Ren schaute die Straße entlang, die sich vor ihnen in der Dunkelheit erstreckte. Ein Stück weiter vorn war eine Lichtung, und durch die Baumkronen hindurch sah er das Türmchen des Krankenhauses, das in der Ferne dastand wie ein Riese, der auf etwas Essbares wartete. Ren holte tief Luft, deckte die Hutmänner wieder zu, löste die Bremse und trieb das Pferd an. Pater John hatte ihnen stets erklärt, dass sie den Tag des Jüngsten Gerichts alle noch miterleben würden. Doch wie es aussah, verfolgte sie niemand, und auch das Jüngste Gericht stand nicht unmittelbar bevor.
Schwester Agnes stand am Tor, als hätte sie sie erwartet. Sie klopfte eine Bettpfanne nach der anderen an der Mauer des Gebäudes aus und schob mit dem Fuß Erde über den Unrat. Sie sah müde aus, als arbeitete sie ohne Unterbrechung.
Als der Wagen vorführ, stellte Ren fest, dass Schwester Agnes zwischen ihnen und dem Kellereingang stand. Er zauderte kurz, dann beschloss er, sich so zu verhalten, wie Benjamin es getan hätte. Er lächelte und winkte ihr zu. Dann übergab er Dolly die Zügel und zog die Bremse an. »Unsere Hauswirtin ist krank.«
Schwester Agnes stellte die Bettpfanne, die sie gerade leeren wollte, ab und öffnete das Tor. »Wenn es ansteckend ist, müsst ihr wieder weg.« Sie trocknete sich die Hände an ihrer grauen Schürze ab, ging zur Rückseite des Wagens, und noch ehe Ren sie daran hindern konnte, schlug sie die Decken zurück.
Ren rechnete damit, dass sie schreien würde. Oder in Tränen ausbrechen. Doch nach einem flüchtigen Blick auf die toten Männer widmete sich Schwester Agnes einfach dem Körper in der Mitte und befühlte Mrs. Sands’ Stirn.
»Sie hat Fieber«, sagte Schwester Agnes. Sie schob Mrs. Sands’ Augenlider hoch. »Erweiterte Pupillen.« Sie tastete den Hals ab. »Geschwollen.« Sie schob Mrs. Sands’ Lippen auseinander und schaute ihr in den Mund. »Entzündet.« Während der ganzen Zeit versuchte Mrs. Sands, sie mit der Hand wegzustoßen, aber Schwester Agnes wich ihr geschickt aus. Sie hielt sie an beiden Handgelenken fest und legte ihr einen Moment lang das Ohr auf die Brust.
»Wird sie wieder gesund?«
»Still!«
»Mörder!«, schrie Mrs. Sands.
Ren spürte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Aber die Ordensschwester achtete gar nicht auf Mrs. Sands. Sie horchte noch eine Minute, richtete sich dann auf und zog die Decke wieder zurecht. »Sie hat Influenza.«
»Ist das schlimm?«
»Möglicherweise schon. Das kommt vom feuchten Wetter. Und es ist ansteckend. Sie wird die Krankheit auf die anderen Patienten auf der Station übertragen. Wir können sie nicht aufnehmen.« Mit geübtem Griff stopfte sie die Decke unter Mrs. Sands’ Körper. »Es sei denn, ihr habt ausreichend Mittel für ein Privatzimmer.«
Ren grub in seinen Taschen und holte das Geld aus dem Bettpfosten hervor. Schwester Agnes nahm ihm die Scheine aus der Hand, und Ren fragte sich beunruhigt, ob es wohl reichen würde. Wortlos zählte die Nonne das Geld ab, dann richtete sie ihre schwarzen Augen auf Dolly, der noch immer auf dem Kutschbock saß. Er hatte die Schultern hochgezogen und blickte starr vor sich hin. Er hatte weder sie noch Ren, noch sonst etwas auf den letzten drei Meilen wahrgenommen.
»Bruder?«
Dolly schaute zu Schwester Agnes hinunter.
»Kommt Ihr aus Saint Anthony?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Ren, »so ist es.«
Dolly machte ein Kreuzzeichen, und Schwester Agnes beobachtete ihn aufmerksam.
»Woher kommen diese Männer?«
Die Frage klang vorwurfsvoll, und Dollys Gesicht verdüsterte sich. Ren merkte genau, dass er sie taxierte, um das Risiko einzuschätzen. Ren sprang in die Bresche.
»Die haben wir auf der Straße gefunden.«
Er sah der Nonne an, dass sie misstrauisch wurde, als sie Dollys Verkleidung genauer betrachtete. Dann presste sie die Lippen aufeinander, als hätten sich ihre Zweifel bestätigt. Sie schob beide Hände in die Ärmel und deutete mit dem Kopf auf den Wagen.
»Die anderen könnt ihr da drüben in die Schütte geben. Der Doktor macht gerade Morgenvisite, aber ich bin sicher, ihr bekommt eine angemessene Vergütung.«
Sie stand daneben, während Dolly und Ren die Leichen in die Decken einwickelten und zur Kellertür hinübertrugen. In der unteren Hälfte befand sich eine Klappe. Ren hob sie am Griff hoch und schaute hinein. Dahinter führte eine lange Blechrutsche nach unten. Nacheinander schob Dolly die beiden Leichen hindurch, und Ren hörte sie in die Dunkelheit hinabgleiten.
Der Morgen träufelte die erste Farbe in den Himmel, als Schwester Agnes sie die Treppe hinauf zur Privatstation führte. Dolly, der Mrs. Sands trug, setzte vorsichtig jeden seiner Schritte. Ren ging hinter den beiden her. Er konnte hören, wie sich die Patienten auf den Allgemeinstationen in ihren Betten umdrehten, hörte ihr Flüstern durch die Gänge hallen.
Im zweiten Stock nahm Schwester Agnes einen Schlüssel vom Schlüsselring an ihrer Taille. Sie schloss einen Durchgang auf, der in einen langen Korridor mit Zimmern auf beiden Seiten führte. Vor jeder zweiten Tür war eine Barmherzige Schwester postiert. Die meisten von ihnen waren mit einer Näharbeit beschäftigt, doch Ren bemerkte, dass ein paar auch vor sich hin dösten. Schwester Agnes stupste sie im Vorübergehen an, und sie sackten noch tiefer auf ihren Stühlen zusammen, ehe sie aufschreckten.
»Jede Schwester ist mit der Pflege von zwei Patienten betraut. Sie steht ihnen Tag und Nacht zur Verfügung und ist dafür verantwortlich, ihnen die Mahlzeiten zu bringen und die Bettwäsche zu waschen. Wenn eure Wirtin irgendetwas braucht, kann sie läuten, und dann kommt Schwester Josephine.« Eine alte sommersprossige Nonne mit bedenklich schief sitzender Tracht lehnte mit offenem Mund an der Wand vor dem leeren Zimmer.
»Eine neue Patientin«, sagte Schwester Agnes.
Die Nonne schlug die Augen auf. Sie war bestimmt fast siebzig, und unter ihrer Haube lugten ein paar graue Haarsträhnen hervor; trotz ihres Alters war sie eine robuste Frau.
»Hol den Bottich und Wasser«, sagte Schwester Agnes. »Man wird sie entlausen müssen.«
Schwester Josephine schlurfte den Gang hinunter und krempelte die Ärmel über ihren ansehnlichen Armen hoch. Dolly legte Mrs. Sands aufs Bett, während Ren sich im Zimmer umsah. Es war ein freundlicher Raum, mit sauber geschrubbtem Boden, einer geblümten Tapete und spitzenbesetzten Gardinen mit Lochstickerei.
»Ich bin keine Laus«, schrie Mrs. Sands.
»Leise!«, sagte Schwester Agnes. »Sonst weckt sie noch die anderen Patienten auf.«
»Sie kann nicht anders«, versuchte Ren zu erklären.
»Junge!«
»Schsch.« Ren ergriff Mrs. Sands’Hand und drückte sie.
»Du musst ihm sein Abendessen richten. Du musst ihm seine Socken bringen.«
Ren versuchte, Mrs. Sands die Hand auf den Mund zu legen, aber sie ergriff seine Finger.
»Leg sie neben die Feuerstelle.«
Und dann begriff er. Es ging um den Zwerg im Schornstein.
Mrs. Sands wusste, dass Ren ihn gesehen hatte. Sie wusste, dass er das Holzpferdchen an sich genommen hatte.
Schwester Agnes zog ein braunes Fläschchen aus ihrem Ärmel. Sie hielt es Mrs. Sands unter die Nase, die sofort zu niesen begann. »Du hast sie ganz durcheinandergebracht.«
Die Tür schwang auf, und Schwester Josephine brachte eine Schüssel mit Wasser herein. »Aus dem Weg!«, sagte sie zu Dolly, der an die Wand zurückwich und sich die Stelle hielt, wo ihn die Nonne mit dem Ellbogen gestoßen hatte.
»Sie muss jetzt schlafen«, sagte Schwester Agnes. »Ihr solltet gehen. Sie ist hier in guten Händen. Gott sei gelobt.«
Ren beugte sich über das Bett. Mrs. Sands’ Blick war verschwommen. Ihre Hände lagen schlaff auf der Decke. Ren konnte in ihren Mund sehen. Ein Backenzahn auf der rechten Seite war mit Gold gefüllt. Schwester Josephine fing an, Mrs. Sands die Nadeln aus dem Haar zu ziehen.
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