1 Er arbeitete nicht wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer, der nichts will, als arbeiten, weil er sich als lebendigen Menschen für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht und im übrigen grau und unauffällig umhergeht wie ein abgeschminkter Schauspieler, der nichts ist, solange er nichts darzustellen hat. Er arbeitete stumm, abgeschlossen, unsichtbar und voller Verachtung für jene Kleinen, denen das Talent ein geselliger Schmuck war, die, ob sie nun arm oder reich waren, wild und abgerissen einhergingen oder mit persönlichen Krawatten Luxus trieben, in erster Linie glücklich, liebenswürdig und künstlerisch zu leben bedacht waren, unwissend darüber, dass gute Werke nur unter dem Druck eines schlimmen Lebens entstehen, dass, wer lebt, nicht arbeitet und dass man gestorben sein muss, um ganz ein Schaffender zu sein.
IV
1 «Störe ich?» fragte Tonio Kröger auf der Schwelle des Ateliers. Er hielt seinen Hut in der Hand und verbeugte sich sogar ein wenig, obgleich Lisaweta Iwanowna seine Freundin war, der er alles sagte.
2 «Erbarmen Sie sich (помилуйте), Tonio Kröger, und kommen Sie ohne Zeremonien herein!» antwortete sie mit ihrer hüpfenden Betonung (со своей отрывистой: «прыгающей» интонацией). «Es ist bekannt, dass Sie eine gute Kinderstube genossen haben (получили хорошее воспитание: «насладились хорошей детской комнатой») und wissen, was sich schickt (что прилично, что следует = как надо себя вести).» Dabei steckte sie ihren Pinsel (кисть) zu der Palette in die linke Hand, reichte ihm die rechte und blickte ihm lachend und kopfschüttelnd (качая головой) ins Gesicht.
3 «Ja, aber Sie arbeiten», sagte er. «Lassen Sie sehen ... O, Sie sind vorwärtsgekommen (продвинулись).» Und er betrachtete abwechselnd (попеременно) die farbigen Skizzen (эскизы, наброски), die zu beiden Seiten der Staffelei (мольберт) auf Stühlen lehnten, und die große, mit einem quadratischer Liniennetz überzogene Leinwand (холст), auf welcher, in dem verworrenen und schemenhaften Kohleentwurf (в путаном, схематическом наброске углем; enwerfen - набросать), die ersten Farbflecke (пятна краски) aufzutauchen begannen.
4 Es war in München, in einem Rückgebäude (в одном из зданий в глубине двора:
«в заднем здании») der Schellingstraße, mehrere Stiegen hoch (несколько этажей: «лестниц» вверх; die Stiege). Draußen, hinter dem breiten Nordlicht-Fenster (за широким окном в потолке, в скате крыши; das Nordlicht - северное сияние), herrschte Himmelsblau, Vogelgezwitscher und Sonnenschein, und des Frühlings junger, süßer Atem, der durch eine offene Klappe (в форточку; die Klappe - клапан; заслонка; форточка) hereinströmte, vermischte sich mit dem Geruch von Fixativ (das Fixativ - тонкое лаковое покрытие /на рисунок/) und Ölfarbe, der den weiten Arbeitsraum erfüllte. Ungehindert (без помех; hindern - препятствовать) überflutete das goldige Licht (заливал золотистый свет) des hellen Nachmittags die weitläufige Kahlheit (просторную пустоту; kahl - голый; лысый; пустой /о комнате/) des Ateliers, beschien freimütig (освещал откровенно, прямодушно) den ein wenig schadhaften Fußboden (немного выщербленный: «поврежденный» пол; der Schaden - вред, ущерб), den rohen (сырой = некрашеный, необработанный, грубый), mit Fläschchen, Tuben und Pinseln bedeckten Tisch unterm Fenster und die ungerahmten Studien an den untapezierten Wänden, beschien den Wandschirm aus rissiger Seide (обветшавшую шелковую ширму; der Riss - трещина, щель, дыра; reißen - рвать), der in der Nähe der Tür einen kleinen, stilvoll möblierten Wohn- und Mußewinkel («уголок досуга»; die Muße - досуг, праздность) begrenzte, beschien das werdende Werk («становящееся» произведение, произведение, находящееся в стадии становления) auf der Staffelei und davor die Malerin und den Dichter.
5 Sie mochte etwa so alt sein wie er (ей, видимо, было примерно столько же лет, как и ему), nämlich ein wenig jenseits der Dreißig. In ihrem dunkelblauen, fleckigen Schürzenkleide saß sie auf einem niedrigen Schemel und stützte das Kinn in die Hand. Ihr braunes Haar, fest frisiert (туго стянутые /в пучок/) und an den Seiten schon leicht ergraut, bedeckte in leisen Scheitelwellen (der Scheitel - темя, макушка; пробор) ihre Schläfen und gab den Rahmen zu ihrem brünetten, slawisch geformten, unendlich sympathischen Gesicht mit der Stumpfnase (со вздернутым носом; stumpf - тупой), den scharf herausgearbeiteten Wangenknochen (остро выделяющимися: «выработанными, отточенными» скулами) und den kleinen, schwarzen, blanken Augen. Gespannt (напряженно), misstrauisch (недоверчиво) und gleichsam gereizt (словно с раздражением) musterte (вглядывалась, осматривала) sie schiefen und gekniffenen Blicks (косым и сощуренным взглядом; kneifen - щипать, ущипнуть; die Augen kneifen - сощурить глаза) ihre Arbeit ...
1 «Störe ich?» fragte Tonio Kröger auf der Schwelle des Ateliers. Er hielt seinen Hut in der Hand und verbeugte sich sogar ein wenig, obgleich Lisaweta Iwanowna seine Freundin war, der er alles sagte.
2 «Erbarmen Sie sich, Tonio Kröger, und kommen Sie ohne Zeremonien herein!» antwortete sie mit ihrer hüpfenden Betonung. «Es ist bekannt, dass Sie eine gute Kinderstube genossen haben und wissen, was sich schickt.» Dabei steckte sie ihren Pinsel zu der Palette in die linke Hand, reichte ihm die rechte und blickte ihm lachend und kopfschüttelnd ins Gesicht.
3 «Ja, aber Sie arbeiten», sagte er. «Lassen Sie sehen ... O, Sie sind vorwärtsgekommen.» Und er betrachtete abwechselnd die farbigen Skizzen, die zu beiden Seiten der Staffelei auf Stühlen lehnten, und die große, mit einem quadratischer Liniennetz überzogene Leinwand, auf welcher, in dem verworrenen und schemenhaften Kohleentwurf, die ersten Farbflecke aufzutauchen begannen.
4 Es war in München, in einem Rückgebäude der Schellingstraße, mehrere Stiegen hoch. Draußen, hinter dem breiten Nordlicht-Fenster, herrschte Himmelsblau, Vogelgezwitscher und Sonnenschein, und des Frühlings junger, süßer Atem, der durch eine offene Klappe hereinströmte, vermischte sich mit dem Geruch von Fixativ und Ölfarbe, der den weiten Arbeitsraum erfüllte. Ungehindert überflutete das goldige Licht des hellen Nachmittags die weitläufige Kahlheit des Ateliers, beschien freimütig den ein wenig schadhaften Fußboden, den rohen, mit Fläschchen, Tuben und Pinseln bedeckten Tisch unterm Fenster und die ungerahmten Studien an den untapezierten Wänden, beschien den Wandschirm aus rissiger Seide, der in der Nähe der Tür einen kleinen, stilvoll möblierten Wohn- und Mußewinkel begrenzte, beschien das werdende Werk auf der Staffelei und davor die Malerin und den Dichter.
5 Sie mochte etwa so alt sein wie er, nämlich ein wenig jenseits der Dreißig. In ihrem dunkelblauen, fleckigen Schürzenkleide saß sie auf einem niedrigen Schemel und stützte das Kinn in die Hand. Ihr braunes Haar, fest frisiert und an den Seiten schon leicht ergraut, bedeckte in leisen Scheitelwellen ihre Schläfen und gab den Rahmen zu ihrem brünetten, slawisch geformten, unendlich sympathischen Gesicht mit der Stumpfnase, den scharf herausgearbeiteten Wangenknochen und den kleinen, schwarzen, blanken Augen. Gespannt, misstrauisch und gleichsam gereizt musterte sie schiefen und gekniffenen Blicks ihre Arbeit ...
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