»Papa, ich hab’ Angst.« Marie-Louise warf die Arme um ihn. »Sinkt das Boot? Werden wir Gefangene der Yankees?«
»Nein«, keuchte er. Eine Kanone dröhnte. Unter Deck erfolgte eine heftige Detonation. Jemand schrie: »Der Rumpf ist getroffen.«
Sofort legte sich der Blockadebrecher scharf nach Steuerbord über. Cooper sah Ballantyne aufgeregt an Deck herumrennen, auf der Suche nach Männern, die ihm helfen würden, ein Boot zu Wasser zu lassen. »Bastard«, sagte Cooper. »Habgieriger, dämlicher Bastard. Kommt, Kinder, Judith, wir steigen in dieses Boot, und wenn ich dafür jeden Mann dieses Schiffes umbringen muß.«
Wenn alles fehlschlug, dachte Cooper, konnten sie immer noch an den Strand schwimmen. Seine Tochter festhaltend, arbeitete er sich über das stark geneigte, schlüpfrige Deck auf den Kapitän zu, der sich mit einem Boot abmühte.
»Ballantyne!« – Bevor Cooper noch was brüllen konnte, schlug die nächste Granate unterhalb der Wasserlinie ein. Der Explosion folgte ein entsetzlicher Lärm – das Kreischen reißenden Metalls, das wütende Zischen von Dampf und Schreie, wie sie Cooper noch nie gehört hatte.
In all dem Lärm, dem Kreischen, dem Krachen von Brandung und Kanonen, verschaffte sich Ballantyne unglaublicherweise Gehör.
»Die Kessel sind geplatzt. Jeder Mann – « Zwischen Ballantynes Beinen riß das Deck auf; laut aufbrüllend wurde er von einer Dampfwolke verschluckt. Der Maat, Soapes und zwei andere Mannschaftsmitglieder sprangen als erste über Bord. Sterbende Männer schrien im Maschinenraum. Cooper wurde heftig gegen die Reling geschleudert. Er kletterte hinüber; mit einem Arm umklammerte er die Schulter seiner Tochter, mit der anderen Hand tastete er nach Judiths Hand und hielt sie fest. Der Dampfer holte noch weiter über, der Kiel stieg aus dem Meer. Die Mains flogen über die Reling in weißen Dampf.
Wassertretend keuchte Cooper: »Wo ist – Judah?«
»Ich weiß nicht«, rief Judith zurück.
Dann, mitten unter den Trümmern der berstenden Water Witch, entdeckte er einen treibenden Körper, dessen Kleider er erkannte. Er stieß Marie-Louise zu seiner Frau und kämpfte sich das kurze Stück gegen die Wellen vor. Die düstere Vorahnung überfiel ihn, daß sein Sohn tot war, von den platzenden Kesseln erschlagen. Judah trieb mit dem Gesicht nach oben auf dem Wasser. Cooper griff nach der Schulter seines Sohnes, verfehlte sie und erwischte ihn am Kopf, der langsam herumrollte; an mehreren Stellen kamen die Knochen durch. Judah war kaum zu erkennen.
»Judah!« Er kreischte den Namen hinaus. Der leichte Körper trieb weg und ging unter. »Judah! Judah!« Er zerrte ihn zurück; Wogen schleuderten ihn hin und her, das Wasser schlug über ihm zusammen, vermischte sich mit seinen Tränen. »Judith, er ist tot, er ist tot!«
»Schwimm, Cooper!« Sie packte ihn am Kragen, riß daran. »Schwimm mit uns, oder wir kommen alle um!«
Ein Mastteil krachte dicht hinter ihr ins Wasser. Cooper begann mit dem linken Arm zu rudern, während seine rechte Hand die hysterisch heulende Marie-Louise stützte. Judith half von der anderen Seite. Cooper spürte den Schmerz in seiner Brust, dann in seinen Muskeln; jede Welle, die von hinten über ihn hereinbrach, brachte ihn dem Ertrinken näher.
Einen Augenblick später stieß er gegen treibende Gegenstände. Er spuckte Salzwasser und einen Teil seines Mageninhalts; neben ihnen schwammen runde, eingewickelte Scheiben und kleine Holzkistchen mit spanischen Aufschriften. Sherry und Käse, Käse und Sherry – auf und ab, auf und ab, an der Küste des Krieges.
Der Anblick verschmolz Coopers Gedanken und Ängste und Gefühle, sperrte sie in ein solides schwarzes Delirium. Er schrie noch einmal auf und schwamm dann weiter und weiter. An nichts anderes erinnerte er sich mehr.
71
Im Halbdunkel eilte Orry an einer Mauer vorbei, auf die jemand drei Worte geschmiert hatte: Tod für Davis. Weder diese Botschaft – nichts Ungewöhnliches in diesen Zeiten – noch sonst etwas, sein verhaßter Job eingeschlossen, konnten ihm die Laune verderben. Er beeilte sich, weil das Abendessen länger als beabsichtigt gedauert hatte. Er und sein alter Freund George Pickett hatten eine Vierzig-Dollar-Flasche zu ihrem Mahl geleert.
Pickett, der in West Point Orrys Klassenkamerad gewesen war, zog seinen Freund damit auf, daß er seine Zeit auf einen Job als Wachhund für General Winder verschwendete. »Obwohl der arme Irre weiß Gott von jemandem im Auge behalten werden muß, damit er uns vor der Welt keine Schande macht.« Orry konterte, daß täglich Waggonladungen Gefangene in die Stadt kamen und in die überfüllten Gefängnisse gesteckt wurden.
»Winder verwaltete diese Örtlichkeiten ebenfalls, verstehst du. Die Yankees würden noch viel schlimmer behandelt werden, wenn das Kriegsministerium nicht ab und zu hineinschauen und die übelsten Exzesse verhindern würde.«
Das sah Pickett ein. Als sie am Grund der Weinflasche angelangt waren, gestand er ein, daß er trotz seiner Beförderung zum Generalmajor im Herbst unglücklich war. Während der letzten Monate hatte er das Mittelstück der Fredericksburg-Linie kommandiert; es hatte sich kaum was ereignet. Zwischen den alten Freunden schien eine unausgesprochene Wahrheit in der Luft zu hängen. Der Krieg lief nicht gut für die Konföderation.
Arm in Arm marschierten sie hinaus und trennten sich auf der Straße; Pickett ging mit seiner Frau in das elegante neue Theater von Richmond, und Orry holte Madeline vom Zug ab.
Er eilte durch den überfüllten, düsteren Bahnhof; auf einer großen Tafel stand in Kreide, daß der Richmond & Petersburg-Zug anderthalb Stunden Verspätung hatte.
Die Nacht fiel herab. Die Wartezeit erschien ihm viel länger als angekündigt. Endlich tauchte jenseits des Bahnsteigs ein Licht auf; zischend und fauchend und Rauchwolken ausstoßend fuhr der Zug ein. Aus den Wagen, die meisten mit zerbrochenen Fensterscheiben, drängten sich Männer, die nach ihrem Urlaub wieder zum Dienst antreten mußten, und Zivilisten jeder Schattierung. Aufgrund seiner Größe ragte Orry aus der Menge heraus. Er sah niemanden, der ihm bekannt vorgekommen wäre.
Hatte sie den Anschluß verpaßt? War sie nicht fahrplanmäßig weggekommen? Fahrgäste winkten wartenden Freunden zu, verschwommene, glückliche Gesichter huschten vorbei. Angst und Sorge vertieften sich. Und dann stieg sie aus dem letzten Wagen.
»Madeline!« Er brüllte und winkte wie ein Schuljunge. Sie sah erschöpft und wunderschön aus.
»Oh, Orry – mein Liebling. Mein Liebling.« Sie ließ einen Handkoffer und zwei Hutschachteln fallen und warf die Arme um seinen Hals, küßte ihn, weinte. »Ich dachte, ich würde nie hier ankommen.«
»Das dachte ich auch.« Glücklich wie ein junger Bräutigam trat er zurück. »Geht’s dir gut?«
»Ja, ja – und dir? Wir müssen meinen großen Koffer aus dem Gepäckwagen holen.«
»Und dann besorgen wir uns draußen eine Kutsche. Ich traue mich gar nicht, dir meine Zimmer zu zeigen. Sie sind scheußlich, aber was Besseres konnte ich nicht kriegen.«
»Um bei dir sein zu können, würde ich auf einem Müllhaufen schlafen. Guter Gott, Orry – es ist so lange her. Oh, mein Liebling, du hast an Gewicht verloren.«
Die Sätze überstürzten sich. Auf der Fahrt zum Quartier saß er links neben Madeline, damit er seinen Arm um sie legen konnte.
»Ich konnte es nicht erwarten, bis du kommst, aber es ist eine schlechte Zeit für einen Besuch in Richmond. Den Leuten geht es elend, jeden Tag werden sie gereizter. Alles wird knapp.«
»Eines bestimmt nicht. Meine Liebe für dich.« Sie küßte ihn. Sie tat so, als wären seine Räumlichkeiten in der Pension der reinste Palast. Er genoß im Scheine der einzigen schwachen Gaslampe ihren Anblick und fragte sie: »Hast du Hunger?«
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