Gitanas und Chip schauten sich diesen Auftritt im ehemaligen Ballsaal der Villa im Fernsehen an. Zwei Leibwächter saßen in einer Ecke des Raums am Computer und spielten leise Dungeonmaster, während Gitanas für Chip die prächtigeren Perlen der Vitkunas'schen Rhetorik übersetzte. In den Flügelfenstern war das torfige Licht des kürzesten Tags tiefer Dunkelheit gewichen.
«Ich hab bei der Sache ein ungutes Gefühl», sagte Gitanas. «Ich glaube, Litschenkew will Vitkunas über den Haufen schießen und dann sein Glück mit dem Nachfolger versuchen, wer immer das ist.»
Chip, der sich größte Mühe gab zu vergessen, dass in vier Tagen Weihnachten war, wollte nicht unbedingt in Vilnius bleiben, nur um eine Woche nach den Feiertagen fortgejagt zu werden. Er fragte Gitanas, ob er schon daran gedacht habe, das
Credit-Suisse-Konto aufzulösen und das Land zu verlassen.
«O ja, natürlich.» Gitanas trug seine rote Motocross-Jacke und schlang sich die Arme um den Körper. «Jeden Tag träume ich davon, bei Bloomingdale's einkaufen zu gehen. Jeden Tag denke ich an den großen Baum vorm Rockefeller Center.»
«Was hält Sie dann noch hier?»
Gitanas kratzte sich am Kopf und roch an seinen Fingernägeln, das Kopfhautaroma mit den Hautfettgerüchen seiner Nasenpartie mischend; offensichtlich fand er Trost im Talg. «Wenn ich abhaue», sagte er, «und der Sturm sich legt, wo stehe ich dann? Ich bin doch dreifach angeschmiert. In Amerika kann mich keiner einstellen. Ab nächstem Monat bin ich nicht mehr mit einer Amerikanerin verheiratet. Und meine Mutter lebt in Ignalina. Was soll ich in New York?»
«Wir könnten in New York weitermachen.»
«Da gibt's Gesetze. Die würden uns innerhalb einer Woche den Hahn zudrehen. Ich bin dreifach angeschmiert.»
Gegen Mitternacht ging Chip nach oben und schob sich zwischen seine dünnen, kalten Ostblocklaken. In seinem Zimmer hing der Geruch von feuchtem Mörtel, Zigaretten und intensiven synthetischen Shampooduftnoten, wie sie der baltischen Nase schmeichelten. Seine Gedanken nahmen ihr eigenes Schwirren wahr. Es gelang ihm nicht, in den Schlaf zu sinken, er zuckte immer wieder hoch wie ein übers Wasser hüpfender Stein. Mehrfach hielt er das Licht, das von der Straße durch sein Fenster fiel, für Tageslicht. Er ging hinunter und stellte fest, dass es schon später Nachmittag war, Heiligabend; da ergriff ihn die panische Angst eines Menschen, der verschlafen hatte, die Angst, ins Hintertreffen geraten zu sein, ein Informationsdefizit zu haben. Seine Mutter bereitete in der Küche das Weihnachtsabendessen zu. Sein Vater, jugendlich in Lederjacke, saß im dämmrigen Ballsaal und schaute die CBS-Abendnachrichten mit Dan Rather. Höflichkeitshalber fragte Chip ihn, was es für Neuigkeiten gebe.
«Sag Chip», antwortete Alfred, der ihn nicht erkannte, «dass da im Osten Unruhen sind.»
Das wirkliche Tageslicht kam um acht. Geschrei auf der Straße weckte ihn. Sein Zimmer war ausgekühlt, aber nicht eisig; der Heizstrahler roch nach warmem Staub — der zentrale Heißwasserspeicher der Stadt funktionierte, die gesellschaftliche Ordnung war noch intakt.
Durch die Zweige der Fichten vor seinem Fenster sah er, dass sich hinter dem Zaun mehrere Dutzend Männer und Frauen in unförmigen Mänteln zu einer Menge zusammengerottet hatten.
Eine feine Schicht Schnee war in der Nacht gefallen. Zwei von Gitanas' Sicherheitsleuten, die Brüder Jonas und Aidaris — große blonde Kerle mit halb automatischen Gewehren über der Schulter — , verhandelten durch die Stäbe des vorderen Gittertors mit zwei mittelalten Frauen, deren messingfarbenes Haar und rote Gesichter, wie die Wärme des Heizstrahlers, Zeugnis vom Fortgang des alltäglichen Lebens gaben.
Unten hallte der Ballsaal von emphatischen litauischen Fernsehansprachen wider. Gitanas saß an derselben Stelle, wo Chip ihn am vergangenen Abend zurückgelassen hatte, trug jedoch andere Kleider und schien geschlafen zu haben.
Das graue Morgenlicht, der Schnee auf den Bäumen und das gewisse Vorgefühl von Chaos und Auflösung erinnerten an das Ende eines Herbstsemesters, den letzten Prüfungstag vor den Weihnachtsferien. Chip ging in die Küche und goss Vitasoy-Delite-Vanillesojamilch auf eine Schüssel «Barbaras unbehandelte leicht bekömmliche Vollwertflocken». Er trank ein wenig von dem dickflüssigen deutschen Bio-Schwarzkirschsaft, den er kürzlich für sich entdeckt hatte. Dann kochte er zwei Becher Instantkaffee und nahm sie mit in den Ballsaal, wo Gitanas inzwischen den Fernseher ausgeschaltet hatte und wieder an seinen Fingernägeln schnüffelte.
Chip fragte ihn, was es für Neuigkeiten gebe.
«Alle meine Leibwächter außer Jonas und Aidaris sind abgehauen», sagte Gitanas. «Mit dem VW und dem Lada. Ich glaube kaum, dass sie zurückkommen.»
«Wer braucht schon Angreifer, wenn er solche Beschützer hat?», sagte Chip.
«Sie haben uns den Stomper hier gelassen; der zieht Verbrechen geradezu magnetisch an.»
«Wann war das?»
«Ich vermute, gleich nachdem Präsident Vitkunas die Armee in Alarmbereitschaft versetzt hatte.»
Chip lachte. «Und wann war das?»
«Heute Morgen. In der Stadt läuft offenbar noch alles normal — mit Ausnahme von Transbaltikum Mobil natürlich», sagte Gitanas.
Die Menge auf der Straße war angewachsen. Vielleicht hundert Leute standen jetzt vor dem Haus und hielten allesamt ihre Handys hoch, aus denen ein schauriger, engelhafter Gesang ertönte. Es war der ZUR ZEIT AUSSER BETRIEB-Refrain.
«Ich möchte, dass Sie nach New York zurückkehren», sagte Gitanas. «Was hier passiert, werden wir sehen. Vielleicht komme ich nach, vielleicht auch nicht. Über Weihnachten muss ich erst mal zu meiner Mutter. Hier ist Ihre Abfindung.»
Er warf Chip einen dicken braunen Umschlag zu, und im selben Moment hallten die Außenwände der Villa von vielfachen dumpfen Schlägen wider. Chip ließ den Umschlag fallen. Ein Stein krachte durch eines der Fenster, prallte einmal vom Boden ab und blieb neben dem Fernseher liegen. Der Stein war vierkantig: die abgebrochene Ecke eines Granitpflastersteins. Er war mit frischer Feindseligkeit überzogen und sah leicht verlegen aus.
Gitanas rief über die Kupferdrahtleitung bei der «Polizei» an und meldete erschöpft, was passiert war. Die Brüder Jonas und Aidaris, Finger am Abzug, kamen durch die Eingangstür, kalte Luft mit einem fichtigen Jularoma hereinbringend. Die Brüder waren Gitanas' Vettern; das erklärte vermutlich, warum sie nicht mit den anderen desertiert waren. Gitanas legte auf und besprach sich mit ihnen auf Litauisch.
Der braune Umschlag enthielt ein sattes Bündel Fünzig- und Hundertdollarscheine.
Chips banges Traumgefühl, er könne zu spät bemerkt haben, dass Weihnachten war, hielt auch bei Tageslicht vor. Keiner der jungen Webheads war heute zur Arbeit erschienen, und gerade hatte er von Gitanas etwas geschenkt bekommen, und Schnee klebte an Fichtenzweigen, und Weihnachtssänger in unförmigen Mänteln standen vor dem Tor…
«Packen Sie Ihre Sachen», sagte Gitanas. «Jonas fährt Sie zum Flughafen.»
Mit leerem Kopf und leerem Herzen ging Chip nach oben. Auf der Veranda vor dem Haus hörte er Schüsse, das Tingeling fallender Patronenhülsen, Jonas und Aidaris, die (hoffte er) in den Himmel zielten. Kling, Glöckchen, kling.
Er zog seine Lederhose und Lederjacke an. Das Packen seiner Sachen verband ihn mit dem Moment des Auspackens Anfang Oktober, eine Zeitschleife wurde vollendet und eine Zugschnur festgezurrt, die die dazwischen liegenden zwölf Wochen verschwinden ließ. Da stand er nun wieder und packte.
Gitanas, den Blick auf die Nachrichten geheftet, roch an seinen Fingern, als Chip in den Ballsaal zurückkam. Auf dem Fernsehbildschirm bewegte sich Victor Litschenkews Schnurrbart rauf und runter.
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