elf — und machte die Augen zu.
Kam die Frage in einer Zwölf-Uhr-Mittags-Stimme: «Worüber hast du mit Chuck gesprochen?»
Seine Erschöpfung verdoppelte sich. Hinter seinen geschlossenen Lidern sah er Becher und Sonden und die zitternde Nadel des Ammeters.
«Hörte sich an wie Erie Belt», sagte Enid. «Weiß Chuck davon? Hast du es ihm erzählt?»
«Enid, ich bin sehr müde.»
«Ich bin nur überrascht, das ist alles. Wenn man bedenkt.»
«Es war ein Versehen, und ich bedaure es.»
«Ich finde es bloß interessant», sagte Enid, «dass Chuck eine Anlage machen darf, die uns nicht erlaubt sein soll.»
«Wenn Chuck so unfair sein will, andere Anleger zu übervorteilen, ist das seine Sache.»
«Viele Erie-Belt-Aktionäre wären froh, wenn sie morgen fünf drei viertel bekommen könnten. Was ist daran unfair?»
Ihre Worte klangen nach einer stundenlang einstudierten Rede, nach einem im Dunkel genährten Gram.
«Diese Aktien werden in drei Wochen neuneinhalb Dollar wert sein», sagte Alfred. «Ich weiß das, und die meisten Leute wissen es nicht. Das daran ist unfair.»
«Du bist klüger als andere Leute», sagte Enid, «du warst besser in der Schule, und jetzt hast du einen besseren Job. Das ist auch unfair, oder? Müsstest du dich nicht möglichst dumm stellen, um ganz und gar fair zu sein?»
Man biss sich nicht leichtfertig oder halbherzig selbst ein Bein ab. Wann war es so weit gewesen, und was hatte passieren müssen, dass der Koyote schließlich die Zähne ins eigene Fleisch schlug? Vermutlich kam zuerst eine Phase des Wartens und Abwägens. Aber dann?
«Ich werde nicht mit dir darüber diskutieren», sagte Alfred. «Aber da du nun mal wach bist, würde ich gern wissen, warum Chip nicht ins Bett gebracht wurde.»
«Du warst es doch, der gesagt hat — »
«Du bist lange vor mir hochgegangen. Es war nicht meine Absicht, ihn fünf Stunden dort sitzen zu lassen. Du benutzt ihn gegen mich, und das gefällt mir überhaupt nicht. Er hätte um acht ins Bett gehört.»
Enid siedete in dem ihr angetanen Unrecht.
«Können wir uns darauf einigen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt?», fragte Alfred.
«Ja.»
«Na schön. Dann lass uns schlafen.»
Wenn es im Haus sehr, sehr dunkel war, konnte das ungeborene Kind genauso deutlich sehen wie jeder andere. Es hatte Ohren und Augen, Finger und ein Vorderhirn und ein Kleinhirn, und es schwamm an einem zentralen Ort. Die wesentlichen Triebe kannte es bereits. Tagaus, tagein köchelte seine Mutter in einem Gebräu aus Begehren und Schuld vor sich hin, und nun lag das Objekt ihrer Begierde einen Meter von ihr entfernt. Alles in ihr war bereit, bei der geringsten zärtlichen Berührung ihres Körpers dahinzuschmelzen und abzuschalten.
Es wurde viel geatmet. Viel geatmet, aber nichts berührt.
Selbst Alfred entzog sich der Schlaf. Sooft er kurz davor war einzunicken, durchbohrte ein nebenhöhliges Schnaufen aus Enids Richtung sein Ohr.
Nach einer Pause, die, wenn er richtig geschätzt hatte, zwanzig Minuten lang gewesen war, erschütterten schlecht unterdrückte Schluchzer das Bett.
Alfred brach, jammernd fast, sein Schweigen: «Was ist denn nun schon wieder?»
«Nichts.»
«Enid, es ist sehr, sehr spät, der Wecker ist auf sechs gestellt, und ich bin völlig zerschlagen.»
Sie weinte stürmisch. «Du hast mir nicht mal einen Abschiedskuss gegeben!»
«Das ist mir bewusst.»
«Hab ich denn kein Recht darauf? Ein Mann lässt seine Frau zwei Wochen lang allein zu Hause?»
«Das ist Schnee von gestern. Und offen gesagt: Ich habe schon Schlimmeres ausgehalten.»
«Und kommt nach Hause und sagt nicht mal hallo? Macht mir bloß Vorwürfe?»
«Enid, ich habe eine furchtbare Woche hinter mir.»
«Und steht vom Tisch auf, bevor die anderen fertig sind?»
«Eine furchtbare Woche, und ich bin außerordentlich müde — »
«Und schließt sich für fünf Stunden im Keller ein? Obwohl er angeblich so müde ist?»
«Wenn du so eine Woche gehabt hättest wie — »
«Du hast mir keinen Abschiedskuss gegeben.»
«Werde erwachsen! Herrgott noch mal! Werde erwachsen!»
«Nicht so laut!»
(Nicht so laut, das Baby könnte dich hören.)
(Hörte ihn in der Tat und saugte jedes Wort auf.)
«Meinst du, ich war auf einer Vergnügungsfahrt?», fragte Alfred im Flüsterton. «Alles, was ich tue, tue ich für dich und die Jungen. Seit zwei Wochen habe ich keine Minute für mich gehabt. Ich denke, ich habe durchaus Anspruch auf ein paar Stunden im Labor. Du würdest es nicht verstehen, und wenn, dann würdest du es nicht glauben, aber ich habe etwas wirklich Interessantes entdeckt.»
«Ach, wie interessant», sagte Enid. Sie hörte das kaum zum ersten Mal.
«Ja, es ist interessant.»
«Etwas, das sich vermarkten lässt?»
«Weiß man nie. Denk nur daran, was Jack Callahan passiert ist. Am Ende können wir damit vielleicht die Ausbildung der Jungen finanzieren.»
«Du hast doch gesagt, Jack Callahans Entdeckung war Zufall.»
«Mein Gott, du solltest dich mal reden hören. Du wirfst mir vor, ein Miesmacher zu sein, aber wenn ich an etwas arbeite, das mir wichtig ist, wer ist dann der Miesmacher?»
«Ich verstehe nur nicht, warum du nicht wenigstens in Betracht ziehen willst — »
«Genug.»
«Wenn es darum geht, Geld zu verdienen — »
«Genug. Genug! Was andere machen, ist mir schnurz. Ich bin nicht so einer, Punkt.»
Am letzten Sonntag in der Kirche hatte Enid zweimal den Kopf gewandt und Blicke von Chuck Meisner aufgefangen. Sie war obenherum ein bisschen fülliger als sonst, das war wahrscheinlich alles. Aber Chuck war beide Male rot geworden.
«Warum bist du so hartherzig?», fragte sie.
«Dafür gibt es Gründe», sagte Alfred, «aber ich werde sie dir nicht sagen.»
«Warum bist du so unglücklich? Warum sagst du sie mir nicht?»
«Lieber sinke ich ins Grab, bevor ich das tue. Ins Grab.»
«Oh, oh, oh!»
Es war ein schlechter Ehemann, den sie da abgekriegt hatte, ein schlechter, schlechter, schlechter Ehemann, der ihr niemals geben würde, was sie brauchte. Immer fand er einen Grund, ihr vorzuenthalten, was sie zufriedengestellt hätte. Und so lag sie, eine Tantala, neben der trägen Illusion eines Festgelages. Der kleinste Finger irgendwo hätte… Gar nicht zu reden von seinen Pflaumenfleischlippen. Aber Alfred war unnütz. Ein Haufen Geld, das in einer Matratze vor sich hin gammelte und stetig an Wert verlor, das war er. Die Depression im Herzland hatte ihn genauso kleingekriegt wie ihre Mutter, die nicht begriff, dass Zinsen bringende Bankkonten mittlerweile staatlich abgesichert waren oder dass Aktien großer Unternehmen, sofern man sie nur langfristig hielt und die Dividenden reinvestierte, ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit im Alter ein Auskommen bescherten. Er war ein schlechter Investor.
Sie aber nicht. Das eine oder andere Mal, wenn es in einem Raum ganz dunkel gewesen war, hatte sie sogar wirklich etwas riskiert, und jetzt tat sie es wieder. Drehte sich um und kitzelte mit Brüsten, die ein gewisser Nachbar bestaunt hatte, seinen Schenkel. Legte ihre Wange an seine Rippen. Sie konnte fühlen, wie er darauf wartete, dass sie wieder den Rückzug antrat, doch vorher musste sie, wie im Gleitflug, die Ebene seines muskulösen Bauches streicheln, Haare berührend, aber keine Haut. Zu ihrer gelinden Überraschung fühlte sie seinen seinen seinen zum Leben erwachen, als ihre Finger sich ihm näherten. Sein Becken versuchte ihr auszuweichen, doch ihre Finger waren flinker. Sie fühlte, wie er unter dem Schlitz seiner Pyjamahose zum Mann wurde, und in einem Anfall von aufgestauter Begierde machte sie etwas, was er ihr noch nie zuvor erlaubt hatte. Sie beugte sich zur Seite und nahm ihn in den Mund. Ihn: den rasch heranwachsenden Jungen, das schwach urinös riechende Bürschchen. Mit ihren geschickten Händen und ihrem schwellenden Busen fühlte sie sich begehrenswert und zu allem fähig.
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