Ob jemand daheim war, bedeutete alles für ein Haus. Es war mehr als wesentlich: Es war das Einzige, was zählte.
Die Familie war die Seele des Hauses.
Der wache Geist war wie das Licht in einem Haus.
Die Seele war wie der Ziesel in seinem Bau.
Bewusstsein verhielt sich zu Gehirn wie Familie zu Haus.
Aristoteles: Angenommen, das Auge wäre ein Tier — dann wäre das Augenlicht dessen Seele.
Um den Geist zu begreifen, half es, sich häusliches Treiben vorzustellen, das Summen verwandten Lebens auf verschiedenen Gleisen, das elementare Flackern des heimischen Herds. Von «Gegenwart», «Unordnung» und «Geschäftigkeit» zu sprechen. Oder, umgekehrt, von «Leere» und «Verschlossenheit». Von «Ruhestörung». Vielleicht glich das sinnlos erleuchtete Haus, in dem drei Menschen, jeder für sich, im Keller ihren Dingen nachgingen und einer, ein kleiner Junge, allein im Erdgeschoss saß und auf einen Teller mit kaltem Essen starrte, dem Geist eines Depressiven.
Gary war der Erste, dem es im Keller langweilig wurde. Er tauchte an die Oberfläche, mied das zu helle Esszimmer, als warte dort das Opfer einer scheußlichen Entstellung, und stieg in den ersten Stock, um sich die Zähne zu putzen.
Kurz darauf folgte Enid mit sieben warmen weißen Hemden. Auch sie mied das Esszimmer. Ihre Gedanken gingen so: Wenn sie für das Problem im Esszimmer die Verantwortung trug, dann war es entsetzlich pflichtvergessen von ihr, es nicht zu lösen, eine liebende Mutter wäre nie und nimmer so pflichtvergessen, und da sie eine liebende Mutter war, konnte sie auch nicht dafür die Verantwortung tragen. Irgendwann würde Alfred auftauchen und sehen, was für ein Ungeheuer er gewesen war, und es würde ihm sehr, sehr Leid tun. Falls er es wagte, ihr die Schuld für das Problem in die Schuhe zu schieben, konnte sie sagen: «Du warst es doch, der gesagt hat, er soll hier sitzen, bis er fertig ist.»
Während sie sich ein Bad einlaufen ließ, steckte sie Gary ins Bett. «Bleib du nur immer mein kleiner Löwe», sagte sie.
«Ja.»
«Ist er wwwild? Ist er gefffährlich? Ist er mein wwwilder wwwuscheliger Lllöwe?»
Diese Fragen beantwortete Gary nicht. «Mom», sagte er. «Chipper sitzt immer noch am Tisch, und es ist schon fast neun.»
«Das ist eine Sache zwischen Dad und ihm.»
«Mom? Er mag dieses Essen wirklich nicht. Er tut nicht nur so.»
«Ich bin froh, dass du so ein guter Esser bist.»
«Mom, das ist nicht fair.»
«Herzchen, das ist bloß eine Phase, die dein Bruder da gerade durchmacht. Aber es ist wunderbar, dass du dich für ihn einsetzt. Es ist wunderbar, so lieb und gut zu sein. Bleib du nur immer so lieb und gut.»
Sie eilte hinaus, um das Wasser abzudrehen, und versenkte sich darin.
In einem dunklen Schlafzimmer nebenan stellte sich Chuck Meisner in dem Moment, als er in Bea eindrang, vor, sie sei Enid. Während er zum Samenerguss tuckerte, spekulierte er.
Er fragte sich, ob es an irgendeiner Börse einen Markt für Erie-Belt-Optionen gab. Fünftausend Aktien sofort, mit dreißig Verkaufsoptionen für den Fall eines Downside Hedge. Oder noch besser: einhundert Kaufoptionen, wenn jemand ihm einen Kurs stellte.
Sie war schwanger, und Chuck spekulierte auf wachsende Körbchengrößen, erst A, dann B und schließlich, wenn das Baby kam, vermutlich sogar C. Wie Kommunalobligationen kurz vor der Fälligkeit.
In St. Jude gingen, eins nach dem anderen, die Lichter aus.
Und wer lange genug am Abendbrottisch saß, sei es, dass er bestraft wurde oder dickköpfig oder einfach gelangweilt war, hörte nie auf, dort zu sitzen. Ein Teil von ihm blieb das ganze Leben dort sitzen.
Als könnte anhaltender und allzu direkter Kontakt mit dem nackten Ablauf der Zeit die Nerven dauerhaft schädigen, wie In-die-Sonne-Starren.
Als wäre allzu intime Kenntnis gleich welchen Innenraums ein Wissen, das zwangsläufig Schaden anrichtete. Ein Wissen, das sich nie mehr abwaschen ließ.
(Wie mürbe, wie zermürbt ein Haus, das im Übermaß bewohnt wurde.)
Chipper hörte Dinge und sah Dinge, aber alle waren in seinem Kopf. Nach drei Stunden hatten die Gegenstände, die ihn umgaben, wie ein alter Kaugummi jedes Aroma verloren. Seine mentale Erregung, vergleichsweise stark, hatte es ausgelöscht. Es hätte einer Willensanstrengung, eines Wiedererwachens bedurft, um den Begriff «Platzdeckchen» zu finden und ihn auf das Feld anzuwenden, das Chipper so eingehend betrachtet hatte, dass dessen Wirklichkeit allmählich zerfasert war, oder das Wort «Heizkessel» auf das Rauschen in den Rohren zu beziehen, das, weil es immer wiederkehrte, das Wesen eines Gefühlszustands angenommen hatte oder eines Schauspielers in seinem Kopf, einer Verkörperung der «bösen Zeit». Diss das Licht leicht flackerte, weil jemand bügelte und jemand spielte und jemand Experimente machte und der Kühlschrank sich ein- und wieder ausschaltete, war Teil des Traums gewesen. Dieses Schwanken, obschon kaum merklich, hatte etwas Quälendes gehabt. Aber jetzt hatte es aufgehört.
Jetzt war nur noch Alfred im Keller. Er untersuchte ein Eisenacetat-Gel mit den Polen eines Amperemeters.
Ein jüngst erzielter Fortschritt in der Metallurgie: die Formung von Metallen nach Maß bei Zimmertemperatur. Der Gral war eine Substanz, die gegossen oder geschmiedet werden konnte, nach der Bearbeitung (etwa mit elektrischem Strom) jedoch die überragenden Eigenschaften von Stahl besaß — Festigkeit, Leitvermögen und Ermüdungsresistenz. Eine Substanz, die biegsam war wie Plastik und hart wie Metall.
Die Angelegenheit war dringend. Ein Zivilisationskrieg war im Gange, und die Plastikstreitmächte gewannen. Alfred hatte bereits Marmeladen- und Geleegläser mit Plastikdeckeln gesehen. Autos mit Plastikdächern.
Unseligerweise stellte Metall in seiner reinen Form — ein schöner Stahlpfosten oder ein Kerzenleuchter aus massivem Messing — eine hohe Ordnungsstufe dar, während die Natur schlampig war und Unordnung vorzog. Rostkrümel. Die Promiskuität freischwebender Moleküle. Das Chaos warmer Dinge. Unordnung an sich entstand mit erheblich größerer Wahrscheinlichkeit spontan als ein perfekter Kubus aus Eisen. Nach dem Zweiten Gesetz der Thermodynamik war viel Arbeit erforderlich, um dieser Tyrannei des Wahrscheinlichen Einhalt zu gebieten — die Atome eines Metalls zu zwingen, sich zu benehmen.
Alfred war überzeugt, dass Elektrizität dieser Aufgabe gewachsen war. Der Strom, der aus dem Netz kam, war nichts anderes als von fern geliehene Ordnung. In Kraftwerken wurde aus einem wohlorganisierten Stück Kohle ein Gebläh nutzloser heißer Gase; ein erhöht liegendes, selbstgenügsames Wasserbecken verwandelte sich in einen entropischen Schwall, der irgendwo in ein Delta mündete. Solche Opfer des Geordneten erzeugten die nützlichen elektrischen Ladungen, die er zu Hause arbeiten ließ.
Er war auf der Suche nach einem Material, das die Fähigkeit besaß, sich selbst zu elektroplattieren. Er bildete Kristalle in ungewöhnlichen Materialien und setzte sie elektrischen Strömen aus.
Es war keine harte Wissenschaft, sondern primitiver Probabilismus auf der Basis von Versuch und Irrtum, ein blindes Tasten nach Zufällen, von denen er eventuell profitieren konnte. Einer seiner Kommilitonen aus dem College hatte mit den Ergebnissen einer solchen Zufallsentdeckung bereits die erste Million verdient.
Dass er sich irgendwann keine Sorgen mehr ums Geld machen müsste: Das war ein Traum, der jenem Traum glich, von einer Frau getröstet, wahrhaft getröstet zu werden, wenn ihn das Elend überkam.
Der Traum von der radikalen Verwandlung: eines Tages aufzuwachen und ein gänzlich anderer (selbstbewussterer, gelassenerer) Mensch zu sein, dem Gefängnis des Gegebenen zu entfliehen, göttliche Schaffenskraft zu verspüren.
Er hatte Ton und Silikatgel. Er hatte Silikonkitt. Er hatte schlammige Eisensalze, die in sich selbst zerflossen. Ambivalente Acetylacetonate und Tetrakarbonyle mit niedrigen Schmelzpunkten. Ein Stück Gallium, so groß wie eine Damaszenerpflaume.
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