Sie kehrte in derart gehobener Stimmung nach St. Jude zurück, dass sie es fertigbrachte, Gary anzurufen und ihm zu gestehen, sie habe Alfreds notariell beglaubigte Lizenzvereinbarung mit der Axon Corporation nicht abgeschickt, sondern in der Waschküche versteckt. Kaum hatte Gary ihr die enttäuschende Mitteilung gemacht, dass fünftausend Dollar vermutlich doch keine so unangemessene Lizenzgebühr seien, ging sie hinunter, um die beglaubigte Vereinbarung wieder hervorzukramen, und fand sie nicht mehr. Seltsam unbeschämt rief sie in Schwenksville an und bat Axon, ihr eine zweite Ausfertigung des Vertrags zu schicken. Alfred war verwirrt, als sie ihm diese Zweitausfertigung vorlegte, doch sie wedelte mit den Händen und sagte, tja, auf dem Postweg gehe nun mal das eine oder andere verloren. Dave Schumpert leistete ihnen erneut notarielle Dienste, und die ganze Zeit über ging es ihr wirklich gut, bis ihre Aslan-Vorräte aufgebraucht waren und sie vor Scham beinahe starb.
Ihre Scham war lähmend und entsetzlich. Anders als eine Woche zuvor machte es ihr jetzt zu schaffen, dass eintausend glückliche Reisende auf der Gunnar Myrdal mitbekommen hatten, wie sonderbar sie und Alfred waren. Ausnahmslos jedem auf dem Schiff war klar gewesen, dass die Landung im Hafen des historischen Gaspe sich verzögern und der kleine Ausflug zur pittoresken Bonaventura-Insel ausfallen würde, nur weil der zittrige Mann mit dem grässlichen Regenmantel irgendwohin gegangen war, wo niemand hingehen durfte, und weil sich seine selbstsüchtige Frau indessen bei einem Investment-Vortrag vergnügt und weil sie ein so schlimmes Mittel eingenommen hatte, dass kein Arzt in Amerika es legal verschreiben konnte, und weil sie nicht an Gott glaubte und das Gesetz missachtete, ja weil sie beängstigend, unsagbar anders war als die meisten.
Nacht für Nacht lag sie wach, litt Qualen vor Scham und sah die goldenen Kapseln bildhaft vor sich. Sie schämte sich, nach diesen Kapseln zu lechzen, und war doch gleichzeitig überzeugt, dass allein sie ihr Erleichterung verschaffen würden.
Anfang November begleitete sie Alfred zu seiner alle zwei Monate stattfindenden neurologischen Untersuchung im Zentralen Waldkliniken-Komplex. Denise, die es übernommen hatte, Alfred für die Phase zwei der Korrektal-Tests bei Axon anzumelden, hatte Enid gefragt, ob er ihr «geistig verwirrt» vorkomme. Enid gab die Frage in einem Gespräch unter vier Augen an Dr. Hedgpeth weiter, und als Hedgpeth antwortete, dass Alfreds wiederkehrende geistige Verwirrung auf Alzheimer oder Lewy-Körperchen-Demenz hindeute, unterbrach Enid ihn, um zu fragen, ob Alfreds «Halluzinationen» nicht vielleicht von dem hoch dosierten Dopamin ausgelöst würden, das er einnehme. Diese Möglichkeit konnte Hedgpeth nicht leugnen. Er sagte, die einzig sichere Methode, Demenz auszuschließen, sei die, Alfred für einen zehntägigen «Pillenurlaub» ins Krankenhaus zu schicken.
In ihrer Scham verschwieg Enid ihm, dass sie, was Krankenhäuser betraf, misstrauisch geworden war. Sie verschwieg ihm, dass es in dem kanadischen Krankenhaus ein Toben und Um-sich-Schlagen und Fluchen gegeben hatte, ein Umwerfen von Plastikkaraffen und rollenden Infusionsständern, bis Alfred hatte ruhig gestellt werden können. Sie verschwieg ihm, dass Alfred sie gebeten hatte, ihn zu erschießen, bevor sie ihn noch einmal an einen solchen Ort verfrachte.
Und als Hedgpeth wissen wollte, wie sie denn das alles verkrafte, verschwieg sie ihm auch ihr kleines Aslan-Problem. Vor lauter Angst, Hedgpeth könne in ihr die willensschwache, wild blickende Rauschgiftsüchtige erkennen, bat sie ihn nicht einmal um ein alternatives «Schlafmittel». Allerdings verschwieg sie ihm nicht, dass sie schlecht schlief. Das betonte sie sogar: Sie schlafe ganz miserabel. Doch Hedgpeth empfahl ihr nur, es mit einem anderen Bett zu versuchen. Er empfahl ihr Baldrian.
Als sie im Dunkeln neben ihrem schnarchenden Ehemann lag, erschien es ihr ungerecht, dass eine Medizin, die es in etlichen anderen Ländern ganz legal zu kaufen gab, für sie in Amerika nicht zu haben sein sollte. Es erschien ihr ungerecht, dass etliche ihrer Freundinnen solche «Schlafmittel» hatten, wie Hedgpeth sie ihr vorenthielt. Dass Hedgpeth die Dinge auch so grausam genau nehmen musste! Sicher, sie hätte zu einem anderen Arzt gehen und ihn um ein «Schlafmittel» bitten können, doch dieser andere Arzt hätte sich bestimmt gewundert, warum Enids Hausärzte ihr die gewünschten Medikamente verweigerten.
Das in etwa war die Lage, in der Enid sich befand, als Bea und Chuck Meisner aufbrachen, um sechs Wochen familiären Wintervergnügens in Österreich zu verleben. Am Tag vor Beas Abreise traf Enid sich zum Mittagessen mit ihr im Deepmire und bat sie, ihr in Wien einen Gefallen zu tun. Sie drückte Bea einen Zettel in die Hand, auf den sie ASLAN ‹Kreuzfahrt› (Rhadamanthinzitrat 88 %, 3-Methyl-Rhadamanthinchlorid 12 %) geschrieben hatte — wie es auf den unverkäuflichen Mustern stand — und daneben den Zusatz: in den USA vorübergehend nicht erhältlich, brauche Vorrat für sechs Monate.
«Bitte mach dir keine Umstände», sagte sie zu Bea, «aber wenn Klaus dir ein Rezept ausstellen könnte, wäre das so viel einfacher, als wenn mein Arzt sich etwas aus Europa schicken lassen müsste, also, wie auch immer, ich hoffe, ihr habt eine herrliche Zeit in meinem Lieblingsland!»
Enid hätte niemanden außer Bea um einen derart beschämenden Gefallen bitten können. Und auch Bea wagte sie nur zu fragen, weil (a) Bea ein klein wenig dumm war und (b) Beas Mann vor langer Zeit selbst einen beschämenden Insider-Kauf getätigt hatte, den der Erie-Belt-Aktien nämlich, und (c) Enid fand, dass Chuck Alfred nie angemessen für den Insider-Tipp gedankt oder sich sonst irgendwie erkenntlich gezeigt hatte.
Kaum waren die Meisners jedoch abgeflogen, begann Enids Scham, sie wusste auch nicht, wieso, nachzulassen. Als wäre ein böser Zauber von ihr gewichen, schlief sie besser und dachte weniger an das Mittel. Was den Gefallen betraf, um den sie Bea gebeten hatte, machte sie von ihrer Gabe der selektiven Vergesslichkeit Gebrauch. Allmählich bekam sie wieder das Gefühl, sie selbst, und das hieß: optimistisch zu sein.
Sie kaufte zwei Tickets für einen Flug nach Philadelphia am 15. Januar. Sie erzählte ihren Freundinnen, dass die Axon Corporation eine vielversprechende neue Gehirnarznei namens Korrektal teste und dass Alfred, da er sein Patent an Axon verkauft habe, als Testperson infrage komme. Sie sagte, dass Denise ein Engel sei und ihr und Alfred angeboten habe, für die Dauer der Tests bei ihr in Philadelphia zu wohnen. Sie sagte, nein, Korrektal sei kein Abführmittel, es sei ein revolutionäres neues Medikament gegen die Parkinson'sche Krankheit. Sie sagte, ja, der Name sei verwirrend, aber ein Abführmittel sei es nicht.
«Erklär den Leuten von Axon», bat sie Denise, «dass Dad ein paar geringfügige halluzinatorische Symptome hat, sein Arzt aber der Meinung ist, sie kämen wahrscheinlich von den Medikamenten. Denn falls Korrektal ihm hilft, brauchen wir ihm die Medikamente nicht mehr zu geben, weißt du, und dann hören die Halluzinationen wahrscheinlich auf.»
Nicht nur ihren Freundinnen, sondern allen ihren Bekannten in St. Jude, einschließlich ihres Schlachters, ihres Börsenmaklers und ihres Briefträgers, erzählte sie, dass ihr Enkel Jonah sie zu Weihnachten besuchen komme. Natürlich war sie enttäuscht, dass Gary und Jonah nur drei Tage bleiben und schon am Fünfundzwanzigsten mittags wieder abreisen wollten, doch auch in drei Tagen konnte man eine ganze Menge Schönes unterbringen. Sie hatte Karten für die Weihnachtsland-Lichtershow und den Nussknacker; außerdem standen Weihnachtsbaumschmücken, Schlittenfahren, Singen und ein Gottesdienst am Heiligen Abend auf dem Programm. Sie kramte Plätzchenrezepte hervor, nach denen sie zwanzig Jahre lang nicht gebacken hatte. Sie deckte sich mit Eierflip ein.
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