»Was tun wir hier?«
»Du hast uns angelogen.«
Brom packte Ren, als könnte er eine Antwort erzwingen, aber Ren stieß ihn weg.
»Jetzt wisst ihr Bescheid«, sagte er.
Aus dem Friedhof hörte man jemanden schreien. Benjamin rief Rens Namen. Die Jungen wurden aus ihrem Wortwechsel gerissen und kletterten hastig über den Zauntritt. Die Schaufeln lagen auf dem Boden, und Dolly hatte Benjamin hochgehoben und drückte ihn an einen Baum.
»Herrgott noch mal.« Benjamin zappelte in seinem neuen blauen Mantel wie ein Käfer. Er trat um sich und schlug in die Luft.
»Lass ihn runter!«, schrie Ren.
»Ich grab keine Toten aus«, sagte Dolly. »Nicht für euch. Für niemand.«
Der Mantel rutschte, und Dolly drückte Benjamin fester an den Baum; seine Hände näherten sich seiner Kehle. Ren stürzte sich auf Dollys Arm. Er hängte sich mit seinem ganzen Gewicht daran, aber der Arm rührte sich so wenig wie ein Ast an einem Baum.
»Hör zu.« Benjamin konnte nur noch flüstern. »Hör mir zu.«
Aus dem Dunst tauchte Tom auf, den schweren Eisenspaten über der Schulter. Lautlos schlich er sich hinter Dolly an, holte weit aus und schlug ihm die Schippe über den Schädel. Dolly stand einen Moment lang da, zuckte leicht, dann sackte er zusammen und riss Benjamin mit sich; mit einem dumpfen Schlag knallte sein Körper auf den Boden.
»Schafft ihn runter.« Benjamin fluchte. Tom und die Jungen eilten zu ihm und rollten Dolly mühsam von Benjamins Beinen herunter.
Ren zwickte Dolly noch einmal in die Hand. Er rief ihn beim Namen. Als Dolly nicht reagierte, legte Ren ein Ohr an seinen Mund und horchte. Nach ein paar Sekunden hörte er einen schwachen Lufthauch, ein leises Geräusch, wie wenn der Wind vom Wasser her weht.
Tom beugte sich vor. »Der kriegt schlimmere Kopfschmerzen als ich.«
»Du hättest ihn nicht zu schlagen brauchen«, sagte Ren.
»Ach«, sagte Tom. »Hast du vielleicht eine bessere Idee, wie man ihn daran hindern kann, andere Leute zu erwürgen?«
In der Dunkelheit standen sie alle um Dolly herum und lauschten seinem schwerfälligen Atem. Mit vereinten Kräften schleiften sie ihn zum Baum, richteten seinen Oberkörper auf und lehnten ihn an den Stamm. Mit dem Kopf an der Rinde schlief Dolly weiter; unter seiner Kutte spitzten die Knie hervor.
»Ohne ihn werden wir nie fertig.« Benjamin hockte sich ins Gras. Er zupfte an seinen Haaren. Dann sah er die Jungen an, und sein ganzes Gesicht schien sich zu verhärten. Er nahm Dollys Spaten und drückte ihn Ren in die Hand. Der hölzerne Griff war aufgeraut, weil er bei Wind und Wetter im Freien gestanden hatte, und Ren spürte, wie sich ein winziger Span in seinen Handteller bohrte.
Benjamin schnappte sich die Zwillinge und schob sie in Richtung Gräber. »Achtet auf die Markierungen«, sagte er. »Bevor die Sonne aufgeht, müssen wir weg sein.«
Die Grabsteine in der Mitte des Friedhofs waren aus Schiefer. Längliche schwarze Platten, die aus dem Boden ragten. An der Seite standen ein paar Gedenksteine aus Marmor, mit Urnen und Engeln, die kummervoll auf die Gräber herabsahen oder weinend auf die Namen deuteten. Benjamin zeigte in die hinterste Ecke. »Ich habe bei allen weiße Steinchen ans Fußende gelegt«, sagte er. »Die müsstet ihr in der Dunkelheit sehen können.«
Tom machte sich weiter vorn in der Reihe ans Werk. Denn genau das war es, wie Ren jetzt erkannte – eine Reihe frisch zugeschütteter Gräber. Insgesamt vier. Zwei mittelgroße Kreuze und zwei kleinere. Der Schankkellner und seine Familie.
»Erst holst du den Alten raus.«
»Genau das tue ich.« Tom hatte bereits knöcheltief gegraben. Er atmete schwer, und während er grub, bekam sein Gesicht allmählich Farbe.
Benjamin führte die Jungen zu einem Kreuz weiter hinten. »Hebt nicht das ganze Grab aus. Wir müssen nur ans obere Sargende kommen.«
Benommen ging Ren zu dem Grab und schleifte den Spaten hinter sich her. Am Fuß des Kreuzes lag ein durchscheinender Quarzbrocken. Er hob ihn auf und strich mit dem Daumen darüber. Seine Kanten waren glatt und hatten winzige schimmernde Flecken, die in seiner Hand blitzten. Er schloss seine Finger um den Quarz. Dann wandte er sich den Zwillingen zu. »Wir müssen graben.«
Brom schüttelte den Kopf.
»Ich will das nicht«, flüsterte Ichy.
Ren stieß den Spaten in den Boden, hob einen kleinen Brocken Erdreich aus und stabilisierte den Griff mit seinem Armstumpf. Die Erde war schwer vom Regen, die Kruste oben hart und spröde. Er gab sich Mühe, weder auf den Markierungsstein noch auf den Namen zu schauen – Sarah, Ehefrau des Samuel – , der in das Holzkreuz eingekerbt war. Er dachte an das, was Dolly gesagt hatte. Dass er gehört hatte, wie sie nach ihm gruben. Dass er sie durchs Erdreich hatte kommen hören.
Tom verfluchte und beschimpfte die Zwillinge, bis sie endlich mithalfen. Brom und Ichy wechselten sich mit ihrer Schaufel ab, und Ren räumte immer wieder die Steine beiseite. Es kam ihnen vor, als würde die Arbeit kein Ende nehmen. Sie gruben immer tiefer, bis es plötzlich einen dumpfen Schlag tat und die Schaufel auf Holz traf. Ren hockte sich an den Rand der Grube. Weit unter sich sah er den bleichen Fichtensarg, dessen Ende aus der Erde hervorlugte wie ein Kopf unter einer Decke.
Benjamin kam mit einem langstieligen Spaten herbei. Er stieß die Jungen beiseite und schob ihn in die Grube. Drei Versuche waren nötig, bis das Blatt Halt gefunden hatte und man das Holz splittern hörte. Dann brachte Tom zwei Ketten mit großen Metallhaken an beiden Enden. Als sie in das Grab hinuntergelassen wurden, erkannte Ren, dass es sich um Fleischerhaken handelte, wie er sie im Metzgerladen gesehen hatte.
»Hast du ihn?«, fragte Benjamin.
»Gleich«, sagte Tom. »Hier rüber. Ja. Ich hab ihn.«
Sie hakten den Leichnam unter den Armen ein und zogen ihn heraus.
Sarah, die Ehefrau des Samuel, war in ihrem Hochzeitskleid begraben worden. Es war nicht aus Seide, sondern aus steifem, hartem Leinen, das an Hals und Schultern mit rosaroten Blumen bestickt war. Vom Kragen bis zur Taille verlief eine Reihe Perlmuttknöpfe, und die Hände der Toten steckten in gehäkelten Handschuhen.
Ren gab sich Mühe, auf das Kleid zu schauen und nicht in ihr Gesicht – ihre Haut war starr und kalt wie Wachs, das Haar strohig. Benjamin entfernte die Metallhaken und schleifte die Frau zu einem Grasflecken; ihr Kleid fegte über den Boden, und unter ihrem Rock kamen kleine weiße Lederstiefel zum Vorschein, die aussahen wie zwei weiß gestrichene Ästchen. Ihre Lippen waren tiefrot und leicht geöffnet.
»Gib mir das Messer«, sagte Benjamin.
Es dauerte einen Moment, ehe Ren begriff. Er schob die Hand in die Tasche, holte das Messer mit dem Bären heraus, und mit einem mulmigen Gefühl gab er es ihm. Benjamin schob die Klinge unter den Kragen des Hochzeitskleides und schnitt mit einem einzigen Ruck die Knöpfe ab. Die runden Perlen sprangen wie Reiskörner in die Luft, verteilten sich im Gras und wurden im Mondlicht zu glitzernden Tupfen.
Benjamin gab Ren das Messer zurück. »Zieht ihr die restlichen Sachen aus. Das Kleid ist mindestens fünf Dollar wert.« Damit ließ er die Jungen stehen und ging hinüber zu Tom, und gemeinsam machten sich die beiden Männer daran, das nächste Grab auszuheben.
Ren wandte sich seinen Freunden zu, das Messer noch in der Hand.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Brom.
»Ich möchte nach Hause«, heulte Ichy.
Ren hätte ihm am liebsten einen Tritt gegeben. »Wir gehen nirgendwohin.«
Er versuchte der Frau das Kleid von den Schultern zu ziehen, aber ihre Arme ließen sich nicht beugen. Er drohte Brom und Ichy, bis sie sich hinknieten und mithalfen. Sie waren zu verängstigt, um etwas anderes zu tun, als zu gehorchen. Am Ende rollten sie die Frau auf den Bauch, schnitten die Schnürung im Rücken durch und zogen ihr das Kleid von hinten ab, nachdem Ren die Nähte aufgetrennt hatte. Darunter trug sie einen schlichten weißen Unterrock und ein Mieder. Im Nacken hatte sie ein Muttermal, zwei kleine braune Flecken, zusammengehalten von etwas, das aussah wie ein klitzekleiner Mund.
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